Freitag, 30. Mai 2025
2nd Spoiler 16
1987
Etwa ein-ein-halb Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl klagte Ulrich zunehmend über Schwäche und Abgeschlagenheit. Er schob es zunächst auf den hohen Arbeitsdruck und das Älterwerden, aber als er kaum noch die Treppe hochkam, suchte er den Hausarzt auf. Nach vielen Untersuchungen bei verschiedenen Fachärzten, erhielt er die niederschmetternde Diagnose: Er war an Leukämie erkrankt. Vor Sigrid konnten es die Erwachsenen nicht lange geheim halten und sie spürte eine überschäumende Wut auf ihre Mutter, die Tschernobyl verharmlost hatte, so als hätte sie damit Ulrichs Erkrankung verursacht. Ulrich nahm den Kampf gegen den Krebs auf, das kostete seine gesamte Kraft und so mussten Renate und Hildegard nun dafür sorgen, den Betrieb des Gasthofes aufrecht zu erhalten.

Am Dienstag nach dem Mittagessen machte Sigrid sich zurecht für den Konfirmationsunterricht. Sie trug gerade Mascara auf, als ihre Mutter sie rief: „Sigrid, lauf mal eben zu Brünings und hol ein Graubrot.“
„Ich kann nicht, ich muss zum Pastor.“, erwiderte Sigrid.
„Bis dahin ist noch eine halbe Stunde Zeit. Beeil dich einfach!“
„Wegen dir bin ich jetzt abgerutscht.“, maulte der Teenager und wischte sich missmutig die Wimperntusche von der zarten Haut um die Augen. „Außerdem ist das Deine Aufgabe.“, protestierte sie.
Aufgebracht stürmte Renate ins Bad und bemühte sich, ihre Stimme nicht zu erheben, um Ulrich nicht zu beunruhigen: „Dein Vater ist krank, deine Oma und ich müssen hier den Laden zusammenhalten und du hast nichts Anderes im Kopf, als dich aufzubrezeln. Hol jetzt das Brot! Ich habe Gäste, die darauf warten. Oma macht das andere Essen fertig und ich stehe hinter der Theke. Also beweg deinen Hintern! Hier ist Geld. Und beeil dich!“
Tränen der Wut malten schwarze Bäche auf Sigrids Wangen. Mit einem Waschhandschuh rieb sie sie ab und raste dann mit dem Fahrrad zur Bäckerei, um das bestellte Brot zu holen. Wütend knallte sie es auf den Küchentisch, stürmte ins Bad, korrigierte notdürftig ihr Make-up und schaffte es gerade noch rechtzeitig zum Unterricht.

Früher hätte Ulrich ihr tröstend zur Seite gestanden und Partei für sie ergriffen, doch auch Sigrid wollte den schwer erkrankten Vater nicht über die Maßen beanspruchen, egal, ob er gerade wieder zu einer Behandlung im Krankenhaus war oder sich zu Hause davon erholte. Sie machte sich große Sorgen und fühlte sich von Renate stets ungerecht behandelt. Jede kämpfte in ihrer eigenen Arena.

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