Freitag, 28. Oktober 2016
Sozialmafia, abgeschlossener Kurzkrimi
Für den Abgestürzten kam jede Hilfe zu spät. Um ihn herum hatte sich das Pflaster von seinem Blut dunkelrot gefärbt und sein Körper war ein einziger Trümmerhaufen aus aufgeplatzter Haut und offenen Brüchen. Es war unvorstellbar, dass er die ganze Nacht so dagelegen hatte, unterhalb des Kirchturms, an dem normalerweise auch nachts Passanten vorbei kamen. Vermutlich hatten sie ihn für eine Schnapsleiche gehalten und waren achtlos an ihm vorbeigegangen, wie der Priester und der Levit im Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Wie stürzte jemand einfach so vom Kirchturm? Dem konnte doch nur ein Suizid zugrunde liegen, ein Unfall war es sicher nicht. Als der Pfarrer sich endlich wieder gefasst hatte, überlegte er, welche Motive der Verstorbene gehabt haben könnte. „Vielleicht war er unheilbar krank oder er hatte eine Ehekrise, aber davon weiß ich nichts. Es gab auch wieder Probleme mit der Finanzierung seiner Arbeit, aber das hat er schon viele Male erlebt. Ich glaube nicht, dass er darum so verzweifelt gehandelt hätte.“

EIN TAG ZUVOR
„Komm mal mit auf den Kirchturm, Peter, ich will dir was zeigen.“
„Hör mal, Jan, ich habe noch einiges zu erledigen heute Abend und irgendwann will ich auch mal nach Hause. Sag einfach, was du zu sagen hast.“
„Ach komm, so viel Zeit muss sein, vielleicht ist das ja die letzte Gelegenheit, denn wer weiß, wo ich demnächst unterkomme.“
„Jetzt sei doch nicht so pessimistisch. Aber damit du endlich Ruhe gibst, meinetwegen. Dann spar ich mir nachher den Stepper..“
Sie stiegen die 84 Stufen hoch bis zu der offenen Plattform.
„Tolle Aussicht.“, nuschelte Peter ironisch.
„Ja, genau.“, erwiderte Jan. „Genau das wollte ich Dir zeigen. In eurem Inner Circle macht ihr euch vielleicht gern über das dämliche Christenpack lustig, aber am Ende sind wir es, die die Dinge viel mehr überblicken, als euch lieb ist.“
„Jetzt hör auf, mich mit deinen neutestamentlichen Metaphern zu nerven. Sag, was du sagen willst oder lass uns sofort wieder runter gehen. Dieses Kaff sieht nicht mal von oben toll aus.“
„Ich weiß, was ihr getan habt, Peter.“
„Was soll das heißen?“
„Das soll heißen, dass ich auch meine Maulwürfe in eurem JAGOT-Kungelverein habe. Ich weiß Bescheid, dass die sogenannte Jugendpolitische Arbeits-Gemeinschaft der Offenen Türen nur noch Theater ist und ihr die Mehrheit der Mitglieder im Vorfeld auf eine Strategie eingeschworen habt, uns raus zu kegeln. Wenn das raus kommt, Peter, und ich verspreche dir, das wird rauskommen, bist du ein für alle mal erledigt. Die werden dich nicht nur als Bezirksjugendpfleger an die Luft setzten, du kriegst überhaupt keinen Job mehr, nirgendwo.“
„Es wird aber nichts rauskommen.“, sagte Peter eiskalt, „weil es gar nichts gibt, was rauskommen könnte. - Und erst recht niemanden, aus dem es rauskommen könnte.“ Peter packte Jan blitzschnell am Kniegelenk und schleuderte ihn über die Brüstung. Als er zuerst den Schrei und dann das Aufschlagen des Körpers auf dem Pflaster hörte, verzog er angestrengt das Gesicht. Was hatte er getan? Wie kam er heil aus der Sache heraus? Er schrie verzweifelt: „Jan! Nein!“, um zu suggerieren, dass er von Jans Suzid überrascht worden war. Als er von oben die Straßen entlang blickte, sah er nirgendwo eine Menschenseele. Die waren wohl alle beim Stadtfest. Niemand wusste, dass er mit Jan auf dem Turm gewesen war. Und wenn es doch ans Licht käme, könnte er noch immer behaupten, er habe unter Schock gestanden und mit einer Aussage sowieso nichts mehr an dem Unglück ändern können.

DREI TAGE ZUVOR
„Wir müssen da noch einmal drüber reden, Peter. Du sitzt da an deinem Schreibtisch und kriegst überhaupt nicht mehr mit, was in den Stadtteilen abgeht. Ich habe dich hier, glaube ich, das letzte Mal vor drei Jahren gesehen. Komm hier mal Mittags vorbei und sieh dir den Laden an, bevor du so weitreichende Entscheidungen triffst.“
„Die Entscheidung habe doch nicht ich getroffen.“, verteidigte sich Peter. „Das war die JAGOT. Pass mal auf. Ich habe jetzt echt keine Zeit. Ich denke, übermorgen lässt sich da was einrichten, so gegen sieben. Mittags geht’s wirklich nicht.“
„Du hast Angst vor der Zielgruppe.“
„Das ist doch Quatsch!“
„Klar, warum sonst hast du dir so einen Behörden-Sesselpupser-Job gesucht, statt an der Basis zu kämpfen, wie du es mal gelernt hast?“
„Jan, ich beende das jetzt. Ich komme übermorgen gegen sieben. Wenn du da bist, bist du da, wenn nicht, dann eben nicht.“
Peter legte auf. „Verdammte Flachpfeife.“, zischte er. „Kriegt selber nichts gebacken und krepelt als Opa noch im Jugendzentrum rum und macht mir zum Vorwurf, dass ich nicht genauso ein Versager bin wie er.“

FÜNF TAGE ZUVOR
„Kommen wir jetzt zu TOP sechs.“, erklärte Peter, der als Bezirksjugendpfleger durch die Sitzung der JAGOT führte. „Es gab da noch einige Änderungen bei den Richtlinien für die Förderungsvoraussetzungen der offenen Türen. Kannst du das mal für alle zusammenfassen, Axel?“
Axel von den Falken brachte es auf den Punkt: „Also vor allem wollen wir endlich glattziehen, dass die Aufgabenbereiche des Offenen Ganztags und die der Jugendzentren deutlich voneinander abgegrenzt sind. Wir arbeiten bedarfsorientiert und müssen unserer Zielgruppe Öffnungszeiten im Bereich des späten Nachmittags, des Abends und an den Wochenenden bieten.“
Jan von der Evangelischen Jugend meldete sich zu Wort: „Ihr wisst doch alle, dass in unseren drei Jugendzentren ein Großteil der Besucher aufgrund des Mittagstisches und der Hausaufgabenhilfe zu uns kommt.“
„Das sind nicht die Kernaufgaben der Häuser der offenen Türen.“, konstatierte Esther von der Arbeiterwohlfahrt. „Dafür ist die OGS zuständig.“
„Die es ja in eurer Trägerschaft nur höchst unzureichend auf die Reihe kriegt.“, polemisierte Jan. „Ihr seid doch nur unruhig wegen unserer hohen Besucherzahlen, von denen ihr alle nur träumen könnt. Also werden sich schnell mal ein paar Kriterien zurecht gelegt, damit das Erfolgsmodell Mittagstisch als Methode der Einrichtungsbindung nicht mehr greift und man unsere Besucherzahlen kleinrechnen kann.“
„Keiner will euch kleinrechnen.“, beschwichtigte Peter den Leiter des Evangelischen Jugendzentrums. „Wir haben das in der Redaktionsgruppe nur inhaltlich diskutiert und hier wird es ja erst abgestimmt. Niemand verbietet euch, weiterhin euren Mittagstisch und eure Hausaufgabenhilfe anzubieten, es gehört nur nicht zu euren Kernaufgaben.“
„Ja, schön, aber wie sollen wir das bei unserem begrenzten Personalstamm hinbekommen, wenn wir plötzlich weiter in den Abend und am Wochenende Öffnungszeiten vorhalten müssen?“
„Es gibt doch Honorarkräfte.“
„Die Kräfte schon.“, antwortete Jan. „Nur bekommen wir leider nicht die Mittel, um diese Kräfte zu bezahlen.“
Die Diskussion drehte sich im Kreis und schließlich wurde sie von Peter beendet und abgestimmt. Mit neun Stimmen dafür und drei Gegenstimmen von den Vertretern der Evangelischen Jugend wurden die Änderungsvorschläge verabschiedet.
Als die Versammlung sich auflöste und Jan frustriert und verärgert sein Auto aufschloss, stand plötzlich Andi Bosse vom Verein „Klau's und Bring's“ neben ihm, der das autonome Jugendzentrum „Klaus Störtebeker“ vertrat. Er raunte: „Ich muss dir was erzählen, aber versprich mir, dass du keinem verrätst, von wem du es weißt.“

16 TAGE ZUVOR
Der Bezirksjugendpfleger Peter, die AWO-Managerin Esther und Falken-Geschäftsführer Axel, saßen im Jugendamt vor ihren Kaffeebechern und grinsten.
„Ich finde, das ist eine richtig gute Lösung.“, meinte Esther. „Die Argumente sind sachlich und wenn die Scheiß Evangelen ihre Suppenküchen-Sozialarbeit nicht mehr finanziert kriegen, gehen da auch keine Jugendlichen mehr hin und wir haben endlich die richtigen Argumente, diese religiösen Kaderschmieden ein für alle mal dicht zu machen.“
„Ja, so schlimm sind die nun auch wieder nicht.“, hielt Axel dagegen. „Ich bin ja auch eher religiös unmusikalisch, aber mein Sohn war vom Konfi-Camp ganz begeistert und die haben es nicht geschafft ihn zu indoktrinieren. Hörte sich auch nicht so an, als ob sie es versucht hätten. Aber die Kohle ist knapp und es hat wenig Sinn, überall nach dem Rasenmäherprinzip zu kürzen, da muss man Prioritäten setzen. Der öffentliche Träger schützt seine städtischen Mitarbeiter sowieso. Einem autonomen Jugendzentrum die Kohle zu kürzen fände ich politisch absolut nicht vertretbar, eine SPD-Kommune ohne Falken ist wie DGB ohne Gewerkschaftsjugend, die Sportjugend zu schröpfen wäre politischer Selbstmord und vom KuJU halte ich definitiv mehr als von den alten Häusern der Offenen Tür, die die Kirchen sich mal irgendwann geleistet haben, als das Geld noch in Strömen floss.“
„Eben.“, pflichtete Peter ihm bei. „Darum wäre ich auch dafür, dass wir mit den übrigen freien Trägern Gespräche führen, damit sie diese Änderungen durchwinken, dann wird es eine leichte Übung, die Evangelische Jugend und eventuelle Sympathisanten zu überstimmen.“
„Wer knöpft sich wen vor?“, fragte Esther geschäftig.
„Also ich habe wohl den besten Draht zu Margit vom Kinder- und Jugend-Universum und ich glaube, Axel, du hast doch noch Kontakte zu „Klau's und Bring's“, oder?“
„Als wenn du früher nicht im Störtebeker rumgehangen hättest.“, erwiderte Axel grinsend.
„Aber du hast recht, ich kann ganz gut mit Andi Bosse.“
„Dann kümmere ich mich um die Sportjugend.“, erklärte Esther. „Haben wir noch irgendwen vergessen?“
„Nee, lass mal lieber.“, bremste Peter sie. „Die BSV ist total unberechenbar, die Julis und die Junge Union würden uns an die Gurgel gehen und wenn der Schnulli von den Jusos Verschwörungen wittert, spielt er gern den Helden, auch wenn es eigentlich in seinem Sinne wäre. Die ganzen kleinen freien Träger haben ja eh keine Jugendzentren. Wir müssen einfach die Diskussion kurz halten und alles durchwinken, bevor irgendwer Verdacht schöpft, dass wir das vorher abgekartet haben.“
Esther hob ihren Kaffeebecher: „Ex und Hopp.“, skandierte sie pathetisch und leerte den Becher in einem Zug.

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