Freitag, 12. Januar 2018
Siemkes Story
Sie war in der Nähe von Hannover aufgewachsen, Einzelkind in einem kleinstädtischen Vorort, die Eltern beide berufstätig, immer da für ihr Kind, aber leider mit einem schrecklichen Hang zum Kontrollzwang. Nach dem Abitur war sie endlich ausgebrochen. Zu ihrem großen Glück hatte sie einen Studienplatz im Ruhrgebiet erhalten und auch wenn sie nach wie vor von den Unterhaltszahlungen ihrer Eltern abhängig gewesen war und sie mit monatlichen Wochenendbesuchen hatte bei Laune halten müssen, hatte sie doch endlich ihr eigenes Leben leben können.
Sie machte ihren Abschluss in Germanistik und Theaterwissenschaften, aber niemand hatte Verwendung für die hochqualifizierte, junge Frau. Um einer weiteren Abhängigkeit von ihren Eltern zu entfliehen, stürzte sie sich ins lukrative Liebesleben. Nein, nicht was Sie jetzt denken, selbstverständlich ging sie nicht anschaffen, aber so signifikant war der Unterschied nun auch wieder nicht, wenn auch gesellschaftlich weniger geächtet. Sie suchte sich einen Partner, der sie versorgte. Aber moderne Männer waren auf Dauer zu solchen Versorgungsleistungen nicht mehr bereit und so flatterte sie wie ein Schmetterling von Blüte zu Blüte und wurde ganz nebenbei ausgerechnet von einem wenig leistungsfähigen Ausrutscher bestäubt. Das Ergebnis war Daria und noch lange, bevor ihr Bauch sich rundete, hielt sie Ausschau nach einem geeigneteren Kindsvater. Das Vorhaben gelang: ein zuverlässiger, sanfter Theaterpädagoge mit geregeltem Einkommen und naiv genug, die Geschichte einer kürzeren Schwangerschaft ungeprüft zu akzeptieren.
Damals wähnte Siemke sich in Sicherheit, doch schon während ihrer Trächtigkeit verlor der Auserwählte wie aus heiterem Himmel seinen Arbeitsplatz und bei seiner speziellen Qualifikation war auch nichts Neues in Sicht. Zu all dem Elend gesellte sich außerdem ein Bandscheibenvorfall, der es ihm für unbestimmte Zeit unmöglich machte, mehr als zwei Kilogramm auf einmal zu heben. Siemke musste also sämtliche Einkäufe erledigen und das Kind ganz allein versorgen, während der Lebenspartner nutzlos und klagend ganztägig das gemeinsame Wohnzimmer belagerte. Diesen Zustand ertrug sie exakt, bis Daria acht Wochen alt war, dann teilte sie ihrem Partner die Trennung mit und suchte sich innerhalb von zwei Wochen eine Sozialwohnung. Es waren die Lebensgefährten ihrer Freundinnen, die die Möbel schleppten und die Freundinnen, die die Wände strichen. Vom vermeintlichen Kindsvater klagte sie außerdem Unterhaltszahlungen ein, er bekam ja genug Arbeitslosengeld.
Als Daria drei Monate alt war, nutzte Siemke das Angebot der örtlichen Kirchengemeinde. Sie hatte zwar mit den Christen nichts im Sinn, aber auch keine übermäßigen Vorbehalte und außerdem gab es keine andere Krabbelgruppe vor Ort.
Die Gruppe war klein und übersichtlich. Da war die elegante Annette mit ihrer Tochter Edda-Elisabeth, die sie aber immer nur Lizzi nannte, die raubeinige Gabi mit ihrer Tochter Luna, die unkonventionelle Isen mit ihrem Sohn Finn, die freundliche Nadine, mit ihrer Tochter Lorraine, und die fröhliche Tanja mit ihrem Sohn Jan-Ole. Sie fühlte sich wohl in der Gruppe und freute sich, dass es auch zu nachmittäglichen Treffen bei der einen oder anderen zu Hause kam. Hier fand sie die Solidarität, die sie als alleinerziehende Mutter brauchte, Lösungsvorschläge für ihre Probleme, aber auch Unterstützung im Alltag. Das hätte gut noch bis zur Kindergartenzeit so weitergehen können, aber dann hatte die elegante Annette immer so ganz nebenbei im lustig-leichten Tonfall Siemke korrigiert, gehänselt, zurechtgewiesen und beleidigt. Sie thronte auf einem hohen Sockel, sie selbst gelernte Industriekauffrau und bis zur Schwangerschaft in Vollzeit beschäftigt im gut laufenden Unternehmen ihres Ehemannes, zeigte immer und überall mit überlegenem Lächeln und dem Gebaren einer Tochter aus gutem Hause, wie man sein Kind zu einem perfekten Menschen erzieht: An die Haut ihrer Tochter ließ sie nur Naturtextilien in Bioqualität, wenn sie den Gemüsebrei nicht selbst kochte, kaufte sie auch nur garantiert Zuckerfreie Babynahrung aus dem Bioladen und da sie schon jetzt eine Waldorf-Karriere für ihr Kind plante, wurde das Mädchen auch konsequent von den schädlichen Einflüssen eines einlullenden Bildschirms ferngehalten und – wie Siemke ihr unterstellte – nicht um das Kind zu schützen, sondern um bei der Bewerbung um den Waldorf-Kindergartenplatz bestehen zu können und so die eitlen und ehrgeizigen Bestrebungen der geltungssüchtigen Mutter zu befriedigen.
Aber Annette reichte es nicht, allen zu zeigen, dass sie die Supermutter einer perfekten Tochter war. Um sich noch mehr Glanz zu verleihen, musste sie zusätzlich andere abwerten. Nicht alle natürlich, sie brauchte ja jene, die sie weiterhin uneingeschränkt bewunderten, also musste sie ein Opfer auswählen für ihre Demütigungen, bei dem sie ein leichtes Spiel hatte, dass alle Anderen mit ihr in ein Horn stießen. Siemke war die einzige Alleinstehende in der Gruppe, bei allen anderen Kindern lebte auch der Vater in der gleichen Wohnung oder war zumindest präsent und übernahm Verantwortung. Und weil sie häufig um Rücksicht oder Unterstützung bitten musste, wurde sie den anderen, privilegierten Müttern bald lästig und niemand nahm sie vor Annettes Angriffen in Schutz, außer vielleicht Nadine, die zeigte sich anfangs noch solidarisch, zog sich aber irgendwann auch in ihr privilegiertes Kleinfamilienleben zurück und erfüllte außerdem nicht Siemkes intellektuellen Ansprüche. Sie suchte sich eine neue Krabbelgruppe, da musste sie zwar mit der Straßenbahn fahren, aber hier fanden sich wenigstens eine Menge Frauen in einer ähnlichen Lebenslage wie sie selbst.
Daria hatte mit drei Jahren einen KiTa-Platz bekommen und Siemke hatte endlich einen Job gefunden, mit dem sie sich und ihre Tochter über Wasser halten konnte, der Plan, einen Mann als Versorger aufzutun, schlug weiterhin fehl. Daria kam problemlos durch die Grundschule, erhielt eine Gymnasialempfehlung und wechselte auf die nahegelegene Gesamtschule, wo sie ebenfalls sehr gut zurechtkam. Eigentlich war sie ziemlich zufrieden, aber dann bekam ihr zerbrechliches Glück einen kleinen Riss, als sie an einem schönen Aprilvormittag einen cremefarbenen Büttenumschlag aus dem Briefkasten zog. Nadine lud zur Nachfeier der Konfirmationen ein. Genaugenommen zu Lorraines Nachfeier. Daria war nicht zum kirchlichen Unterricht gegangen und Isens Sohn sicher auch nicht. Jetzt sollten also mal wieder die Ergebnisse verglichen werden – welcher Sprössling hat sich am besten entwickelt? Sie war so stolz auf Daria, aber sie ahnte schon, wie die elegante Annette ganz nebenbei fallen ließ, dass ihre Lizzi, sich nach zwei übersprungenen Klassen auf ein Auslandsjahr in den USA freute und nebenbei im Schulorchester ganz außerordentlich schön Klarinette spielte, oder Violine, auf jeden Fall die erste Geige. Sie würde wieder alles kaputt machen und hinterher würde Siemke sich ein halbes Jahr lang schlecht fühlen. Sie machte ja schon jetzt alles kaputt, weil Siemke sich präventiv das Ausschlagen der Einladung verordnete. Und dann kam alles ganz anders.
Sie hatte Daria zum Reiten gebracht und unternahm in der Zwischenzeit einen Spaziergang um den Obersee. Als sie so in der Sonne umher spazierte und sich vergegenwärtigte, wie gut sie es doch geschafft hatte, ihre Tochter ganz allein zu einem prachtvollen Teenager zu erziehen, war sie mächtig stolz auf sich und fragte sich, ob es nicht doch gut sei, alle wieder zu treffen. Wer wusste schon, ob sie noch alle in den gleichen heilen Familien steckten wie vor zwölf Jahren? Sie malte sich aus, wie ein Haufen malträtierter, unvorteilhaft gealterter, alleinerziehender Mütter sich über die Fehlentwicklungen ihrer einst so vielversprechenden Sprösslinge beklagten und sie selbst mittendrin, blütenfrisch, hochzufrieden und voller Stolz auf ihr wohlgeratenes Töchterchen. Sie würde da hingehen und es ihnen allen zeigen. Auf einmal kam ihr ein bekanntes Gesicht entgegen. Die Frau trug Sportkleidung und Walking-Stöcke. Sie erkannte sie sofort, sie hatte sich kaum verändert, nur ein paar Falten um Augen und Mund, der Gang begann ein klein wenig wacklig zu werden, denn Annette war eine Spätgebärende gewesen und sie trug die Haare jetzt durchgestuft und offenkundig blondiert, um das sich ausbreitende Grau zu kaschieren und mehr Volumen in die schon immer nicht so beeindruckende Haarpracht zu bringen – da waren Siemke und Daria gegenüber Annette und Lizzi schon immer die Gesegneteren gewesen. Natürlich gab Annette vor, Siemke nicht zu erkennen. Vielleicht hatte sie keine Lust, sich mit ihr zu unterhalten, aber vermutlich war das wieder nur eine ihrer zahlreichen Demütigungsversuche, doch Siemke ging in die Offensive, fest entschlossen, den Spieß umzudrehen.
„Ach, Hallo Annette, wir haben uns ja seit einer Ewigkeit nicht gesehen.“
„Entschuldigung, du musst mir auf die Sprünge helfen. Woher kennen wir uns?“
„Ich bin's, Siemke, die Mutter von Daria, aus der Krabbelgruppe. Ich hoffe, bei Dir geht’s noch nicht im Kopf los.“
„Wohl kaum.“, antwortete Annette kühl. „Weißt Du, in meinem Job begegne ich täglich so vielen neuen Gesichtern, da geht einem die eine oder andere flüchtige Bekanntschaft aus der Vergangenheit schon mal durch die Lappen. Und wie geht es euch?“
Siemke hatte es für einen Moment die Sprache verschlagen. Annette hatte es schon wieder geschafft, ihr den härteren Schlag zu versetzen. So schnell konnte sie nicht wechseln. Darum antwortete sie nur: „Ganz gut soweit. Hast Du auch die Einladung zur Konfirmationsfeier von Lorraine bekommen?“
„Oh ja. Ich werde da aber kaum erscheinen. Ich habe keine Ahnung, was Nadine sich dabei gedacht hat, unsere Kinder sind doch jetzt alle in dem Alter, warum sollen wir uns ausgerechnet zu Lorraines Konfirmation versammeln?“
„Na ja, es ist doch eine nette Idee, dass sich alle mal wieder treffen. Und wenn man eingeladen ist, hat man ja schließlich keine Arbeit mit der Bewirtung. Außerdem sind ja nicht alle konfirmiert worden. Daria jedenfalls nicht und Finn doch bestimmt auch nicht.“
„Nein, natürlich nicht.“, erwiderte Annette. „Isen hält ja nichts von der Kirche.“
„Ich auch nicht:“
„Ach ja?“
„Ich gehe jedenfalls hin.“, sagte Siemke. „Du kannst Dich ja hinterher mit Isen treffen und Dir berichten lassen.“
„Ich glaube kaum, dass Isen einer Einladung von Nadine nachkommt.“
„Dann eben nicht.“
„Ich kann es mir ja noch mal überlegen.“, räumte Annette ein. „Wahrscheinlich hast du Recht und es ist einfach eine nette Idee. Also dann vielleicht bis morgen.“
Als Annette weiterging, spürte Siemke plötzlich einen schweren Kloß im Hals. Sie hatte sich so auf das Treffen gefreut und jetzt würde die versnobte Edelmami wieder alles in Grund und Boden rammen mit ihren mageren, manikürten Klavierspielerinnen-Fingern, die immer wie Spinnenbeine den Kaffeebecher umschlossen hatten, als handele es sich um den Hals einer Rivalin. Diesmal nicht, dachte Siemke. Annette bog gerade um die Kurve ins unüberschaubare Dickicht der Uferbepflanzung. Vom letzten Winter lag noch ein Paar verlorener, vergessener oder entsorgter, rostiger Schlittschuhe unter einem Busch. Sie griff sich einen davon und hastete auf leisen Sohlen hinter Annette her. Mit einer Präzision, als wenn sie es ihr Leben lang trainiert hätte, traf sie Annette mit der Kufe am Schädel, so dass diese sofort zu Boden ging. Sie hätte es dabei belassen können, aber es gab keine Zeugen und sie war so voller uraltem Zorn. Immer und immer wieder drosch sie mit dem rostigen Schlittschuh auf die am Boden Liegende ein, bis sie sich nicht mehr rührte. Erst danach blickte sie sich geistesgegenwärtig um. Niemand war in der Nähe. Sie rubbelte die Fingerabdrücke mit einem Papiertaschentuch ab und schleuderte den Schlittschuh in den See. Dann atmete sie tief durch. Gleich würde sie Daria vom Reiten abholen und morgen hatte sie eine Einladung zum Kaffeetrinken, auf die sie sich jetzt ohne Abstriche freute.

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Freitag, 5. Januar 2018
Resteessen
„Ist das nicht irre?“, fragte Nadine fröhlich und schenkte noch eine Runde Kaffee ein. „Jetzt feiert man schon zwei Tage Konfirmation und wir verrückten Hühner hängen noch einen dritten Tag dran.“
„Also wir feiern ja nun nicht Konfirmation.“, bemerkte Siemke schnippisch.
„Dazu besteht ja kein Zwang.“, erklärte Isen, „Aber ist doch trotzdem schön, alle mal wieder zu sehen und irgendwie fehlt ja auch so ein Initiationsritus, wenn man wie wir auf Kirche verzichtet. So 'ne lächerliche Jugendweihe wie damals in Dunkeldeutschland will ich bestimmt nicht und Finn kann da sicher auch drauf verzichten.“
„Na mindestens die Hälfte, ist dem Schoß der Kirche bis jetzt nicht entkrochen.“, stellte Gabi grinsend fest. „Und ich wette, Luna leitet in zwei Jahren die Mädchen-Jungschar, Jan-Ole wird Freizeit-Mitarbeiter und Lorraine leitet den Theater-Workshop von TEN SING. Was ist eigentlich mit Annette und Lizzi? Wohnen die immer noch in der Öko-Siedlung?“
„Nee.“, antwortete Isen. „Annette hat sich von Rolf getrennt und ist mit Lizzi nach Schilske gezogen, da ist die Waldorfschule gleich um die Ecke.“
„Und warum ist sie heute nicht da?“, fragte Tanja neugierig.
Isen zuckte mit den Schultern. „Ich habe ihr eine Nachricht auf dem AB hinterlassen, aber nichts von ihr gehört. Das mit dem Umzug weiß ich auch nur, weil ich die beiden vor eineinhalb Jahren zufällig auf dem Wochenmarkt getroffen habe.“
„Hat schon was von Ironie des Schicksals, findet ihr nicht?“, fragte Nadine. „ich meine, eigentlich hat Annette doch damals eine nach der anderen aus der Krabbelgruppe geekelt und jetzt ist sie die Einzige die fehlt.“
„Ja, so kann's kommen.“, entgegnete Siemke schadenfroh. „Ich war ja die Erste, der sie einen Fußtritt verpasst hat.“
„Wieso einen Fußtritt?“, fragte Isen irritiert.
„Hast Du nicht gesehen, wie sie immer mit den Augen gerollt hat, wenn ich aus Rücksicht auf Darias Schlafgewohnheiten bei unseren privaten Nachmittagstreffen später gekommen bin? Und ständig machte sie spitze Bemerkungen, dass man den Biorhythmus seines Kindes auch steuern könne. Und wenn ich Schwierigkeiten hatte, weil ich eben keinen Mann an meiner Seite hatte, der mir den Rücken freihielt, dann meinte sie, mir erklären zu müssen, das sei alles nur eine Frage der Organisation. Sie hat mich so lange gemobbt, bis ich die Nase voll hatte und wie ich dann später erfahren habe, hat sie sich direkt das nächste Opfer gesucht.“
Gabi biss sich auf die Zunge, denn obwohl Siemke Recht hatte mit ihren Vorwürfen, so konnte sie doch nicht umhin, für Annettes Fehltritte Verständnis aufzubringen. Sie war damals insgeheim froh gewesen, dass die nervtötende Alleinerziehende, die permanent Ansprüche auf Rücksicht und Unterstützung anmeldete, sich eine andere Krabbelgruppe gesucht hatte. Bei den privaten Treffen zu Hause – normalerweise trafen sie sich vormittags im Gemeindehaus – war sie immer zwei Stunden später als verabredet aufgetaucht und schließlich zwei Stunden später als alle anderen gegangen, so dass die Gastgeberin zu einer Dauersitzung verdammt war. Angeblich hatte Siemke Rücksicht auf die Schlafbedürfnisse ihrer Tochter Daria genommen, in Wahrheit aber unterstellte Gabi ihr, nur die eigenen Bedürfnisse im Blick zu haben. So lange ihr Kind schlief, konnte sie sich Zeit für sich selbst nehmen und dann zog sie eben erst los, wenn Daria von allein aufwachte. Die Schlafbedürfnisse der anderen Kinder und die Bedürfnisse der Gastgeberin, interessierten sie dabei kein bisschen.
„Also mich hat Annette aber nicht rausgeekelt.“, meinte Tanja mit fröhlichen, runden Augen. „Wir hatten einfach keine Zeit mehr für die Krabbelgruppe, als Nele unterwegs war und wir den Dachboden ausgebaut haben. Aber ich bin gespannt, was ich gleich noch für Geschichten höre.“
Gabi biss sich zum zweiten Mal auf die Zunge. Natürlich hatte Annette auch Tanja gedisst. Tanja hatte das vielleicht oberflächlich nicht an sich herangelassen. Sie war eine echte Frohnatur, erzählte dauernd unglaubliche Geschichten, die sie entweder selbst erlebt oder irgendwo aufgeschnappt hatte, aber sie war der anspruchsvollen Annette auch nicht genehm gewesen, zu unkultiviert, zu wenig Bildungsbürgerin. Gabis Mann Tom, der das zweite und dritte Jahr des Erziehungsurlaubs übernommen hatte, als Gabi wieder arbeiten ging, hatte lebhaft von Annettes Spitzen berichtet mit einer Mischung aus amüsierter Bewunderung und leichtem Ekel. Annettes Tochter Lizzi hatte schon als Kleinkind die zickigen Züge ihrer Mutter übernommen und Gabi war heilfroh, dass ihre Tochter Luna sich mit diesem kleinen Biest nicht mehr auseinandersetzen musste. Als nur noch Lizzi, Luna und Finn samt Müttern oder Vätern zu regelmäßigen Treffen zusammenkamen, hatte Annette schon scherzhaft mit Isen verabredet, dass ihre beiden Kinder einander versprochen seien. Auch wenn es haltloser Unsinn war, war es ein Signal gewesen. Isen war als angehende Psychologin die interessantere Mutter, denn Gabi arbeitete bei der Stadtverwaltung. Annette selbst war Industriekauffrau, aber sie plante Großes für ihr einziges Kind Edda-Elisabeth.
Doch nun richteten sich alle Augenpaare auf Nadine, die Gastgeberin, die als Dritte die Runde verlassen hatte.
„Na ja“, sagte sie, „besonders nett war Annette zu mir, wie gesagt, auch nicht, aber bei uns war es auch das zweite Kind und der Umzug, das wurde mir alles zu viel. Also Annette war nicht der einzige Grund, aber sie hat schon oft ziemlich fiese Bemerkungen vom Stapel gelassen.“
„Zum Beispiel?“, fragte Tanja wissbegierig und sensationslüstern.
„Ach wir haben uns mal über die Herkunft der Namen unserer Kinder unterhalten. Und da meinte Annette, dass sie ihr Kind ja ungern wie eine Pastete nennen würde und sie fragte mich, ob ich denn noch nie etwas von Quiche Lorraine gehört hätte. Und dann meinte sie, so wie ich den Namen meiner Tochter ausspräche, müsste man den eigentlich mit einem r, zwei e in der Mitte und ohne e am Ende schreiben. Sie wusste immer alles besser und wenn wir uns unterhalten haben, hat sie nach jedem zweiten Satz den ich gesagt habe, so arrogant zu Isen rüber gegrinst, das war schon unangenehm.“
„Aber Du meinst, es lag nicht an Annette?“, fragte Siemke angriffslustig.
„Ich hatte einfach keine Zeit.“, erklärte Nadine entschieden. „Und jetzt lasst uns nicht über Abwesende lästern, ist doch schön dass sie uns Fünf nicht auseinander gebracht hat.“
„Das hätte sie aber.“, entgegnete Siemke mit frostigem Blick.
Isen erklärte, sie müsse einmal vor die Tür, eine rauchen.
„Ich komme mit.“, erklärte Tanja. Vor der Haustür zündeten beide sich eine Zigarette an. „Ich rufe noch mal bei Annette an.“, meinte Isen.
„Wieso?“, fragte Tanja.
„Bei Siemkes letztem Spruch lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Ich will nur wissen, dass es ihr gut geht.“
Lizzi war am Telefon. Sie war vollkommen aufgelöst. Man hatte Annette mit eingeschlagenem Schädel am Obersee gefunden. Es gab noch keinen Hinweis auf den Täter oder die Täterin. Aber Isen wusste, was zu tun war. Als Tanja fragte: „Und? Ist sie okay?“, antwortete Isen: „Ja, sie hat nur schreckliche Kopfschmerzen, wohl schon seit Tagen. - Du, Tanja, ich muss noch einmal kurz allein telefonieren, was Privates.“
„Schon gut.“, sagte Tanja. „Ich habe mir sowieso abgewöhnt, die Zigaretten ganz aufzurauchen. Ich gehe wieder ins Haus.“
Isen wählte die 110. Sie würde der Polizei den entscheidenden Hinweis geben.
Tanja ging wieder ins Haus. „Annette hat nur Kopfschmerzen.“, flötete sie.
Siemke erbleichte. Als Gabi ihre flatternden Hände beobachtete, ahnte sie, dass etwas Unvorstellbares vorgefallen war.

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Samstag, 30. Dezember 2017
Tölpel, die in Flüsse fallen - abgeschlossener Kurzkrimi
Das Jahr ging zu Ende und meine Bilanz war erschreckend. Die 500,-€ vom letzten Auftrag waren längst verbraucht und seitdem hatte niemand mehr im Vorbeigehen das Schild „Peter Margo - private Ermittlungen“ gelesen und zum Anlass genommen, mich zu einem Erstgespräch aufzusuchen. Ich dachte gerade daran, Manufactum Konkurrenz zu machen und meine spartanische Einrichtung aus einem schweren Eichenschreibtisch, einem schwarzen Bakelit-Telefon und dem gigantischen Deckenventilator bei e-bay zu versteigern und ein letztes Mal so viel vom besten Whisky der Stadt zu trinken, dass ich beim Hinübergleiten in die unendliche Dunkelheit nichts mehr spüren würde; keinen Schmerz, keine Angst keine Trauer, ja nicht einmal Bedauern.
Doch da unterbrach ein dezentes Klopfen meine düsteren Gedanken und Leben regte sich wieder in mir, vielleicht tauchte der Engel aus der Adventszeit noch einmal auf und beauftragte mich nun, die drei goldenen Haare des Teufels zu stehlen. Doch was da mein Büro betrat, passte in seiner Unscheinbarkeit und Mittelmäßigkeit genau in meine gegenwärtige Lebenslage. Es handelte sich um ein androgynes Wesen mit vollem, durchgestuftem, glanzlosem Haar. Die Person wirkte geradezu alterslos und musste irgendwann zwischen 1960 und 1990 zur Welt gekommen sein. Der Körper war weder kraftlos noch athletisch, die Größe etwa 1,70 Meter, die Augen grau, die Haut klar, aber grobporig und selbst, als es begann zu sprechen, vermochte ich nicht zu sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte.
„Bitte finden Sie für mich heraus, wie es zu diesen beiden Geschichten kommen konnte und wie sie zusammenhängen.“
Es legte eine Klatschspalten-Seite einer provinziellen Tageszeitung auf den Schreibtisch. Das Druckerzeugnis stammte vom 21. Dezember und zwei Artikel waren rot eingekreist. Der erste lautete:

MANN STIRBT BEINAHE BEI MORDVERSUCH
Berlin (dpa). Ein 19-Jähriger, der versucht haben soll, eine 17-Jährige in der Berliner Havel zu ertränken, muss sich voraussichtlich wegen versuchten Mordes verantworten. Das teilte die Polizei mit. Der Mann wäre dabei fast selbst ertrunken, weil er Nichtschwimmer ist. Die Frau konnte sich selbst befreien und ans Ufer retten. Sie erlitt eine Unterkühlung. Es handele sich um eine Beziehungstat: Die beiden seien früher ein Paar gewesen, hieß es.

Im zweiten Artikel war Folgendes zu lesen:

BLÖDELEI ENDET IM BACHBETT
Sölden (dpa). Ein Pärchen aus Westfalen ist wegen einer Blödelei im Winterurlaub in Sölden im Krankenhaus gelandet. Ein 30-Jähriger hatte seine 27 Jahre alte Freundin aus Spaß über das Geländer einer Brücke gehalten und dabei das Gleichgewicht verloren. Die Touristen stürzten vier Meter tief. Die Frau wurde schnell geborgen, der Mann erlitt schwerste Verletzungen, er wurde von der Feuerwehr aus dem Wasser geholt.

Ich sah es verständnislos an und fragte: „Welche Anhaltspunkte gibt es und wer sind Sie überhaupt?“
„Anhaltspunkte?“, fragte es. „Sie sind privater Ermittler. Ich muss Ihnen doch wohl nicht Ihren Job erklären. Und was Ihre zweite Frage betrifft, ich bin der Totgeglaubte, den sie nirgends finden konnten.“
„Welcher Totgeglaubte?“
„Gott.“
Ein Irrer. Sollte ich direkt den Psychiatrischen Krisendienst anrufen oder einfach mitspielen? Schließlich schien er weder sich selbst noch andere zu gefährden. Ich entschied mich für letzteres.
„Wie wollen Sie mich denn bezahlen, Gott?“
„Bar und im Voraus.“ Er legte ein dickes Bündel Scheine auf meinen Schreibtisch. Ich zählte nach, genau 10000 Mäuse.
„Ich denke“, erklärte Gott, „damit sollten Entgelt und Spesen für die kommenden zwei Monate abgedeckt sein.“
Ich grunzte zustimmend und konnte mir die Frage dann aber doch nicht verkneifen:
„Wenn Sie Gott sind, dann müssen Sie doch wissen, was hinter diesen Geschichten steckt. Sie kennen doch jeden Menschen und wissen sogar im Voraus schon alles über ihn.“
„Wer hat Ihnen denn den Blödsinn erzählt?“
„Äh, der Pfarrer, Religionslehrer, meine Eltern, was weiß ich.“
„Ja, Menschen verlieren sich in ihren naiven Wünschen und Vorstellungen und steigern sich so lange hinein, bis sie es mit der Wirklichkeit verwechseln.“
„Aber wenn Sie nicht allwissend sind, was berechtigt Sie dann, sich Gott zu nennen?“
„Ich selbst berechtige mich.“
„Und warum?“
„Weil ich es will.“
„Und warum erscheinen Sie mir nicht als alter Mann mit Bart oder als starker Superheld?“
„Ich könnte Ihnen auch als bildschöne Frau erscheinen.“, erwiderte Gott lächelnd.
„Und warum tun Sie das nicht?“
„Jeder bekommt den Gott, den er verdient. Und jetzt gehen Sie an die Arbeit. Sonst stürze ich Sie ins Verderben.“
Er verließ mein Büro so leise und behutsam, wie er gekommen war.
Ich seufzte tief, rief bei der Redaktion der vorliegenden Tageszeitung an und bekam nach etlichen Telefonaten auch mit der Deutschen Presse-Agentur endlich die Namen des verunfallten Paares, das im österreichischen Sölden ins Flussbett gestürzt war. Mit dem Missgeschick wollte ich beginnen, den Mordversuch erst am Ende beleuchten, immer vom Einfachen zum Schwierigen und nicht umgekehrt.
Ich bin kein Mann der großen Worte und möchte Sie mit epischen Berichten meiner nun folgenden Recherchereisen sowie den jeweiligen wechselnden Befindlichkeiten verschonen, aber Ihnen die Ergebnisse meiner Recherche nicht vorenthalten. Ich landete zunächst bei Inga L. in Bielefeld, die sich noch immer um ihren schwer verletzten Freund sorgte, der in einem österreichischen Krankenhaus seiner baldigen Transportfähigkeit entgegenfieberte. Wie war es zu ihrem Missgeschick gekommen? Sie erklärte mir Folgendes: „Magnus und ich standen auf der Brücke und überall diese atemberaubende Landschaft, es war so romantisch, aber dann fiel uns auf, dass diese Romantik ja fast schon ins Kitschige abglitt und dass wir uns fühlten wie die Darsteller eines billigen Remakes eines romantischen Filmklassikers. Uns fielen Bekannte aus unserer Schulzeit ein. Beim Klassentreffen kurz nach dem Abi lösten sie allgemeines Fremdschämen aus – sie hatten in der Tanzschule einen Street-Dance-Kurs belegt und sich an den Hebefiguren aus Step Up versucht. Magnus hob mich hoch, nannte mich Saskia und schrie, dass ich ja so leicht wie eine Feder wäre. Dabei ist Saskia ziemlich moppelig, aber ihr Stefan ist auch ein echter Kleiderschrank, darum hat er es geschafft, sie in die Luft zu stemmen. Tja, Magnus hat es bei mir dann aber leider übertrieben und das Gleichgewicht verloren. Den Rest wissen Sie ja.“
Als nächstes suchte ich Saskia und Stefan K. In Porta Westfalica auf. Das Einfamilienhaus aus weißem Klinker, umgeben von Puschenrasen, Kies und Hainbuchenhecken passte zu dem von Inga L. beschriebenen Ehepaar. Als die Frau mir jedoch die Tür öffnete und mich ins Wohnzimmer bat, entdeckte ich überall seltsame Accessoires der Esoterik-Szene. Als ich sie fragte, ob sie vom Missgeschick ihrer Bekannten aus Bielefeld gehört habe, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht und sie gestand mir mit leuchtenden Augen, dass sie sich auf schwarze Magie verstehe. Sie selbst habe die beiden aus der Ferne zu Fall gebracht, denn sie hätten sie während einer furchtbaren Ferienfreizeit ständig wegen ihrer ausgeprägten Rundungen gehänselt und danach auch wegen ihrer posttraumatischen Belastungsstörungen, die die damals 10-Jährige aufgrund eines erschütternden Ereignisses während der Freizeit erlitten hatte. Bei einem Zeltlager im niedersächsischen Wallenhorst bei Osnabrück, war sie wegen Inga K.s und Magnus F.s Hänseleien vom Platz gelaufen und hatte erleben müssen, wie direkt vor ihren Augen ein junges Paar im Mittellandkanal ertrank. Sie hatte auf der nahegelegenen Brücke einen Schatten hinweg huschen sehen und sie war sicher, dass das der Teufel gewesen war.
Ich verließ die Wahnsinnige, recherchierte aber in den Pressearchiven und tatsächlich fand ich heraus, dass der psychisch kranke Detlev R., das Paar damals von der Brücke gestürzt hatte, das sich auf dem Geländer akrobatisch ineinander verschlungen hatte. Detlev R. lebte mittlerweile in Hannover in einer feuchten Souterrain-Wohnung nahe der Leine. Als er mir die Tür öffnete, ließ er mich arglos eintreten und schon bald ahnte ich warum. Er bereitete sich gerade darauf vor, in die Fußstapfen des berühmten Massenmörders Hamann zu treten und offenbar sollte ich sein erstes menschliches Opfer abgeben. Es gelang mir, ihm das Schlachtermesser zu entwinden und darüber hinaus ein Geständnis. Bereits seit geraumer Zeit produzierte er falsche Braunschweiger Würste aus dem Fleisch von Kaninchen und Ratten. Seine Abnehmer saßen – wie sollte es anders sein – direkt in Braunschweig. Es handelte sich um ein Metzger-Ehepaar, die ihn mit der passenden Gewürzmischung, Därmen, Klammern und Werkzeug für die Wurstherstellung versorgten und ihm seine Produkte zu Schleuderpreisen abkauften. Ich versprach ihm, ihn nicht bei der Polizei anzuzeigen. Ich hielt mein Versprechen und informierte den sozialpsychiatrischen Dienst der Stadt Hannover. Wie ich später hörte, mussten die Mitarbeitenden den Flüchtenden verfolgen, bis er schließlich stolperte und in die Leine fiel. Er konnte gerettet werden und wurde in eine geschlossene Einrichtung der forensischen Psychiatrie verbracht.
Ich fuhr weiter nach Braunschweig. Dort konnte ich nur noch die Scherben zusammenkehren. Das Metzger-Ehepaar war von Detlev R. Bereits gewarnt worden und hatte sich mitsamt seinem erheblichen Vermögen nach Übersee abgesetzt. Den Laden hatten sie einem zugedröhnten Punk-Pärchen übergeben, einfach damit jemand da war und nicht auffiel, dass sie sich aus dem Staub gemacht hatten. Einigen Braunschweiger Fascho-Glatzen, war aber sofort aufgefallen, dass anstelle des blitzsauberen Metzgerpaares nun ein paar schmuddelige Zecken planlos hinter der Theke herumlungerten. Sie verdächtigten sie, das Metzgerehepaar ermordet zu haben und trieben sie in einem Akt von Selbstjustiz wie die Hamelner Ratten in die nahegelegene Oker, wo sie fast ertranken. Zum Glück hatte die Frau kurz vorher eine SMS verschickt und auch eine Antwort darauf erhalten. Die Spur führte mich nach Berlin – in ein besetztes Haus im westlichen Stadtteil Wannsee, ein äußerst ungewöhnlicher Ort für Hausbesetzer, aber sie hatten es wirklich nett in der verwunschenen, etwas heruntergekommenen Jugendstilvilla im Grünen und die unkonventionellen Bewohner luden mich zu Kaffee und Keksen ein. Ich hätte es wissen müssen, die Kekse hatten es in sich und darum bin ich nicht sicher, ob ich alles, was mir die jungen Leute nun erzählten, richtig in Erinnerung habe. Ein seltsamer Freak namens Marlon F., der mit seinen vermögenden Erziehungsberechtigten im Haus schräg gegenüber lebte und tagein, tagaus nur in seinem Zimmer saß und abwechselnd seinem PC oder seinem Smartphone Gesellschaft leistete, war an einem lauen Sommerabend vor die Tür getreten und Josie H. begegnet. Josie war eine 16-jährige Trebegängerin gewesen und hatte in dem besetzten Haus untertauchen können. Das lag mittlerweile ein Jahr zurück – in der Zwischenzeit hatte Josie versucht, Marlon aus seiner Konsum- und Computer-Hölle zu erlösen, hatte ihm die Schönheiten der Natur gezeigt, inklusive jene, die sie permanent mit sich herumtrug, der Junge hatte ein wenige Farbe bekommen und gelernt, in ganzen Sätzen zu sprechen. Aber Josie war flatterhaft wie ein Schmetterling und intelligent wie eine Nobelpreisträgerin gewesen und des unansehnlichen, geistig unflexiblen Hikikomori-Kandidaten bald überdrüssig geworden. Als der kurz vor Weihnachten feststellte, dass es für ihn nicht einen einzigen Grund gab, sich auf das Fest zu freuen, weil ihm nichts mehr einfiel, das er sich hätte wünschen können, außer seine Beziehung mit Josie H. wieder aufzunehmen, entschloss er sich, das Haus erneut zu verlassen. Doch als er ihr, nachdem er sie zu einem Spaziergang an der Havel überredet hatte, seinen Vorschlag unterbreitete, hatte die Angebetete nur entnervt mit den Augen gerollt. In blinder Wut hatte er sie in die Havel gestoßen und unter Wasser gedrückt. Dabei geriet er in die Strömung und weil er nicht schwimmen konnte, wäre er beinahe ertrunken, hätte nicht Josie K. sich schnell ans Ufer gerettet und einen Passanten gebeten, einen Notruf abzusetzen.
Ich habe Marlon F. Im Krankenhaus besucht. Er hadert mit seinem Schicksal. An allem, sagte er, sei nur sein Halbbruder Magnus schuld. Magnus durfte damals bei der Mutter bleiben und lebt übrigens in Bielefeld. Magnus hat eine Freundin und ein Talent, sich beim Fallen in Flüsse lebensgefährlich zu verletzen. Marlon hat gegoogelt. Die Lutter mit ihrem Knöchel- bis Kniehohen Bachbett liegt nicht weit von seinem Haus entfernt.

Als ich pünktlich zum Jahreswechsel Gott von meinem Recherchen in Kenntnis setzte, lauschte er schmunzelnd meinem Bericht. „Ist das nicht irre?“, fragte er. „Wie das Eine mit dem Anderen zusammenhängt? Wie eine unendliche Kette aus Millionen bunter Perlen. Das hast Du wirklich gut gemacht. Gehen wir eine Scotch trinken. Ich lad' dich ein.“

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Freitag, 22. Dezember 2017
Posttrauma
Noch drei Wochen bis Weihnachten, dachte Uschi, dann haben wir hier endlich wieder einmal so etwas wie normalen Alltag. Die Massen von Paketen waren kaum noch zu bewältigen, da war fast kein Platz mehr, wenn in der Filiale ein Feuer ausbräche, wären sie rettungslos verloren. Es war gerade mal 8.25 Uhr und schon staute sich eine entsetzlich lange Schlange vor dem Schalter, obwohl sie zu dritt waren. Das wäre ja alles noch irgendwie zu bewerkstelligen, wenn es nur um Paket- und Briefpost ginge, ja sogar Sendungen über die Grenze der EU oder Pakete in Übergrößen waren kein Problem für sie. Aber gerade wenn es besonders voll war, kamen die senilen Geizkragen mit dem Postbankkonto und wollten einen Dauerauftrag ändern oder irgendein Smartphone-Analphabet tauchte im Telefon-Shop auf, den sie nebenbei auch noch betreuen musste. Ihr Deo begann bereits zu versagen, auch wenn sie optisch noch in einwandfreiem Zustand war. Harald bewunderte sie täglich für ihre Disziplin, dass sie extra eine halbe Stunde früher aufstand, um die Haare ordentlich in Form zu bringen und ein akkurates Make-up aufzulegen, so dass sie immer tip top aussah. So bemerkte niemand, wie es bereits jetzt in ihr brodelte.
Als wäre das alles nicht schon mehr als genug gewesen, kam schon wieder die alte Schrunze aus der Kirchengemeinde in den Laden gestiefelt. Einfach nicht hinsehen, dachte Uschi, vielleicht will sie ja nur ihr Postfach leeren. Was hatte sie mit dieser Tante schon für einen Stress gehabt. Zuerst war sie aufgetaucht und wollte ein Postfach für die Gemeinde einrichten, sie hätten da ein Kooperationsprojekt mit einer Organisation, bei der höchst fragwürdige Menschen die Postanschrift bräuchten, aber ihnen wäre es lieber, die Adresse bliebe geheim. Eine Viertelstunde hatte die Alte sie zugetextet und Uschi hatte einfach Aufmerksamkeit vorgetäuscht und in Gedanken das Abendessen zu Hause geplant: Schweinemedaillons in Rahmsauce, Country-Kartoffeln mit French Dressing und Kaisergemüse. Zum Nachtisch hatte noch das Apfelkompott vom Vortag gereicht. Sie hatte der Kundin einen Flyer in die Hand gedrückt und erklärt, wie sie vorzugehen habe, dann war die Frau schließlich gegangen.
Drei Wochen später hatte sie wieder in der Filiale gestanden und gefragt, wo eigentlich der Schlüssel für das Postfach bliebe. Uschi hatte nachgesehen und es war verzeichnet, dass der Gemeinde der Schlüssel zugestellt worden war. Sie stritt das allerdings vehement ab und ihre Stimme überschlug sich, als sie schimpfte, was das denn für eine Unverschämtheit sei, einfach zu behaupten, sie hätten den Schlüssel bekommen, wenn das nicht der Fall sei. Uschi hatte nachgeforscht, alle Eventualitäten abgeklopft und wieder einmal viel zu spät Feierabend gemacht. Dann hatte sie geglaubt, nun sei alles geregelt, aber eine Woche später hatte die Kirchentante wieder im Laden gestanden und war voll auf Schaum gewesen. Uschi hatte es gereicht, sie hatte ihr den Schlüssel eines Ersatzschlosses gegeben, die bereits eingegangene Post aus dem Fach geholt und versprochen, das Schloss noch heute auszuwechseln.
Sie hatte es vergessen. Am kommenden Tag war die Trulla wieder im Laden und beschwerte sich, dass der Schlüssel nicht passte. Uschi hatte das Postfach geöffnet, ihr die eingegangenen Sendungen gereicht und zugesichert, sich gleich des Schlosswechsels anzunehmen.
Damit sie es nicht wieder vergaß, hatte sie sich gleich an die Arbeit gemacht, doch plötzlich stand die evangelische Gewitterhexe wieder hinter ihr.
„Hören Sie mal“, hatte sie gefaucht. „Was soll dieser Unsinn? Warum geht denn die Post, die an die Hausanschrift der Gemeinde adressiert ist, auch ins Postfach?“
„Das ist so geregelt.“, hatte Uschi ihr erklärt. „Das steht auch in den AGBs. Entweder man bekommt die Post zu Hause zugestellt oder ins Postfach. Beides geht nicht.“
„Das glaube ich Ihnen nicht.“ hatte die Furie gekontert. „Wir bezahlen doch nicht 20 € Miete im Jahr, damit der Zusteller sich die Arbeit erleichtern kann. Das ist doch eindeutig, dass Briefe, die an das Postfach adressiert sind, dorthin gehen und Briefe, die an den Kirchweg adressiert sind, direkt im Gemeindebüro zugestellt werden, sonst muss ja täglich jemand von uns hierher fahren und die Post abholen.“
„So ist das nun einmal!“, hatte Uschi zurück gefaucht. „Ich habe die Bestimmungen nicht gemacht. Wenn Sie also ein Problem damit haben, wenden Sie sich an den Kundenservice der Deutschen Post AG.“
„Sie hören noch von mir.“, hatte die Gemeindetante gedroht und dann wutschnaubend die Filiale verlassen.
„Sie will keine Brief mehr im Postfach haben?“ hatte Uschi vor sich hin gegrummelt. „Da kann ich sie zufriedenstellen.“
Von diesem Tag an war Uschi dazu übergegangen, hin und wieder ein Schreiben aus dem Postfach zu entfernen und vorübergehend in einem zu bunkern, das gar nicht vergeben war. Das würde ihr niemand nachweisen, sie trug dabei immer Baumwollhandschuhe. Als die Christentussi nun aber mit deutlich zornesrotem Gesicht in der Schlange hin und her trippelte, fragte sie sich, ob das mit der kleinen Schikane so eine gute Idee gewesen war. Nun musste sie sich womöglich schon wieder mit ihr herumärgern. Zum Glück war Helga mit Bedienen an der Reihe, als die Kundin vortrat. Uschi konnte aber nicht umhin, mit halbem Ohr zuzuhören.
„Hören Sie mal, ich habe am Donnerstag hier einen Brief mit Prio aufgegeben und der ist erst heute angekommen.“
Helga blieb freundlich und erklärte: „Da müssen Sie bei der Sendungsverfolgung anrufen und die Nummer...“
Die Krawallschachtel fiel ihr ins Wort: „Da habe ich längst angerufen und die behaupten, der Brief sei bereits am Freitag zugestellt worden. Ich habe aber am Sonntag mit der Empfängerin telefoniert und da war er noch nicht da. Am Telefon erklärte man mir, er sei zugestellt worden und ich könne höchstens einen Nachforschungsauftrag erteilen und zwar online. Das wollte ich auch, aber dort wird erklärt, dass das frühestens nach einer Woche möglich ist. Heute ist Mittwoch und fast eine Woche um und der Brief, für den ich extra Gebühren bezahlt habe, damit er bevorzugt behandelt wird, ist vorsätzlich verschleppt worden. Ich verlange mein Geld zurück. Eigentlich müsste ich die Post verklagen, das sind ja betrügerische Praktiken, wenn einfach behauptet wird, ein Brief sei zugestellt worden, obwohl das gar nicht der Fall ist.“
„Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.“, erklärte Helga tapfer. „Da müssten Sie sich an den Kundenservice...“
„Ich muss überhaupt nichts.“, unterbrach sie die Kundin. „Ich gehe nicht eher hier weg, bis Sie mir die Gebühren für die Prio erstattet haben. Rufen Sie doch den Kundeservice an. Angenommen ich hätte weder Telefon noch Internet, hätte ich dann etwa keine Rechte?“
Helga war ratlos und Uschi hatte die Schnauze voll. Sie kramte 1,50 € aus ihrem Portemonnaie und knallte sie vor der aufgebrachten Kundin auf die Theke. „Hier, nehmen Sie Ihr Geld und lassen Sie uns unsere Arbeit machen. Wenn Sie sich beschweren wollen und weder Telefon noch Internet haben, kann ich Ihnen gerne Papier geben und einen Stift leihen, dann schreiben Sie einen Brief und ich leite den an die entsprechende Stelle weiter.“
Die Kundin nahm das Geld und sagte: „Sie hören noch von mir, das kann ich Ihnen versprechen.“, dann verließ sie die Filiale.
Uschi schob den Ärger beiseite, sie musste funktionieren, aber in den Atempausen machte sich ein Nagen in ihren Eingeweiden bemerkbar. Was passierte wenn die Kirchentrulla sich bei den falschen Leuten über sie beschwerte? Kundenunfreundliches Verhalten konnte sie ihren Job kosten und sie brauchten das Geld, Harald verdiente ja auch nicht besonders gut.
Nach Feierabend forschte sie nach, welche Absender am Donnerstag Briefe per Prio aufgegeben hatten. Tatsächlich war es nur eine Person und so hatte sie direkt Name und Adresse zur Hand.
Das war ja wieder klar, dachte Uschi, machen fromme Projekte, aber das Gesocks wollen sie sich lieber vom Hals halten. Kein Wunder bei der Hütte. Die haben mindestens dreimal so viel Geld auf der Kante wie Harald und ich zum Leben haben.
Sie schlich um das großzügige Einfamilienhaus herum. Verborgen hinter einem dichten Rhododendron-Strauch linste sie durch eine lichtere Stelle in das erleuchtete Haus hinein. Zur Terrasse hin verfügte das Gebäude über eine großflächige Glasfront und Madame wuselte in Kaschmir und Seide gehüllt durchs Wohnzimmer, wo sie gerade eine Platte mit Schnittchen auf dem Couchtisch abstellte.
Uschi überlegte gerade, ob sie nicht unverrichteter Dinge wieder abziehen sollte, da wendete sich das Blatt zu ihren Gunsten. Die Christenschlampe hob einen Brennholz-Behälter, der neben dem offenen Kamin stand ,hoch und verließ das Zimmer. Uschi bemerkte, dass neben dem Haus, die gut abgelagerten Birkenscheite aufgeschichtet lagen. Ihr Blick fiel auf eine riesige, goldene Dekokugel, die hinter dem Rhododendron das spärliche Licht reflektierte, das durch den dicht belaubten Busch drang. Sie zog den Pflock, an dem die schwere Glaskugel befestigt war, aus dem Beet und huschte hinter die idyllische Laube, von wo aus sie einen kurzen Weg zum Brennholzlager hatte.
In einer sündhaft teuren Wachsjacke und Clogs kam die evangelische Nervensäge um die Ecke und begann Scheite in ihren Holzkorb zu stapeln. Blitzschnell schoss Uschi hinter der Laube hervor und zog dem missgünstigen Luder eins über den Schädel. Sie sackte augenblicklich stöhnend zu Boden. Dann rührte sie sich nicht mehr und machte auch keinen Mucks. Es war zu Dunkel, um festzustellen, ob sie aus dem Kopf blutete. Uschi ließ die Kugel auf den Rasen fallen. Spuren hatte sie an der Waffe nicht hinterlassen, sie trug glatte Kunstleder-Handschuhe.

Am nächsten Tag las Uschi in der Zeitung, dass die Frau den Überfall überlebt hatte und im Krankenhaus lag. Sie blieb ganz ruhig, schließlich hatte ihr Opfer sie nicht gesehen. Und wie sich herausstellte, hatte sie ihr Ziel auch ohne Totschlag erreicht. Als die Kundin ein halbes Jahr später in der Filiale auftauchte, konnte sie sich an nichts erinnern.

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