Freitag, 10. Februar 2017
Aufforderung zur Fanfiction
Liebe Leserinnen und Leser. Mit dem folgenden Text liegt eine gekürzte Fassung eines Kapitels aus meinem Roman „Brauseflocken – totes Kind, liebes Kind“ vor. Lasst Eurer Phantasie freien Lauf. Eine der beschriebenen Personen wird 33 Jahre später zum Mörder / zur Mörderin. Fragt Euch wer, wen er oder sie tötet, wie er oder sie das tut und was ihn oder sie dazu treibt. Und dann schreibt eine Fortsetzung unter der Überschrift: Mai 2016.
Auch wenn Ihr das Buch schon gelesen habt, braucht Ihr ja nicht das Ende verraten, sondern könnt Euch eine eigene Story ausdenken. Ich freue mich auf hoffentlich viele Versionen. Falls Ihr nicht wünscht, dass Euer Text später unter Eurem Blogger-Namen in einem E-book erscheint, solltet Ihr das ausdrücklich vermerken; ansonsten gehe ich davon aus, dass Ihr einverstanden seid. - Eure Cristina Fabry
Und jetzt Vorhang auf für den 1. Aufzug!

JANUAR 1983
Der Januar 1983 war so schmuddelig, als sei noch November. Die Feuchtigkeit war mehr als unangenehm, drang sie doch durch jede Faser, aber die milden Temperaturen und die weitestgehende Windstille machten den Pilotversuch der Evangelischen Jugend Holzhausen II-Nordhemmern, die ausrangierten Weihnachtsbäume einzusammeln und zu den zentralen Sammelplätzen zu schaffen, auf jeden Fall möglich. Samstags trafen sich zwölf junge Leute am Holzhauser Gemeindehaus, wo Pastor Becker schon auf dem tuckernden Traktor wartete. Die Stimmung war ausgezeichnet; alle waren warm eingepackt und voller Tatendrang.
Die Jugendlichen kletterten auf den Hänger und setzten sich auf die Ladefläche. Ein paar besonders Verwegene – darunter auch Petra – blieben einfach stehen und hielten die Balance wie auf einem Surfbrett.
Es wurde viel gelacht, und Rainer beschwerte sich, dass es nicht einmal einen anständigen Schnaps zum Aufwärmen gab. Das war allerdings auch einer der Augenblicke, in denen Iris sich fragte, ob der bis zur Besinnungslosigkeit praktizierte Alkoholkonsum jetzt etwa auch von der kirchlichen Jugendarbeit Besitz ergriff. Sie war die Einzige, die an diesem Vormittag überhaupt keine gute Laune verbreitete. Mit Cornelia und Petra hatte sie zwar mittlerweile wieder Frieden geschlossen, dafür litt sie nach wie vor unter dem demonstrativen Gegiggel, das Nicole mit Rainer und Markus veranstaltete. Außerdem gingen ihr Lydias um Niveau bemühten Witze auf die Nerven, die tatsächlich weder besonders geistreich noch ansatzweise lustig waren.
Nach mehreren Stunden ging es im Turbotempo zurück zum Holzhauser Gemeindehaus, wo Pastor Becker ganz pragmatisch Teams einteilte, um den Imbiss vorzubereiten. Innerhalb kürzester Zeit saßen die Jugendlichen mit dem Pfarrer am gedeckten Tisch und schlugen sich den Bauch mit Industrie-Nahrung voll.
„Guckt mal.“, sagte Pastor Becker. „Wie beim letzten Abendmahl, ein Hirte, zwölf Jünger.“
„Ist das nicht 'n bisschen anmaßend, sich mit Jesus zu vergleichen?“, fragte Lydia mit der gebotenen Herablassung.
„Aber nein, liebe Lydia“, erklärte der Pfarrer im gönnerhaften Tonfall einer liebenswerten, einfältigen Kindergartentante, „wir sollen unser Verhalten täglich mit Jesus vergleichen und so prüfen, ob wir auf dem richtigen Weg sind.“
„Aber ist das Abendmahl nicht ein Sakrament, über das man keine Witze machen darf?“
„Da hast du natürlich Recht, aber wenn du etwas konzentrierter zugehört hättest, wäre dir sicherlich aufgefallen, dass ich lediglich die Übereinstimmung in der Anzahl der Speisenden und der Rollenverteilung am Tisch festgestellt habe. Als Gemeindepfarrer habe ich die Aufgabe, euch wie Schafe auf den richtigen Weg zu leiten, so wie Jesus das mit seinen Jüngern gemacht hat. Ich sehe das keineswegs als Witz. Und nun guten Appetit und danke euch allen, dass ihr so fleißig mit zugepackt habt.“
Damit hatte er Lydia erfolgreich ausgeknockt, aber es war nur eine Frage der Zeit, wann sie sich zur nächsten nervenaufreibenden Rebellion erheben würde.
Nicole war selig an diesem Tag. Auf dem Wagen hatte sie mit Markus und Rainer Hand in Hand gearbeitet, und sie hatten die ganze Zeit Witze gerissen. Jetzt saß sie erschöpft, aber zufrieden und durchgewärmt vom heißen Kaffee an der Längsseite der Tafel, Markus zu ihrer Linken, Rainer zu ihrer Rechten. Während des Disputs zwischen Pastor Becker und Lydia Meyer hatten sie sich gegenseitig angerempelt und verschmitzte Blicke zugeworfen.
„Willst du noch 'ne Wurst, Nicole?“, fragte Markus in einem Anflug von Galanterie.
„Ein Würstchen würde schon reichen.“, antwortete sie keck und streckte Markus ihren Teller hin.
„Noch etwas Ketchup?“, fragte Rainer, und prompt schenkte sie auch ihm ihr jüngst einstudiertes Marilyn-Monroe-Lächeln. Sie fühlte sich stark, unwiderstehlich und unbesiegbar, und zumindest an diesem Tag gelang es ihr, die beiden Jungen an ihrer Seite mit ihrer Persönlichkeit zu begeistern.
Cornelia und Petra hatten sich die Pole-Position gesichert, von der aus sie alles lückenlos überwachen konnten: sie teilten sich ein Kopfende, blickten direkt in die Gesichter von Pastor Becker und Mario Rathert aus Holzhausen. Zu ihrer Rechten konnten sie Nicoles Stereo-Flirt und Lydias Repertoire an stetig wechselnden Schmoll-Mienen beobachten; zu ihrer Linken saßen Imke Hüttemann, Jörg Rohlfing und Birgit Heitkamp aus der alten Grundschulklasse, sowie Iris und Angela. Pastor Becker war pausenlos damit beschäftigt, Angela mit Würstchen und Kartoffelsalat, sowie Senf und Kaffee zu versorgen, das war wohl der Anlass gewesen, aus dem Markus und Rainer sich so ritterlich um Nicole bemüht hatten, sie hatten den Pfarrer parodiert. Aufgefallen war das aber nur Petra und Cornelia.
„Guck mal, jetzt flüstert er ihr schon wieder was zu.“, wisperte Cornelia Petra ins Ohr, während sie Angela und den Pfarrer, die direkt über Eck saßen, nicht aus den Augen ließ.
„Angela hat schon voll die rote Rübe.“, flüsterte Petra zurück. „Pass auf, gleich lässt sie vor Aufregung die Gabel fallen.“
„Was da wohl gerade unterm Tisch passiert?“, mutmaßte Cornelia.
„So genau will ich das gar nicht wissen.“, entgegnete Petra.
„Aber ich.“, raunte Cornelia, ließ mit gespielter Ungeschicklichkeit ihre Gabel unter den Tisch fallen, um dann beim wieder Aufsammeln die Stellungen der einzelnen Körperteile unterhalb der Tischplatte zueinander mit einem kurzen, photographischen Blick zu erfassen. Sie musste ihr impulsives, hysterisches Kichern in einem vorgetäuschten Hustenanfall tarnen.
„Was ist los, Cornelia?“, rief der Pfarrer über den Tisch. „Wolltest du die Krümel, die vom Tisch des Herrn abfallen nicht umkommen lassen und hast dich daran verschluckt?“
Cornelia errötete und hustete zur Tarnung noch etwas weiter, bis sie schließlich behauptete: „Ich hab' mich beim Bücken nach meiner runter gefallenen Gabel an 'nem Stück Toastbrot verschluckt. Geht aber wieder.“
„Was war denn?“, raunte Petra, als sie und ihre Freundin das Rampenlicht der ungeteilten Aufmerksamkeit aller Anwesenden wieder verlassen hatten.
„Angelas Fußspitze ist nach außen gedreht und zeigt voll auf den Packer, und er streckt seine Füße auch immer weiter aus, mittlerweile berühren sie sich bestimmt.“
Ein Kichern unterbrach Cornelias Bericht, bevor sie fortfuhr: „Und Nicole und ihre beiden Verehrer haben alle drei die Beine so breit gemacht, dass ihre Knie kuscheln können. Also unterm Tisch läuft hier voll der Softporno: Oben Bibelkreis, unten Schulmädchenreport.“
„Das guck' ich mir auf keinen Fall an.“, entgegnete Petra. „Nachher muss ich noch Kotzen. Glaubst du, der Packer will Angela flach legen?“
„Bis jetzt konnte ich mir das nicht vorstellen, aber guck mal, wie er sie immer angrinst und voll labert.“
Iris kaute lustlos auf dem bei ihr Kopfschmerzen verursachenden Phosphat-Würstchen herum und schwankte zwischen dem Bedauern, irgendwie ausgeschlossen zu sein und dem Gefühl einer eklatanten Überlegenheit; empfand sie doch das Niveau der hier stattfindenden Gespräche als unterirdisch. Zum Glück tauschte dann aber Birgit zur Kuchenrunde den Platz mit Jörg, weil sie etwas mit Imke besprechen wollte, und Iris hatte endlich einen adäquaten Gesprächspartner.
Als Pastor Becker in die Runde fragte: „Und wer hilft mir jetzt beim Abwasch?“, sagte Angela prompt: „Ich.“, ansonsten herrschte Schweigen im Walde beziehungsweise geflissentliches Ignorieren, denn alle waren gerade in spannende Gespräche vertieft, bis auf Cornelia und Petra, die aber auf keinen Fall dem erotischen Abenteuer in der Spülküche im Weg stehen wollten.
Angela war ziemlich aufgeregt, als sie ein Tablett voller Tassen die Treppe herunter trug, befürchtete sie doch, ungeschickt zu stolpern und alles fallen zu lassen. Der Pfarrer trug Teller und Besteck und damit zwar mehr Gewicht, aber ein deutlich geringeres Risiko, dass die Ladung ins Rutschen geriet. Es ging aber alles gut, und Angela ließ, glücklich unten angekommen, das Spülwasser einlaufen. Die Küche eignete sich in keinster Weise, um pornographische Phantasien darin auszuleben: Sie war schmal, die Arbeitsplatten so klapprig, dass sie unter dem Gewicht eines halbwegs ausgewachsenen Menschen zusammengekracht wären, das Licht kalt und das Fenster lag zur Straße, war großflächig und ohne Gardinen.
Trotzdem fand Angela es spannend, ungestört reden zu können.

Der Pfarrer trocknete so schnell ab, dass Angela mit dem Spülen kaum hinterher kam. Sie wollte gerade das Gespräch auf den anstehenden Kindergottesdienst lenken, da lehnte plötzlich Lydia lasziv im Türrahmen. Ihre glänzenden, brünetten, zu einem akkuraten Pagenkopf geschnittenen Haare umrahmten ihr ebenmäßiges, ernstes Gesicht. Sie hätte durchaus attraktiv wirken können, hätte sie nicht jeden derartigen Impuls durch ihr säuerlich tantiges Auftreten bereits im Keim erstickt. Immerhin war es ihr gelungen, einen jungen Mann an sich zu binden, den sie aus der Schule kannte, aber die männlichen Teilnehmer des Jugendkreises hegten eine unverhohlene Abneigung gegen sie. Angela war sich nicht sicher, was der Pfarrer von ihr hielt, sie selbst hätte Lydia in diesem Moment am liebsten zur Hölle gewünscht.
„Soll ich jemanden ablösen?“, fragte Lydia gedehnt.
„Also mich nicht.“, sagte Pastor Becker, „Ich hab' ja eben nicht so hart gearbeitet wie ihr. Aber wie sieht's mit dir aus Angela, kannst du noch?“
„Kein Problem.“
„Ich könnte dich aber ablösen.“, insistierte Lydia. „Du bist hier ja schließlich nicht die Spülfrau.“
„Ach lass mich mal.“, entgegnete Angela. „Das Wasser ist so schön warm.“
Pfarrer Becker grinste, und jeder normale Mensch hätte deutlich gespürt, dass er hier überflüssig war. Aber Lydia war nicht normal. Lydia Meyer beanspruchte für sich die ungeteilte Aufmerksamkeit aller wichtigen Personen, weil sie sich selbst für wahnsinnig wichtig hielt. Also blieb sie stehen wie eine von multiresistenten Keimen verursachte Infektion und fragte den Pfarrer: „Ist Ihnen eigentlich klar, dass das, was wir da eben gegessen haben, eine ernährungsphysiologische und ökologische Katastrophe war?“
„Nein. Warum denn?“, erwiderte Pastor Becker mit fester Stimme und starrem Gesichtsausdruck.
„Na ja, in den Heißwürstchen sind hauptsächlich Fett, durchgedrehte Schlachtabfälle und chemische Zusatzstoffe, die krank machen. Das Toastbrot hat kaum Ballaststoffe und besteht nur aus leeren Kalorien und im Ketchup stecken Unmengen Zucker.“
„Ach“, sagte er, „meinst du, wir sollten die durchgedrehten Schlachtabfälle erst in psychiatrische Behandlung geben, damit sie nicht mehr so durchgedreht sind, wenn wir sie verwursten?“
„Sie wissen ganz genau, wie ich das meine.“, antwortete Lydia spitz, mit einem nicht sehr gelungenen Versuch, durch ein angedeutetes Lachen mit ihrem Gesprächspartner zu flirten.
„Nee, weiß ich nicht.“, antwortete der. „Ich weiß nur, dass du beim nächsten Mal gern ökologisch biodynamisch kochen darfst, wenn dir das so am Herzen liegt. Ich würde dann aber trotzdem vorsichtshalber Kartoffelsalat und Würstchen mitbringen, damit mir die Leute, die sich nicht überwinden können, deine alternative Suppe zu löffeln, nicht vom Stängel fallen. Sonst noch was?“
Angela konnte sich nur schwer ein Grinsen verkneifen, und sie bedauerte regelrecht, dass sie mit dem Abwasch fast durch waren, versprach es doch, ziemlich interessant zu werden. Lydia war sichtlich erbost und offenbar auch verletzt.
„Ich kann Ihnen gerne mal ein Buch über gesunde Ernährung leihen, dann könnten Sie sich mal auf den aktuellen Stand der Wissenschaft bringen.“
„Das brauche ich nicht. Ich esse, was mir schmeckt, und wenn ich dadurch nur siebzig statt neunzig Jahre alt werde, ist das auch in Ordnung.“
„Aber das mit der Ökologie kann Ihnen als Pfarrer ja wohl kaum egal sein. Schließlich geht es um die Schöpfung.“
„Ja.“, erwiderte er. „Und als Teil dieser Schöpfung weigere ich mich, mir mit pseudo-fundiertem Halbwissen angereicherte Fachvorträge anhören zu müssen, die mich ermüden, weil ich das längst alles weiß. Ob die Kleidung, die du am Leib trägst, ökologisch einwandfrei ist, wage ich ebenso zu bezweifeln wie den wirtschaftlichen Sprit-Verbrauch eures Autos. Und jetzt würde ich hier gern zu Ende abtrocknen und zwar in Ruhe.“
Lydias trotzige Augen füllten sich mit Tränen und sie rannte wortlos die Treppe hinauf. Pastor Becker stöhnte und fragte Angela: „Was meinst du, muss ich da jetzt hinterher und sie trösten?“
„Besser nicht, wenn sie etwas daraus lernen soll.“, meinte Angela.
Der Pfarrer hängte das Geschirrtuch auf und sagte: „Danke. Das sehe ich nämlich ganz genau so.“
Plötzlich stand Annegret Reinkensmeier in der Tür. Nach einem kurzen Wortwechsel mit dem Pfarrer ging sie nach oben, um ihre Tochter abzuholen.
Sie begleiteten Nicoles Mutter nach oben, wo alle übrigen noch fröhlich um den Tisch versammelt waren – sich aber schneller zum Gehen wandten, als der Pfarrer 'Danke und auf Wiedersehen' sagen konnte. Nun waren nur noch Iris und Angela übrig, die sich in aller Ruhe warm einpackten, damit sie auf den zwei Kilometern zwischen Holzhausen und Nordhemmern nicht auskühlten. Sie halfen außerdem, alle Möbel wieder ordentlich hinzustellen und das Licht zu löschen, bevor sie das Gemeindehaus verließen.
„Übrigens, Iris“, sagte der Pfarrer, „Ich habe vor längerer Zeit unfreiwillig ein Gespräch zwischen dir und Lydia belauscht. Hättest du denn immer noch Lust, den Jugendkreis zu leiten? Ich meine, du müsstest das ja nicht alleine machen, könntest dir ja auch die Angela mit ins Boot holen, aber die Lydia ist nächstes Jahr um diese Zeit kurz vorm Abitur und könnte da sicher Entlastung gebrauchen.“
Iris fühlte sich geschmeichelt und antwortete: „Also, ich hätte schon noch Lust, aber Lydia meinte, sie müsste das dann mit mir zusammen vorbereiten und dazu hätte sie keine Zeit.“
„Na, dafür gibt’s ja 'ne Lösung.“, erwiderte der Pfarrer. „Ihr könntet euch ja in der Vorbereitung mit Lydia abwechseln, und falls ihr wirklich Unterstützung braucht oder Lydia unbedingt will, dass noch einer über euer Konzept drüber guckt, dann könnt ihr gerne auf mich zurück greifen.“
„Also, ich hätte auch Lust dazu.“, mischte Angela sich ein.
„Ja.“, sagte Iris, „Wenn wir beide das zusammen machen würden, das fände ich auch super, aber ich glaube, Lydia passt das überhaupt nicht.“
„Also es geht hier ja nicht um Lydias Wünsche oder ihre zarte, verwundbare Seele, sondern um den Fortbestand der Jugendarbeit in unserer Gemeinde. Da hab' ich auch noch ein Wörtchen mitzureden. Ich regle das mit Lydia und melde mich dann wieder bei euch. Einverstanden?“
Die Mädchen nickten begeistert, verabschiedeten sich und radelten beschwingt nach Hause.

VORHANG – ZWEITER AUFZUG – DU BIST DRAN!

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Freitag, 3. Februar 2017
Rumpelstilzchen – zweiteiliger Kurzkrimi – Teil II
Fassungslos hielt Stihl den Locher in der Hand, die Gedanken in seinem Kopf schlugen Purzelbäume. Was hatte er getan? Auch wenn sie ihn jetzt nicht mehr verraten konnte, vielleicht hatte sie bereits jemanden eingeweiht und dann würde ihm niemand glauben, dass er nicht in Tötungsabsicht gehandelt hatte. Die Tür ging auf. Tanja Heitbrink kam immer einfach herein, ohne anzuklopfen, eine Unart, die er ihr einfach nicht abgewöhnen konnte. „Was ist denn hier passiert?“, rief sie entsetzt. Stihl blieb stumm. Was sollte er auch antworten. Frau Heitbrink verfiel augenblicklich in Aktionismus: „Haben Sie schon einen Rettungswagen gerufen?“
Stihl schüttelte stumm mit dem Kopf. Wozu auch. Da war ja nichts mehr zu retten. Tanja Heitbrink griff zum Telefon. „Wir brauchen einen Krankenwagen im Kreiskirchenamt, gleich neben der Martinikirche. Wir haben hier eine bewusstlose Person, offensichtlich gestürzt, sie hat eine blutende Wunde am Kopf.“ Sie beantwortete noch ein paar Fragen, dann legte sie auf und bettete die Verletzte in der stabilen Seitenlage, nachdem sie ihre Atmung überprüft hatte.
„Was tun Sie da?“, fragte Stihl verwirrt?
„Ich leiste erste Hilfe.“, erwiderte Heitbrink ruhig.
„Wozu dass denn? Sie ist doch tot.“
„Nein, sie atmet noch. Sagen Sie mal, wie ist das überhaupt passiert?“
„Sie ist plötzlich auf mich losgegangen. Da habe ich das erstbeste genommen, was gerade herumstand, das war der Locher und mit dem habe ich ihr eins übergezogen. Sie ist also noch am Leben?“
„Ja. Offensichtlich. Aber warum ist sie auf sie losgegangen?“
„Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Sie war offenbar verwirrt oder desorientiert. Sie war völlig außer sich, wegen irgendeines angeblichen Fehlers in der Zeiterfassung, aber ich schätze das war nur ein Vorwand. Sie muss sich in irgendeinem Wahn befunden haben und mich für ihren Erzfeind gehalten haben, so wie sie auf mich zustürmte. Ich habe einfach nur in Notwehr gehandelt, ich fühlte mich bedroht, ich habe nicht über die Folgen nachgedacht.“
Diese Version erzählte Stihl auch der Polizei, die ihn bat, die Stadt bis auf Weiteres nicht zu verlassen, man müsse die Aussage der Verletzten abwarten, die ja sicher in der nächsten Zeit wieder zu Bewusstsein käme.

Berit kam auch wieder zu Bewusstsein. Bereits am nächsten Tag. Allerdings konnte sie sich an nichts erinnern. Amnesie lautete die Diagnose, ob vorübergehend oder endgültig konnte niemand sagen.

Zurück in den vertrauten vier Wänden begann das Leben, sich wieder normal anzufühlen. Wenn nur dieses Loch in ihrer Erinnerung nicht gewesen wäre. Sicher, Stihl war ein großes Arschloch vor dem Herrn, sie hatten ihn nicht ohne Grund „Rumpelstilzchen“ getauft, aber warum behauptete er, sie sei auf ihn losgegangen? Hatte sie das wirklich getan? Und welchen Grund hätte sie gehabt? Oder wenn er sich das nur als Ausrede ausgedacht hatte, welchen Grund könnte Stihl haben, sie aus dem Weg räumen zu wollen? Was hatte sie an jenem Vormittag in seinem Büro gewollt?

Das Loch blieb vorerst. Bald war Berit von ihren Verletzungen vollständig genesen und wurde in den Arbeitsprozess wieder eingegliedert. Nach der ersten Woche, in der sie endlich ganz normal gearbeitet hatte, kam es zu einem schon häufig erlebten Ärgernis: Ein Antrag auf nachträgliche Genehmigung außerhäusiger Arbeitsleistungen wurde vom System automatisch storniert. Sie musste den Antrag wiederholen. Eine Erinnerung blitzte plötzlich auf: Ärger mit der Zeiterfassung – Antrag nicht genehmigt – Stihl auf die Füße treten. Dann war da wieder nur das Loch.
Drei Tage später hatte sie etwas im Kreiskirchenamt zu erledigen. Beim Blick in den Flur, der zu Stihls Büro führte, tauchten Bilder des besagten Vormittages in ihr auf: Sie in einer verbalen Auseinandersetzung mit Stihl, Zeiterfassung und etwas, das sie gegen ihn in der Hand hatte. Aber was war das gewesen? Sie kam nicht drauf.
Erst 10 Tage später, als André erwähnte, dass auf der Webseite des Kirchenkreises jede Menge Fehlinformationen ständen, zog sich plötzlich ein Kribbeln vom Hinterkopf durch den Rücken bis in die Fingerspitzen. Natürlich, es hatte etwas mit dem Internetauftritt zu tun. Als sie wieder im Büro saß, öffnete sie die Seite. Es wimmelte von falschen Angaben, aber irgendetwas hatte sich verändert. Das Design war vollkommen anders als vor ihrem Krankenhausaufenthalt. Hatte der Kirchenkreis den Betreiber gewechselt? Natürlich, jetzt erinnerte sie sich wieder. Die Seite wurde von Rumpelstilzchens Frau betreut, sie scrollte und klickte sich zum Impressum und siehe da, die Firma war eine andere. Sie machte sich auf die Suche und stellte fest, dass Logo und Firmennamen sich verändert hatten. Nach akribischer Recherche gelangte sie an eine Telefonnummer. Sie rief dort an und nach wenigen Augenblicken meldete sich eine Frau: „Webdesign Blueprint, Stihl. Was kann ich für Sie tun?“
„Oh, Entschuldigung, da habe ich mich wohl verwählt.“, erwiderte Berit und legte auf. Entweder hatte Stihls Frau ihrer Firma nur einen neuen Namen verpasst oder offiziell an eine Scheinfirma verkauft, deren offizielle Eigentümerin ihre Partnerin bzw. ihr Partner war.
Am nächsten Morgen rief Berit die Lokalredaktion der örtlichen Tageszeitung an und erklärte ihnen, über welch publikumswirksamen Skandal sie berichten könnten. Doch der Lokalredakteur winkte ab. „Für die kleinen Kabbeleien, die Sie sich in ihrem Tendenzbetrieb liefern, interessiert sich niemand mehr. Ihnen ist offenbar nicht bewusst, dass die gesellschaftliche Relevanz der Kirche mittlerweile gegen Null tendiert.“
Berit war fassungslos. Hielten die sich für die Süddeutsche? Oder für die FAZ? Sie berichteten über jeden Karnickelzüchterverein und das hier war ihnen zu langweilig? Sie ging weitere 24 Stunden mit dieser Erfahrung schwanger, bis sie schließlich eine Mail an das politische Magazin „Desktop“ schrieb, die einmal im Monat einschlägige Berichte im Fernsehen ablieferten, wenn auch nicht gerade zur besten Sendezeit. Wenige Tage darauf erhielt sie einen Anruf, beantwortete viele Fragen und bekam die Auskunft, man werde sich darum kümmern. Doch dann ließen auch diese Menschen nichts mehr von sich hören.
Berit hatte noch Resturlaub, der dringend genommen werden wollte. Sie musste unbedingt raus aus diesem Sumpf und buchte einen Last-Minute-Flug in die Karibik. So etwas hatte sie noch nie getan, sie fand es überflüssig, dekadent und ökologisch wenig vertretbar. Aber zum ersten Mal in ihrem Leben war ihr das alles egal. Einmal im Leben, fand sie, hat man auch das Recht, etwas moralisch Verwerfliches zu tun, weil man es braucht. Zwei Wochen Sonne, Wellen, weißer Sand und Cocktails bei Sonnenuntergang erinnerten sie an die Frau, die sie einmal gewesen war, bevor sie in ihrem Job immer mehr zu einer verbitterten Meckerziege degeneriert war. Als sie zurückkehrte, sah sie aus, wie ein vollkommen neuer Mensch.
Doch es nützte nichts. Sie musste zurück in die Arbeitswelt. Als sie am Montag Morgen beim Frühstück die Zeitung aufschlug, las sie folgende Pressenotiz:

Mitarbeiter wegen Korruptionsvorwurf entlassen
Weil ein Verwaltungsangestellter in leitender Funktion im Kirchenkreis Minden die völlig überteuerte Webseitenbetreuung seiner Ehefrau zuschanzte, ist er fristlos entlassen worden. Das Ehepaar hatte noch versucht, den Handel zu vertuschen. Nachdem eine Fachkraft, die nicht genannt werden wollte, den Angestellten darauf hingewiesen hatte, dass hier ein Rechtsbruch vorliege, hatten die Ehefrau und deren Miteigentümer die Firma offiziell an einen anderen Eigentümer verkauft. Mit neuem Namen und Logo machten sie so weiter wie bisher. Das Magazin „Desktop“ deckte den Skandal auf und zwang damit den Kirchenkreis dem Mitarbeiter die Kündigung auszusprechen. Der Superintendent des Kirchenkreises, Pfarrrer Henning Volkening zeigte sich betroffen und erklärte, der Zusammenhang sei ihm nicht aufgefallen.“

„Verlogene Ratte.“, zischte Berit. „Dich lasse ich auch noch über die Klinge springen.Gepriesen sei die Suchmaschine.“
Voller Vorfreude ließ sie den Rechner hochfahren. Irgendeine Ungereimtheit würde sich schon finden lassen. Wer Rumpelstilzchen besiegt hatte, wurde auch mit Saruman fertig.
ENDE

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Freitag, 27. Januar 2017
Rumpelstilzchen – zweiteiliger Kurzkrimi – Teil I
„Jetzt soll ich also Stroh zu Gold spinnen!“, fluchte Berit und fuhr sich mit den Fingern durch die streichholzkurzen Haare. Der Tagesbetrieb im Jugendzentrum war mehr als auslastend, sie schob jetzt schon 120 Mehrstunden vor sich her und hatte genug zu tun mit Öffnungszeiten von 14.00 – 20.00 Uhr, Verwaltungstätigkeiten, Dienstbesprechungen und Einkäufen. Jetzt sollte also ab 13.00 Uhr täglich ein Mittagstisch für die „bedürftigen“ Kinder der angrenzenden Haupt- und Realschule angeboten werden, weil ja sonst niemand etwas unternehme...I n Wirklichkeit war dies für den Superintendenten eine willkommene Gelegenheit, sich in der Öffentlichkeit als pragmatischer und effektiver Wohltäter zu präsentieren. Die Arbeit durften diejenigen machen, deren Namen nicht genannt wurden, aber so war es ja immer.

Täglicher Arbeitsantritt 12.45 Uhr. Feierabend gegen 20.15 Uhr. Ganz nebenbei bemerkte Berit beim Blick auf ihr Zeitkonto, dass die elektronische Zeiterfassung ihr automatisch eine halbe Stunde Pause abgezogen hatte. Sie hatte aber keine Pause machen können in dem Gewusel. „Verdammt!“, dachte sie. „Das lass ich mir nicht gefallen, obwohl ich wirklich keine Lust habe, mit Rumpelstilzchen zu telefonieren!“
Die elektronische Zeiterfassung war der größte Schwachsinn, den die kreiskirchliche Verwaltung sich hatte einfallen lassen. Das Programm hatte ein Vermögen gekostet, musste weiterhin personal- und finanzaufwändig betreut werden und funktionierte nicht. Das Einloggen dauerte mehrere Minuten und ständig entstanden Fehlbuchungen. Entweder stimmte etwas mit dem Programm nicht oder die Menschen, die das Programm betreuten, machten etwas falsch. An manchen Tagen streikte der zentrale Server und niemand konnte sich einloggen. Es war ein entsetzliches Ärgernis und dabei so überflüssig wie ein Furunkel. Eine Excel-Tabelle hätte es auch getan.

Berit rief bei der Bereichsleitung an. „Evangelischer Kirchenkreis Minden, Bereichsleitung Kinder, Jugend und Friedhof, Stihl, was kann ich für Sie tun?“
„Ja, guten Tag Herr Stihl, hier spricht Berit Würselmeyer. Mir ist bei meinem Zeiterfassungskalender aufgefallen, dass mir eine Pause abgezogen wurde, die ich nicht gemacht habe.“
„Da haben Sie sich wohl mehr als sechs Stunden eingeloggt.“, antwortete die Bereichsleitung stoisch.“
„Ja selbstverständlich. Ich bin ja auch seit neuestem täglich von 12.45 Uhr bis 20.15 Uhr in der Einrichtung. Seit ich den Mittagstisch anbieten muss, geht das ja nicht anders.“
„Aber Sie machen doch sicher mal eine Pause.“
„Wann denn?“
„Irgendwann werden sie doch mal verschnaufen, mit ein paar Jugendlichen nett quatschen und Tee trinken und dabei können Sie Ihr Butterbrot essen. Und jetzt kommen Sie mir nicht mit einem fehlenden Pausenraum. Sie sind in Ihrem Job dermaßen privilegiert, da müssen sie wegen einer solchen Nebensächlichkeit keine Welle machen.“

Das war ja wieder typisch. Berit hätte die Mitarbeitendenvertretung einschalten können, aber die rührten sich nicht. „Aus Minden, sollst du verschwinden.“, murmelte die Sozialarbeiterin, denn sie hatte den Eindruck, dass sich in dieser sterbenden Stadt außer ihr niemand mehr bei irgendetwas richtig Mühe gab. Eine Woche später erreichte sie fogende Mail von Herrn Stihl:
Hallo Frau Würselmeier,
nach der Kändigung von Frau Krebs brauhen wir eine neue vertrietung in der kommunalen Arbeitsgruppe für Mädchenarbeit. Die tagen fvierzehntägig Donnerstags um 9.30 Uhr in der Videbullenstraße 18. Nächste Woche ist es wieder so weir. Überhnemen Sie bitee diese Aufgabe.
Mfg, Stihl

Es war unfassbar. Nicht nur dass diese offizielle Mail, die immerhin eine Dienstanweisung darstellte, vor Flüchtigkeits- und Rechtschreibfehlern überlief, sie wurde einfach in Kenntnis gesetzt, statt im Gesamtteam zu erörtern, wer diese Aufgabe sinnvollerweise übernehmen könnte. Aber Berit hatte keine Kraft mehr, um sich zu wehren. Sie würde auch dieses Kreuz auf sich nehmen und irgendwann einfach vier Wochen zu Hause bleiben, dann könnten sie sie alle mal.

Eigentlich wollte Berit am Wochenende nicht s von der Arbeit wissen, doch dann scrollte sie dennoch durch die Webseite des Kirchenkreises, um nachzusehen, ob schon ein Bericht über den neuen Mittagstisch hochgeladen worden war. Bisher gab es nur eine kurze Notiz, aber sie stellte fest, dass Ihr Nachame genau wie in Stihls Mail falsch geschrieben war und ihr Vorname statt Berit mit Britta angegeben war. Sie schickte Rumpelstilzchen eine Nachricht mit der Bitte, dies schleunigst ändern zu lassen.

Als sie in der folgenden Woche am Freitag Morgen ihr Zeitkonto kontrollierte, bemerkte sie, dass ihr Antrag auf Arbeitszeit außer Haus nicht genehmigt worden war. „Geht's noch?!“, rief sie. „Erst gibt er mir den Auftrag persönlich und dann soll das nicht als Arbeitszeit angerechnet werden? Ich glaube mein Schwein pfeift! Ich knöpfe mir die Ratte Montag morgen persönlich vor!“

Bevor sie am Montag das Kreiskirchenamt aufsuchte, ging sie ins Büro, um zu kontrollieren, ob der Antrag schließlich doch genehmigt worden war. Das war er nicht, allerdings war eine Rechnung eingetroffen, eine Rechnung über 80,- € für zwei Änderungen im Eintrag der kreiskirchlichen Webseite. Das war unfassbar, dass der Kirchenkreis Minden nicht wie alle anderen das kostenlose Webseiten-System der Landeskirche nutzte, sondern mit der Begründung eines gefälligeren und benutzerfreundlicheren Auftritts ein Privatunternehmen beauftragt hatte. Als ihr Blick auf das Firmenlogo fiel, stockte ihr der Atem: RHS – Rüter und Hoffmann-Stihl. So häufig gab es diesen Namen nicht. Sie kontrollierte die Einträge im örtlichen Telefonbuch: Stihl, Hartmut und Hoffmann-Stihl Kirsten. Jetzt hatte sie ihn an den Eiern! Rumpelstilzchen hatte seiner Ehefrau die Webseitenbetreung zugeschanzt und den versammelten Schnarchnasen in Synode und Verwaltung war natürlich nichts aufgefallen oder sie waren bereit diese korrupte Grenzüberschreitung still zu dulden.
Mit durchgedrücktem Rücken und angriffslustiger Miene betrat Berit Rumpelstilzchens Büro.
„Guten Morgen Herr Stihl!“, begrüßte sie ihn übertrieben fröhlich. „Wir haben da ein Problem. Sie haben mir schriftlich einen Arbeitsauftrag außerhalb der Einrichtung erteilt, ich bin dem nachgekommen und dann haben Sie meinem Antrag auf Erfassung der dadurch entstandenen Dienstzeit nicht genehmigt. Können Sie mir das erklären?“
„Ach, da bin ich wahrscheinlich noch nicht zu gekommen.“, erwiderte der drahtige kleine Mann mit der großen Nase und dem schmallippigen, breiten Mund.
„Der Antrag wurde storniert!“, erklärte Berit wütend.
„Dann haben Sie sich wohl verklickt.“
„Wenn sich hier jemand verklickt hat, dann waren Sie das wohl, Herr Stihl. Wenn Sie also so gut wären, für Donnerstag Vormittag die Dienstzeit von 09.15 Uhr bis 11.45 Uhr nachzutragen.“
„Aber die Sitzung beginnt doch immer erst um 09.30 Uhr.“
Berits Augen sprühten Funken, als sie konterte: „Jetzt kommen Sie mir nicht so! Ich muss ja schließlich auch noch dort hin, das ist ein Dienstweg. Das müssen Sie mir schon zugestehen.“
„Also Sie vergreifen sich hier ganz deutlich im Ton, junge Frau!“, erwiderte Rumpelstilzchen, „Und ich muss Ihnen gar nichts zugestehen. Stellen Sie den Antrag noch einmal, wenn Sie das Protokoll vorliegen haben, damit ich kontrollieren kann, ob Sie überhaupt anwesend waren.“
Berit atmete tief durch, schwieg einen Moment lang bedeutungsvoll, bevor sie betont ruhig das Thema wechselte: „Soll ich vielleicht mal einen Brief an die Synode schreiben, wer hier die überteuerte Webseite betreut?“
„Was soll das denn jetzt?“
„Ich glaube nicht, dass es unproblematisch ist, wenn ein Mitarbeiter des Kirchenkreises einen lukrativen Auftrag seiner Ehefrau zuschanzt, vermutlich ist es den Synodalen noch gar nicht aufgefallen.“
„Blödsinn.“, fauchte Stihl, „Das hat alles seine Ordnung.“
„Und wie sich erst die Lokalpresse dafür interessieren wird.“, fuhr Berit unbeirrt und mit einem süffisanten Lächeln fort.
„Jetzt ist es aber genug!“
Hartmut Stihl sprang von seinem Stuhl auf und kam mit rot angelaufenem Gesicht auf Berit zu.
„Ich glaube, ich wende mich einfach direkt an den Sup.“, sagte Berit ruhig und wandte sich zum Gehen. Darum sah sie nicht, wie Stihl nach dem großen Locher griff, statt dessen spürte sie einen dumpfen Schmerz, dann nichts mehr.
FORTSETZUNG FOLGT NÄCHSTE WOCHE

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Freitag, 20. Januar 2017
Kabarett
SONNTAG MORGEN
„Was für eine absurde Art zu sterben.“, raunte Kriminalhauptkommissar Keller seiner jungen Kollegin Kerkenbrock zu. Die schwieg betroffen, denn sie hätte es pietätlos gefunden, etwas dazu zu sagen, obwohl sie ihrem Vorgesetzten in Gedanken Recht gab. Erschlagen von einem Stapel evangelischer Gesangbücher unterhalb der Empore, so ein Zufall musste einen erst einmal erwischen. Darum wurde ja auch gründlich untersucht, ob es sich hier um einen echten oder einen vorgetäuschten Unfall handelte.
„Ich bin mir noch nicht sicher, ob der Genickbruch oder ein Schädel-Hirn-Trauma zum Exitus geführt hat.“, erklärte die Gerichtsmedizinerin. Es ist aber sicher, dass sie nicht mit dem Stapel in den Händen gefallen ist. Die Gesangbücher sind von oben auf sie herabgestürzt – oder geworfen worden.“
„Was wohl die rote Schleife zu bedeuten hat?“, fragte Kerkenbrock irritiert. An der Leiche befand sich ein langes, rotes Schleifenband, das seltsam um den Körper drapiert wirkte.
„Sieht aus wie eine Inszenierung.“, überlegte Keller. „Vielleicht wollte ihr jemand den Tod zum Geschenk machen.“
„Oder jemand anderem ihren Tod zum Geschenk machen.“, meinte Kerkenbrock.
„Oder so.“, erwiderte Keller.

AM ABEND ZUVOR
- Meine Güte war das peinlich. Ob es wohl jemand bemerkt hat? Bestimmt hat es jemand gemerkt. War ja nicht zu übersehen, dass ich rot geworden bin. Edith hat sich auch zu mir umgedreht, diese Schlange, wollte wohl sehen, wie ihr Werk seine Wirkung tut. Das ist so ungerecht. Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Wenn ich mit Pastor Jensen ein Verhältnis gehabt hätte, ja das wäre vielleicht ein Grund gewesen, mich an den Pranger zu stellen. Oder wenn ich ihm nachgestellt hätte, obwohl er nicht interessiert war, das wäre vielleicht ein Anlass gewesen, sich über mich lustig zu machen. Aber ich habe ihn einfach still geliebt. Ich liebe ihn immer noch. Und vielleicht liebt er mich auch. So etwas Zartes und Zerbrechliches gehört ins Verborgene, in die Dunkelheit und dieses durchtriebene Weib zerrt es einfach ans Licht. Warum war ich nur so dumm, auf ihren Trick hereinzufallen? Nachdem sie mir die Liebesgeschichte mit ihrem Mann bis ins kleinste Detail geschildert hatte, war ich so weit, mich zu öffnen. Niemandem sonst habe ich jemals davon erzählt. Ich bin Lydia, die ungeliebte B-Musikerin, die Zweitligistin unter den Kantorinnen, die graue Kirchenmaus, das Gestell im Rollkragen, das immer übersehen wird und niemanden interessiert. Keiner sieht, welches Feuer in mir brennt, welche Leidenschaft und ich war so dumm, es ausgerechnet Edith zu erzählen. Und jetzt hat sie die Kabarettistin geimpft. Die Kabarettistin ist ja keine Hellseherin, den Tipp muss ihr jemand gegeben haben. Wie soll ich diese Worte vergessen: „Und die unverheirateten Kantorinnen, die blassen Mäuschen, die immer im Rollkragenpullover herumlaufen und nur laut werden, wenn sie einen Choral anstimmen, die sind doch immer dem Herrn Pfarrer verfallen, bei den Katholiken genauso wie bei den Evangelen. Die Katholischen dürfen nicht, weil sie sie sich grundsätzlich nicht paaren dürfen, die Evangelischen dürfen nicht, weil sie schon verheiratet sind und sich vor Antritt ihrer ersten Stelle schon in geradezu unanständiger Weise fortgepflanzt haben. Verheiratete Familienväter sind auch in der Evangelischen Kirche tabu für die einsamen Herzen. Ich glaube ja, die Kirchenmusikerinnen sind verkappte Nonnen, so hochgeschlossen und ungeschminkt, wie die immer rumlaufen. Die fangen nie was mit dem Herrn Pastor an, die beten den nur an, so wie die Bräute Christi ihren Herrn Jesus. Also, liebe Gemeinde, kein Anlass zur Sorge, da passiert schon nichts, sehen sie ihr ihre Leidenschaften nach.“
Und jetzt wissen alle Bescheid. Wie soll ich denn damit weiterleben? Und was mich am meisten wurmt: wenn ich jetzt Schluss mache, wird Edith erst recht allen brühwarm erzählen, dass Pastor Jensen meine große, heimliche Liebe war und an meinem Grab werden sich alle die Mäuler zerreißen, mitleidig lächeln oder dreckig lachen und mich verachten. Dabei habe ich alles richtig gemacht und im Gegenzug hat das Leben mich nie entschädigt. Edith hatte eine erfüllte Partnerschaft, für mich hat sich nie jemand interessiert. Wenn ich schon gehe, dann nehme ich sie mit.
Was haben wir denn da? Ediths schöne rote Deko-Schleifen? Mein Gott, kein Gemeindefest, kein Mitarbeitertreffen, keine Goldkonfirmation wo sie einem nicht ihre unübertroffenen Edelbaumwollschleifen aus dem Luxusdekorationsgeschäft aufdrängt, damit auch jeder sofort weiß: Die vorliegende Dekoration wird Ihnen präsentiert von Edith Winter, der Leiterin des Abendkreises und Schirmherrin des Gemeindefrühstücks. Warte mal, auf der Damast-Decke lag doch eine ganz lange. Wenn ich die auf die Brüstung lege und darauf einen großen Stapel Gesangbücher und dann daran ziehe, dann fallen die Gesangbücher auf mich herab und die Schleife gleich mit und dann wird jeder sofort denken, dass Edith etwas mit meinem Tod zu tun hat. –
Lydia nahm die Schleife mit auf die Empore. Sie nahm einen großen Stapel Gesangbücher aus dem Regal und legte ihn auf den Rand des Geländers. Sie legte ein Ende der Schleife über das Holz und hob dann den Stapel darauf. Sie schob ihn möglichst weit an den Rand, so dass er gerade noch stehen konnte. Dann ging sie wieder hinunter. Die rote Schleife hing vor ihr wie ein Galgenstrick.
- Das war es dann wohl. Zeit, Abschied zu nehmen. Vielleicht wird wenigstens Pastor Jensen um mich weinen. Vielleicht gibt es ja doch Seelenwanderung und wir treffen uns im nächsten Leben wieder und werden da glücklich. Wenn ich nur Edith nicht wiedertreffe, von der habe ich endgültig genug. -
Sie stellte sich direkt unter die Schleife. Sie zog einmal kräftig daran. Ein kurzer Schmerz, dann wurde es Nacht.

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