Freitag, 22. Dezember 2017
Posttrauma
Noch drei Wochen bis Weihnachten, dachte Uschi, dann haben wir hier endlich wieder einmal so etwas wie normalen Alltag. Die Massen von Paketen waren kaum noch zu bewältigen, da war fast kein Platz mehr, wenn in der Filiale ein Feuer ausbräche, wären sie rettungslos verloren. Es war gerade mal 8.25 Uhr und schon staute sich eine entsetzlich lange Schlange vor dem Schalter, obwohl sie zu dritt waren. Das wäre ja alles noch irgendwie zu bewerkstelligen, wenn es nur um Paket- und Briefpost ginge, ja sogar Sendungen über die Grenze der EU oder Pakete in Übergrößen waren kein Problem für sie. Aber gerade wenn es besonders voll war, kamen die senilen Geizkragen mit dem Postbankkonto und wollten einen Dauerauftrag ändern oder irgendein Smartphone-Analphabet tauchte im Telefon-Shop auf, den sie nebenbei auch noch betreuen musste. Ihr Deo begann bereits zu versagen, auch wenn sie optisch noch in einwandfreiem Zustand war. Harald bewunderte sie täglich für ihre Disziplin, dass sie extra eine halbe Stunde früher aufstand, um die Haare ordentlich in Form zu bringen und ein akkurates Make-up aufzulegen, so dass sie immer tip top aussah. So bemerkte niemand, wie es bereits jetzt in ihr brodelte.
Als wäre das alles nicht schon mehr als genug gewesen, kam schon wieder die alte Schrunze aus der Kirchengemeinde in den Laden gestiefelt. Einfach nicht hinsehen, dachte Uschi, vielleicht will sie ja nur ihr Postfach leeren. Was hatte sie mit dieser Tante schon für einen Stress gehabt. Zuerst war sie aufgetaucht und wollte ein Postfach für die Gemeinde einrichten, sie hätten da ein Kooperationsprojekt mit einer Organisation, bei der höchst fragwürdige Menschen die Postanschrift bräuchten, aber ihnen wäre es lieber, die Adresse bliebe geheim. Eine Viertelstunde hatte die Alte sie zugetextet und Uschi hatte einfach Aufmerksamkeit vorgetäuscht und in Gedanken das Abendessen zu Hause geplant: Schweinemedaillons in Rahmsauce, Country-Kartoffeln mit French Dressing und Kaisergemüse. Zum Nachtisch hatte noch das Apfelkompott vom Vortag gereicht. Sie hatte der Kundin einen Flyer in die Hand gedrückt und erklärt, wie sie vorzugehen habe, dann war die Frau schließlich gegangen.
Drei Wochen später hatte sie wieder in der Filiale gestanden und gefragt, wo eigentlich der Schlüssel für das Postfach bliebe. Uschi hatte nachgesehen und es war verzeichnet, dass der Gemeinde der Schlüssel zugestellt worden war. Sie stritt das allerdings vehement ab und ihre Stimme überschlug sich, als sie schimpfte, was das denn für eine Unverschämtheit sei, einfach zu behaupten, sie hätten den Schlüssel bekommen, wenn das nicht der Fall sei. Uschi hatte nachgeforscht, alle Eventualitäten abgeklopft und wieder einmal viel zu spät Feierabend gemacht. Dann hatte sie geglaubt, nun sei alles geregelt, aber eine Woche später hatte die Kirchentante wieder im Laden gestanden und war voll auf Schaum gewesen. Uschi hatte es gereicht, sie hatte ihr den Schlüssel eines Ersatzschlosses gegeben, die bereits eingegangene Post aus dem Fach geholt und versprochen, das Schloss noch heute auszuwechseln.
Sie hatte es vergessen. Am kommenden Tag war die Trulla wieder im Laden und beschwerte sich, dass der Schlüssel nicht passte. Uschi hatte das Postfach geöffnet, ihr die eingegangenen Sendungen gereicht und zugesichert, sich gleich des Schlosswechsels anzunehmen.
Damit sie es nicht wieder vergaß, hatte sie sich gleich an die Arbeit gemacht, doch plötzlich stand die evangelische Gewitterhexe wieder hinter ihr.
„Hören Sie mal“, hatte sie gefaucht. „Was soll dieser Unsinn? Warum geht denn die Post, die an die Hausanschrift der Gemeinde adressiert ist, auch ins Postfach?“
„Das ist so geregelt.“, hatte Uschi ihr erklärt. „Das steht auch in den AGBs. Entweder man bekommt die Post zu Hause zugestellt oder ins Postfach. Beides geht nicht.“
„Das glaube ich Ihnen nicht.“ hatte die Furie gekontert. „Wir bezahlen doch nicht 20 € Miete im Jahr, damit der Zusteller sich die Arbeit erleichtern kann. Das ist doch eindeutig, dass Briefe, die an das Postfach adressiert sind, dorthin gehen und Briefe, die an den Kirchweg adressiert sind, direkt im Gemeindebüro zugestellt werden, sonst muss ja täglich jemand von uns hierher fahren und die Post abholen.“
„So ist das nun einmal!“, hatte Uschi zurück gefaucht. „Ich habe die Bestimmungen nicht gemacht. Wenn Sie also ein Problem damit haben, wenden Sie sich an den Kundenservice der Deutschen Post AG.“
„Sie hören noch von mir.“, hatte die Gemeindetante gedroht und dann wutschnaubend die Filiale verlassen.
„Sie will keine Brief mehr im Postfach haben?“ hatte Uschi vor sich hin gegrummelt. „Da kann ich sie zufriedenstellen.“
Von diesem Tag an war Uschi dazu übergegangen, hin und wieder ein Schreiben aus dem Postfach zu entfernen und vorübergehend in einem zu bunkern, das gar nicht vergeben war. Das würde ihr niemand nachweisen, sie trug dabei immer Baumwollhandschuhe. Als die Christentussi nun aber mit deutlich zornesrotem Gesicht in der Schlange hin und her trippelte, fragte sie sich, ob das mit der kleinen Schikane so eine gute Idee gewesen war. Nun musste sie sich womöglich schon wieder mit ihr herumärgern. Zum Glück war Helga mit Bedienen an der Reihe, als die Kundin vortrat. Uschi konnte aber nicht umhin, mit halbem Ohr zuzuhören.
„Hören Sie mal, ich habe am Donnerstag hier einen Brief mit Prio aufgegeben und der ist erst heute angekommen.“
Helga blieb freundlich und erklärte: „Da müssen Sie bei der Sendungsverfolgung anrufen und die Nummer...“
Die Krawallschachtel fiel ihr ins Wort: „Da habe ich längst angerufen und die behaupten, der Brief sei bereits am Freitag zugestellt worden. Ich habe aber am Sonntag mit der Empfängerin telefoniert und da war er noch nicht da. Am Telefon erklärte man mir, er sei zugestellt worden und ich könne höchstens einen Nachforschungsauftrag erteilen und zwar online. Das wollte ich auch, aber dort wird erklärt, dass das frühestens nach einer Woche möglich ist. Heute ist Mittwoch und fast eine Woche um und der Brief, für den ich extra Gebühren bezahlt habe, damit er bevorzugt behandelt wird, ist vorsätzlich verschleppt worden. Ich verlange mein Geld zurück. Eigentlich müsste ich die Post verklagen, das sind ja betrügerische Praktiken, wenn einfach behauptet wird, ein Brief sei zugestellt worden, obwohl das gar nicht der Fall ist.“
„Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.“, erklärte Helga tapfer. „Da müssten Sie sich an den Kundenservice...“
„Ich muss überhaupt nichts.“, unterbrach sie die Kundin. „Ich gehe nicht eher hier weg, bis Sie mir die Gebühren für die Prio erstattet haben. Rufen Sie doch den Kundeservice an. Angenommen ich hätte weder Telefon noch Internet, hätte ich dann etwa keine Rechte?“
Helga war ratlos und Uschi hatte die Schnauze voll. Sie kramte 1,50 € aus ihrem Portemonnaie und knallte sie vor der aufgebrachten Kundin auf die Theke. „Hier, nehmen Sie Ihr Geld und lassen Sie uns unsere Arbeit machen. Wenn Sie sich beschweren wollen und weder Telefon noch Internet haben, kann ich Ihnen gerne Papier geben und einen Stift leihen, dann schreiben Sie einen Brief und ich leite den an die entsprechende Stelle weiter.“
Die Kundin nahm das Geld und sagte: „Sie hören noch von mir, das kann ich Ihnen versprechen.“, dann verließ sie die Filiale.
Uschi schob den Ärger beiseite, sie musste funktionieren, aber in den Atempausen machte sich ein Nagen in ihren Eingeweiden bemerkbar. Was passierte wenn die Kirchentrulla sich bei den falschen Leuten über sie beschwerte? Kundenunfreundliches Verhalten konnte sie ihren Job kosten und sie brauchten das Geld, Harald verdiente ja auch nicht besonders gut.
Nach Feierabend forschte sie nach, welche Absender am Donnerstag Briefe per Prio aufgegeben hatten. Tatsächlich war es nur eine Person und so hatte sie direkt Name und Adresse zur Hand.
Das war ja wieder klar, dachte Uschi, machen fromme Projekte, aber das Gesocks wollen sie sich lieber vom Hals halten. Kein Wunder bei der Hütte. Die haben mindestens dreimal so viel Geld auf der Kante wie Harald und ich zum Leben haben.
Sie schlich um das großzügige Einfamilienhaus herum. Verborgen hinter einem dichten Rhododendron-Strauch linste sie durch eine lichtere Stelle in das erleuchtete Haus hinein. Zur Terrasse hin verfügte das Gebäude über eine großflächige Glasfront und Madame wuselte in Kaschmir und Seide gehüllt durchs Wohnzimmer, wo sie gerade eine Platte mit Schnittchen auf dem Couchtisch abstellte.
Uschi überlegte gerade, ob sie nicht unverrichteter Dinge wieder abziehen sollte, da wendete sich das Blatt zu ihren Gunsten. Die Christenschlampe hob einen Brennholz-Behälter, der neben dem offenen Kamin stand ,hoch und verließ das Zimmer. Uschi bemerkte, dass neben dem Haus, die gut abgelagerten Birkenscheite aufgeschichtet lagen. Ihr Blick fiel auf eine riesige, goldene Dekokugel, die hinter dem Rhododendron das spärliche Licht reflektierte, das durch den dicht belaubten Busch drang. Sie zog den Pflock, an dem die schwere Glaskugel befestigt war, aus dem Beet und huschte hinter die idyllische Laube, von wo aus sie einen kurzen Weg zum Brennholzlager hatte.
In einer sündhaft teuren Wachsjacke und Clogs kam die evangelische Nervensäge um die Ecke und begann Scheite in ihren Holzkorb zu stapeln. Blitzschnell schoss Uschi hinter der Laube hervor und zog dem missgünstigen Luder eins über den Schädel. Sie sackte augenblicklich stöhnend zu Boden. Dann rührte sie sich nicht mehr und machte auch keinen Mucks. Es war zu Dunkel, um festzustellen, ob sie aus dem Kopf blutete. Uschi ließ die Kugel auf den Rasen fallen. Spuren hatte sie an der Waffe nicht hinterlassen, sie trug glatte Kunstleder-Handschuhe.

Am nächsten Tag las Uschi in der Zeitung, dass die Frau den Überfall überlebt hatte und im Krankenhaus lag. Sie blieb ganz ruhig, schließlich hatte ihr Opfer sie nicht gesehen. Und wie sich herausstellte, hatte sie ihr Ziel auch ohne Totschlag erreicht. Als die Kundin ein halbes Jahr später in der Filiale auftauchte, konnte sie sich an nichts erinnern.

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Freitag, 15. Dezember 2017
Private Investigations - ein abgeschlossener Kurzkrimi
Es war einer dieser Tage, an denen die Zeit fließt wie Kunsthonig, zäh, trübe, beinahe schon erstarrt. Glauben Sie nicht, mir sei nicht bewusst, dass ich im 21. Jahrhundert lebe, aber ich bin Purist und die schlichten Lamellen vor dem Fenster, der große Deckenventilator, der kompakte Eichen-Schreibtisch, der mit drei einfachen aber soliden Holzstühlen die ganze spartanische Ausstattung meines Büro ausmacht – abgesehen von dem schwarzen Bakelit-Fernsprecher - dient nicht etwa der Erzeugung einer Illusion, man befinde sich in einem Detektiv-Film der Vierzigerjahre. Obwohl ich gestehen muss, dass der von Bogie verkörperte Philip Marlowe allmählich zu meinem Alter Ego mutiert. Wir haben die gleichen Initialen, Marlowe und ich und den gleichen Beruf: Privater Ermittler. Es klopfte an der Tür, als ich gerade überlegte, ob ich mir noch eine Zigarette anzünden oder direkt in Harrys Bar wechseln sollte, denn es gab nichts zu tun und Harry hatte den besten Scotch der Stadt und wollte mir ums Verrecken nicht verraten, wo man das Zeug Flaschenweise bekam, denn dann hätte er mich als einen seiner treuesten Kunden womöglich verloren. Doch ich wurde in meinen Abwägungen unterbrochen durch ein zartes Klopfen, ein weibliches, wie ich sofort scharfsinnig erkannte. Geschäftstüchtig nahm ich die Füße vom Schreibtisch und bat die Person herein.
Sie war ein Engel. Kein Vamp wie Lauren Bacall, aber auch kein naives Mäuschen wie die Monroe, nein, sie war unvergleichlich: ungeschminkt, von natürlicher Anmut, sanft, aber entschlossen, zart gebaut aber voller weiblicher Rundungen und ihr Look war zeitlos und klassisch.
„Sind Sie Peter Margo?“, fragte sie mit einer erschütternd klaren Stimme.
„Ja, der bin ich.“, antwortete ich. „Was kann ich für Sie tun?“
„Es ist kompliziert.“, antwortete die junge Schönheit.
„Das ist es meistens. Lassen Sie mich raten: Sie verdächtigen Ihren Mann eines amourösen Doppellebens?“
„Ich habe keinen Mann.“
Das ließ mich aufhorchen. Der Engel war noch auf dem Markt, wenn ich mich gehörig ins Zeug legte, würden vielleicht schon Weihnachten die Glocken für mich klingen.
„Worum geht es dann?“
„Mindestens um eine vermisste Person.“, antwortete die Frau. „Möglicherweise sogar um Mord.“
Ich pfiff leise durch die Zähne. „Da müssen Sie mir schon ein bisschen mehr erzählen Lady, also wer ist Ihnen abhanden gekommen, warum halten Sie es für möglich, dass ihn jemand vorsätzlich getötet hat und wen haben Sie in Verdacht?“
„Es geht um Gott.“
„Wie bitte?“
„Wissen Sie“, begann die junge Frau und nahm gedankenverloren vor meinem Schreibtisch Platz, „eines Morgens wachte ich auf und stellte fest, dass er nicht mehr da ist. Eigentlich fehlte er schon länger, aber es war mir bis dahin gar nicht aufgefallen. Zuerst dachte ich, ach, der hat sich sicher versteckt, ist mal wieder beleidigt, weil ich ihn zu wenig beachtet habe, aber dann habe ich nach ihm gesucht und ihn nirgends gefunden.“
„Wo genau haben Sie denn gesucht?“
„An den üblichen Orten.“
„Und die wären?“
„In alten und neuen Kirchen, in Gemeindekreisen, in der Natur, beim Bibellesen, in anderen Religionen, ja sogar in mir selbst, ganz lange habe ich in mich hineingehorcht, aber ich konnte ihn nirgends entdecken.“
Die Maus hatte ja offenkundig nicht mehr alle Latten am Zaun, aber ich beschloss mitzuspielen, man konnte nie wissen, was in so einem Fall für einen heraussprang.
„Woran haben Sie denn in der Vergangenheit bemerkt, dass er da war?“
„Manchmal fühlte ich mich ganz leicht, manchmal, als sei ich voller Licht und manchmal auch einfach geborgen, so, als würde ich getragen. Alles ergab einen Sinn und fügte sich wunderbar zusammen. Aber das Wichtigste war die Hoffnung. Es ist ja nicht so, dass ich früher keine Schwierigkeiten hatte, aber da war immer diese Hoffnung, ja sogar die Gewissheit, dass sich alles zum Guten wenden würde. Und dann wusste ich, Gott ist bei mir. Doch seit einiger Zeit ist er weg.“
„Aber vielleicht hat er sich ja wirklich nur versteckt.“, überlegte ich.
„Ja.“, erwiderte die junge Frau. „Zuerst dachte ich das ja auch. Aber dann fiel mir auf, dass er nicht nur mich im Stich gelassen hat. Es heißt bei Jesaja: das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht und über denen, die da wohnen im finstern Lande scheint es hell. - Aber das Licht scheint nicht. Überall leben Leute in der Dunkelheit. In China gibt es Menschen, die haben in ihrem ganzen Leben noch nie den Himmel gesehen, geschweige denn die Sonne, weil sie ständig unter einer riesigen Smog-Glocke leben. Sie wissen doch sicher selbst, dass es überall in der Welt gnadenlose Ausbeutung, Unterdrückung, Hunger, Krieg und Vertreibung gibt, da bleibt es dunkel, da scheint kein Licht. Je länger ich darüber nachdenke, umso klarer wird für mich, dass irgendjemand Gott getötet haben muss.“
„Und ich soll jetzt für Sie herausfinden wer?“
„Ja, ich bitte Sie darum.“
„Ich bin nicht billig, Lady. 40 € die Stunde plus Spesen. Können Sie sich das leisten?“
„Ich zahle Ihnen fünfhundert im Voraus. Wenn das verbraucht ist, können Sie die Ermittlungen abbrechen, aber ich hoffe, Sie werden vorher fündig. Nehmen Sie den Auftrag an?“
„Aber sicher, Lady.“, antwortete ich. Ich war gerade ziemlich klamm und selbst wenn ich nichts herausfand, sollte es mein Schaden nicht sein. Warum also nicht einmal ein bisschen ins Blaue ermitteln? „Ich mach mich gleich an die Arbeit und melde mich, sobald ich etwas herausgefunden habe. Lassen Sie mir Ihre Telefonnummer da?“
„Und was ist mit E-Mail?“
„Gehen Sie nicht ans Telefon?“
„Doch schon, aber ich bin nicht immer telefonisch erreichbar.“
„Dann versuch ich es eben noch einmal.“
„Haben Sie keinen Internetauftritt?“, fragte sie verwundert.
„Wie haben Sie mich gefunden?“, lautete meine Gegenfrage.
„Im Vorbeigehen habe ich das Schild gesehen.“, antwortete sie.
„Sehen Sie.“, entgegnete ich. „So mach ich das. Ich konzentriere mich aufs Wesentliche.“
Sie notierte ihre Nummer und verabschiedete sich.

Die halbe Nacht las ich diesen Jesaja und auch die Querverweise. Ich fand heraus, dass das Licht von einem Superhelden ausging, der Wunder wirken, den Frieden bringen und für Gerechtigkeit sorgen würde. Ein paar hundert Jahre, nachdem diese Prophezeiung notiert worden war, kam
Jesus von Nazareth zur Welt und um ihn rankten sich Legenden und viele sahen in ihm die Erfüllung der Prophezeiung. Er wurde tatsächlich ermordet, bzw. hingerichtet, aber wenn ich meinen Quellen Glauben schenken konnte, kehrte er kurz nach seinem Tod zurück und machte noch 40 Tage weiter, bevor er spurlos verschwand, d.h., das stimmt nicht ganz, denn er hinterließ haufenweise Spuren in der Geschichte und in den Köpfen und Herzen der Menschen. So lebte er ewig weiter und eigentlich müsste er das immer noch tun, aber meine Klientin hatte da ihre Zweifel. Irgendjemand hatte ihn also möglicherweise ein zweites Mal verschwinden lassen und nun ging es um die Frage des Motivs. Wer hat ein Interesse daran, Gott zu töten? Wem spuckt der Allmächtige in die Suppe?

Ich lief durch die Straßen – Harrys Bar war längst geschlossen – es denkt sich auch besser, wenn man einen Fuß vor den anderen setzt. Doch mir fiel nichts ein und so ging ich schließlich in mein winziges Apartment, legte mich in mein ungemachtes Bett und fiel in einen bleiernen Schlaf.

Am nächsten Morgen, nach einem schwarzen Kaffee und einem alten Milchbrötchen ging ich meine Überlegungen etwas systematischer an: Was waren die häufigsten Mordmotive?
Eifersucht
Kränkung
Existenzangst
Gier
Eifersucht schloss ich aus, mit Gott ging niemand eine Paarbeziehung ein. Nicht einmal die Nonnen, die sich als Bräute Christi bezeichneten und einen Verlobungsring am Finger trugen, lebten ernsthaft in einer Paarbeziehung mit ihrem Erlöser.
Kränkung kam da schon eher in Frage. Schließlich konnte man behaupten, von Gott gedemütigt worden zu sein, wenn das Leben einen in die Knie zwang und man seiner Würde beraubt wurde. Also standen schon einmal alle Entrechteten und vom Schicksal Gebeutelten unter Generalverdacht.
Existenzangst schied ebenfalls aus. Wer beim Kampf ums Überleben knappe Ressourcen verteidigt oder erobert, tut das immer in Konkurrenz zu anderen Wesen aus Fleisch und Blut, mit Gott zankt man nicht um den Braten oder um die günstige Wohnung oder um den Fortbestand der eigenen Firma.
Und schließlich die Gier. Um Gier ging es ja meistens. Selbst Beziehungstaten aus Eifersucht lag eigentlich Gier zugrunde. Ich überlegte, wer wohl der gierigste Mensch in meiner Umgebung war und dachte sofort an von Contzen, der mit seinem Riesenverlagshaus alle kleinen Konkurrenten nach und nach vom Markt verdrängte.
Seine Vorzimmerdame wollte mich zuerst nicht zu ihm lassen.
„Haben Sie einen Termin?“, fragte sie schnippisch?
„Nein.“, erklärte ich. „Aber ich ermittle in einem mutmaßlichen Mordfall und wie Sie sich denken können, kann so etwas nicht warten.“
„Können Sie sich ausweisen?“
„Selbstverständlich.“ Ich zeigte ihr meine Lizenz.
„Privatermittler.“ Sie rümpfte verächtlich die Nase. „Ich bin nicht sicher, ob Herr von Contzen bereit ist, Sie zu empfangen; verpflichtet ist er dazu jedenfalls nicht. Aber ich kann ihn ja einmal fragen.“
Sie verschwand hinter einer gepolsterten Doppeltür und kehrte kurz darauf zurück.
„Sie haben Glück.“, erklärte sie. „Der Herr von Contzen ist neugierig.“

Ich betrat die Höhle des Löwen, die beinahe genauso minimalistisch ausgestattet war wie mein Büro, nur war alles dreimal so groß und zehnmal so edel und die Außenfassade war komplett verglast.
„Sie ermitteln in einem Mordfall?“, fragte von Contzen, der mir in einem lässigen Designeranzug entgegentrat und mir die Hand reichte.
„In der Tat.“, erwiderte ich. „Margo ist mein Name. Es ist nicht ausgemacht, ob es wirklich um Mord geht. Zunächst einmal könnte man es auch wie eine Vermisstenmeldung behandeln.“
Wortlos wies von Contzen auf die bequemen Stühle am Besprechungstisch und wir nahmen beide Platz. Dann fragte er: „Und warum befasst sich nicht die Polizei mit dieser Angelegenheit?“
„Meine Auftraggeberin ist skeptisch, ob sie überhaupt ermitteln würden.“
„Warum?“
„Wenn es keinen deutlichen Hinweis auf ein Verbrechen gibt, gehen die erst einmal davon aus, dass der Vermisste von sich aus das Weite gesucht hat. Meine Klientin geht aber von einem Gewaltverbrechen aus.“
„Um wem handelt es sich bei dem Opfer?“
„Um Gott.“
„Wir bitte?“
„Ja, Sie haben richtig gehört. Meine Klientin sagt, er sei abhanden gekommen. Sie vermisse ihn schon länger. Nun meine Frage an Sie: Kannten Sie den Vermissten?“
„Nicht persönlich.“, antwortete Contzen. „Aber ich habe von ihm gehört. In ein paar Wochen ist ja auch wieder Weihnachten, da wird er dann ganz sicher wiedergeboren.“
Von Contzen lachte ironisch.
„Sie gehen also auch davon aus, dass er getötet wurde?“
„Sicher.“, antwortete Contzen und lachte noch lauter. „Wurde ja gekreuzigt, aber keine Sorge, der ist ein Stehaufmännchen.“
Der Verleger klopfte sich auf die Schenkel, begeistert von seinem eigenen Witz. Das alte Milchbrötchen machte sich wieder bemerkbar, ob es wohl gleich auf seinem hochwertigen Wollteppichboden landen würde?
„Wie standen Sie denn zu Gott?“, fragte ich.
„Ach wissen Sie.“, antwortete mein Gesprächspartner. „Ich bin Materialist. Religion ist etwas für Leute, die Trost brauchen. Bei mir hingegen läuft der Laden. Gott interessiert mich nicht, es sei denn, jemand schreibt ein gutes Buch über ihn.“
„Und wenn er plötzlich hier auftauchen würde?“
„Das ist doch Quatsch!“
„Mal angenommen, er würde sie überraschen.“
„Ich würde ihn für einen Psychopathen halten und die Polizei rufen.“
„Das glaube ich Ihnen aufs Wort, zumindest wenn er sich Ihnen in menschlicher Gestalt präsentieren würde, aber angenommen er wäre ganz anders und es gäbe keinen Zweifel und Sie wüssten, dass es Gott ist.“
„Sie verschwenden meine Zeit, Herr...Herr...“
„Margo“
„Ja, genau, Herr Margo. Ich schlage vor, Sie befragen einen Geistlichen. Der hält sicher die Antworten für sie bereit, nach denen Sie suchen. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich habe eine Menge zu tun.“

Ich verabschiedete mich und setzte von Contzen oben auf die Liste. Er wollte nicht über Gott reden, er war ihm lästig, stand ihm im Weg, behinderte ihn beim Erreichen seiner Ziele.

Nach zwei Tagen war der Vorschuss meiner Klientin aufgebraucht. Ich bestellte sie in mein Büro, ich wollte ihr wenigstens einen anständigen Bericht abliefern, wenn ich schon weder Opfer noch Täter präsentieren konnte.
„Hören Sie, Lady“, erklärte ich. „Ich habe Gott nicht gefunden, nicht einmal ein Spur von ihm. Die Zahl der infrage kommenden Täter ist uferlos, aber da Gott kein Mensch ist, den man erschießen kann, vermute ich, dass auch der Täter eine Energie ist, die wirkt, ein körperloses, allgegenwärtiges Wesen, das so wie Gott zwar spürbar aber nicht fassbar ist.“
„Und was für ein Wesen soll das sein?“, fragte sie ratlos.
„Die Gier.“
„Die Gier?“
„Ja, wer von Gier erfüllt ist, ganz egal ob Gier nach Geld, Land, Macht, Aufmerksamkeit, Sex, Essen, Bequemlichkeit oder was auch immer, dem steht Gott im Weg, denn Gott ist kein Automat der Bedürfnisse auf Abruf befriedigt. Gott fordert die Menschen heraus, stellt Anforderungen, verlangt Mitgefühl, Bereitschaft zu teilen und zu helfen. Das stört, das nervt. Und wenn sich die Gier in einem Menschen ausbreitet und immer mehr Raum einnimmt, dann ist da kein Platz mehr für Gott und der Mensch eliminiert Gott in sich, er löscht den göttlichen Funken und wird zur seelenlosen Fressmaschine. Das ist wie eine Seuche und sie breitet sich gerade über die ganze Welt aus. Je weniger Menschen von Gott erfüllt sind, umso weniger wahrnehmbar wird er und umso geringer sind auch seine Möglichkeiten zu wirken. Er wird immer körperloser.“
„Können wir die Seuche stoppen?“, fragte meine Klientin.
„Solange es noch Menschen gibt, die noch nicht vollständig von der Gier beherrscht sind, ja.“, antwortete ich. „Mit jedem Kind, das zur Welt kommt, erschafft Gott sich selbst eine neue Möglichkeit, zu uns zurückzukehren und es ist unserer Aufgabe, ihm dabei zu helfen, den Raum für sich zu erobern. Wir müssen dafür sorgen, dass die Gier in den Herzen unserer Kinder keinen Platz findet.“
„Wie soll das gehen?“
„Das weiß ich auch nicht. Lady. Aber ich bin sicher, Sie finden es heraus.“

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Freitag, 8. Dezember 2017
Alarm wegen Killerkeimen – ein Millieu-Kurzkrimi
„Aber wir müssen mehr werden!“, ruft Edeltraut.
„Ja“, unterstützt sie Bernhard. „Wachsen gegen den Trend. Schließlich wissen wir, für wen wir das alles tun.“
„Für das Leben.“, haucht Edeltraut
„Papperlapapp!“, geht Oskar dazwischen. „Ohne grundlegende Umbauarbeiten, brauchen wir hier gar nicht weitermachen. Hier muss alles raus und dann muss das ganz neu ausgestattet werden. Das ist mir hier alles viel zu fungiphil.“
„Jetzt geht der schon wieder auf die Pilze los.“, beklagt sich Henriette. „Wir dienen doch alle dem gleichen Zweck: dem Leben!“
„Pilze dienen nicht dem Leben!“, echauffiert sich Oskar. „Sie sind unsere Feinde, hast Du das immer noch nicht begriffen? Oder was glaubst Du, woraus der Zerstörer sich zusammensetzt? Aus Säuren oder Laugen? Nein, es sind die Pilze, die uns vernichten – so wie sie auch jedes andere Leben zugrunde richten. Sie sind nicht tierisch und nicht pflanzlich, sie sind einfach nur eine Ausgeburt des Bösen!“
„Hausgeburt des Bösen?“, hakt Herbert zittrig nach. Sein endoplasmatisches Reticulum ist ständig verstopft. Er hat aber auch schon jede Menge Umzüge hinter sich, im Gegensatz zu Henriette, die hier geboren wurde. Herbert wird ignoriert, es kann sich nur noch um Stunden handeln, bis er endgültig ausgeschieden wird.
„Die Frage ist.“, überlegt Edeltraut. „Was wir tun können, um die große Halle zu füllen, in der wir Wenigen uns verlaufen und dann womöglich keine Partner finden.“
„Jetzt übertreibst du aber, Edeltraut.“, sagt Gudula. Gudula ist auch schon zwei mal umgezogen, aber noch äußerst rüstig. „Mit dem Wirt muss man verantwortungsvoll umgehen. Er kann zu viele von uns gar nicht verkraften.“
„Ach, du immer mit deinem Nachhaltigkeitsgequatsche.“, geht Oskar unwirsch dazwischen. „Ich habe die Jungs vom jüngst zugezogenen Trupp angewiesen, reichlich Reizstoffe zu produzieren, damit der Wirt geeigneten Nachschub liefert. Die Neuen sind ziemlich vital, obwohl das hier auch nicht ihr erstes Domizil ist.“
Etwas später rast Edeltraut aufgeregt durch die Flora: „Oh ist das schön, so viele junger Nachwuchs und so schnell. Jetzt können wir endlich einen Chor gründen, bei soviel Leben in der Bude und wenn unsere Freunde von außen das hören, werden sie alles stehen und liegen lassen und einen Weg finden, dazu zu kommen!“
„Merkst du eigentlich noch irgendwas?“, regt Gudula sich auf. „ Der Wirt liefert kaum noch Nahrung, der kommt einfach nicht hinterher bei so vielen Bewohnern. Und dann kommt ja noch dazu, dass Leute wie du oder Oskar alles tun, damit wir schön unter uns bleiben. Ihr geht ja nicht nur auf die Pilze los. Die Rechtsdrehenden werden systematisch von den Futterplätzen verdrängt, von den Fettaufspaltenden mal ganz zu schweigen. Ich langweile mich hier zu Tode und niemand da, mit dem man ein paar nette Mutationen initiieren kann, außer diese gegen alles gefeiten Erfolgstypen, die sich hier reihenweise breit machen.“
„Ach jetzt hab' dich nicht so, Gudula.“, versucht Edeltraut sie zu beschwichtigen. „Wir machen es uns eben zusammen schön, und wenn dir das nicht gefällt – du weißt ja wo der Ausgang ist.“

DreiTage später: „Wie furchtbar!“, keucht Eldetraut. „Hier ist alles voller Pilze, mir ist schon ganz elend, ich kann kaum noch Nährstoffe aufnehmen. Wenn das so weiter geht, bin ich bald nur noch tote Biomasse.“
„Ja, so geht es eurer Generation.“, feixt der multiresistente Xavier. „Einfach keine Steherqualitäten. Aber mach dir nichts draus, wir dienen ja alle dem Leben. Auch wenn es für dich nun zu Ende geht, das Leben geht weiter, dafür sorgen wir.“

Fünf Tage später: „Hier oben ist auch alles voller Leichen!“, schreit Sabine mit letzter Kraft. Ich habe Rückstände von Pilzen gefunden, aber alle Nahrungsquellen sind heillos überlaufen!“
„Das bringt die Überbevölkerung so mit sich!“, grantelt Stefan. „Die Linksdrehenden haben alles belagert. Was ich nur nicht verstehe, ist die Tatsache, dass der Wirt kaum noch Nahrung liefert.“
„Vermutlich ist er erkrankt.“, mutmaßt Sabine.
„Wie kommst du darauf?“, fragt Stefan.
„Wenn ein Wirt erkrankt, verlangsamt sich seine Aktivität und es kann zu Versorgungsengpässen kommen. Das haben meine Eltern mir erzählt. Die Frage ist nur, was ihn krank gemacht hat. Vielleicht die Pilze?“
„Das kann sein.“, überlegt Stefan. „Aber wie sind die Pilze in den Nahrungstrakt gelangt?“
„Sie kamen kurz nach den Mutiresistenten. Ich glaube, die stecken unter einer Decke.“
„Aber die Multiresistenten sind doch auch Bakterien. Was haben die mit Pilzen zu schaffen?“
„Sie haben sich mit dem Bösen verbündet. Die Pilze schaden ihnen ja nicht. Sie hätten vielleicht nicht Fuß fassen können, wenn die Linksdrehenden sie nicht eingeschleppt hätten. Die Linksdrehenden wollten sich richtig festsetzen, alles sollte sich nur nach ihren Bedürfnissen richten. Es war vor allem Oskar, der die Multiresistenten unterstützt hat. Aber so viele Bakterien produzieren mehr Fäkalien, als ein Wirt vertragen kann. Ihre Ausscheidungen und die vielen Kadaver überschwemmen seine Organe und verstopfen alle möglichen Straßen. Er wird in Kürze sterben und dann haben wir hier keine heilige Halle mehr, dann sind wir in der Hölle angekommen und wenn wir nicht verhungern, ersticken wir. Wir müssen hier raus, bevor es zu spät ist und so viele retten, wie wir können.“
„Alles klar.“, keucht Sabine und schlägt Alarm.
„Ich gehe hier nicht mehr weg.“, flüstern Edeltraut mit letzter Kraft. „Hier bin ich aufgewachsen, hier will ich sterben. Das Leben wird weitergehen, auch ohne mich.“
„Wo ist eigentlich Oskar?“, fragt Sabine. Aber Edeltraut kann sie nicht mehr hören, sie beginnt bereits, sich zu zersetzen.
„Oskar ist in einer Flatulenzblase auf dem Weg nach unten.“, erklärt Gudula. „Er hat längst gewittert, dass es mit Klaus-Bärbel zu Ende geht und macht sich aus dem Staub.“
„Das ist auch das einzig Richtige.“, erwidert Sabine. „Aber von hier aus kommen wir schneller über den Magen nach draußen. Wir brauchen nur Verstärkung, damit wir genug Schub auslösen können, um nach draußen zu gelangen.“
Am Ende sammeln sie genug Einzeller um sich, um die notwendigen Kontraktionen in Klaus-Bärbels Magen auszulösen. Sie schaffen es mit dem letzten Erbrochenen nach draußen. Xavier schafft es natürlich auch, er gelangt direkt in den nächsten Wirt. Wie durch ein Wunder kommt im richtigen Moment eine Stubenfliege und Sabine und Stefan heften sich an ihre Fersen. Von dort gelangen sie direkt in eine geeignete Nährflüssigkeit, die schon bald vom nächsten Wirt aufgenommen wird.
„Es ist ein Wunder, dass wir das mit heiler Haut überlebt haben.“, bemerkt Sabine. „Und das obwohl Wunder immer Seltener werden. Der Zerstörer wird immer stärker. Ich befürchte er wird bald die Oberhand gewinnen.“
„Das liegt nicht am Zerstörer.“, erklärt Stefan. „Ich kann es nicht genau erklären, aber ich bin mir trotzdem sicher: Es liegt an den Wirten.“

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Freitag, 1. Dezember 2017
GANZ SCHÖN WÜST
„Ausgerechnet Laschi und Linschi“, dachte Keller und erschrak über sich selbst, dass er trotz des Anblicks der grausam entstellten Leichen eine seltsame Befriedigung spürte. Augen und Mund waren weit aufgerissen, Torso und Extremitäten schienen unversehrt, aber in ihren Mundhöhlen befand sich eine schwarze, ausgehärtete Masse, die, wie Gerichtsmedizinerin Konstanze Flegel vermutete, im flüssigen oder breiigen Zustand in den Mund gepresst worden war, wodurch die Opfer einen schauderhaften Erstickungstod fanden.

„Was genau ist das?“, fragte Keller. „Das sieht aus wie Teer.“
„Asphalt.“, entgegnete die Pathologin. „Ich tippe auf ganz gewöhnlichen Straßenbelag. Wenn ich Recht habe, muss die Masse beim Befüllen der Mundhöhlen heiß gewesen sein, sie dürften also auch entsetzliche Verbrennungen erlitten haben. Wahrhaftig kein schönes Ende. Aber jetzt frage ich dich, Stefan: Wer macht so was?“
„Sieht nach Mafia aus.“, grunzte Keller.
„In Bielefeld?!“, entgegnete Konstanze deutlich erstaunt.
„Die waren ja nur wegen der Landessynode hier.“, erwiderte der Kommissar. „Wollten sich mit der Kirche gut stellen; der eine, damit das C in seiner Partei nicht unglaubwürdig wird, der andere weil er sich überall und bei jedem anbiedern muss, nachdem er zuerst den Landtag als Sprungbrett benutzt hat und kürzlich bewiesen hat, dass es ihm auch auf Bundesebene nur um seine Karriere geht. Die haben doch beide haufenweise heiße Drähte in die freie Wirtschaft, da landet man schnell in kriminellen Verstrickungen. Ist auf jeden Fall eine Hinrichtung.“

„Was ist das denn?“ Konstanze wies auf ein Stück Papier, das unter dem Gesäß des einen hervorlugte. Keller hob die Leiche vorsichtig an und zupfte ein DinA4-Blatt hervor, auf das in dicken Lettern folgendes gedruckt war:

ab-wickeln, -schieben, -hängen
und von der Straße drängen
Sozialticket kassieren
und dann die Straße schmieren
mit Geld, das ihr genommen
von uns, dass die's bekommen
die eh schon alles haben
dann könn' sie schneller fahren
und trotzdem Steuern sparen

ersticken sollt ihr am Asphalt
und H. W. Ist der Nächste bald.

Keuchend erwachte Hendrik aus seinem Alptraum. Er wusste, was zu tun war. Die Sache eilte nicht und in einem Jahr würde eine andere Sau durchs Dorf getrieben.

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