Freitag, 11. Oktober 2024
2nd Spoiler 4
1963
Mit dem Wechsel in die siebte Klasse an die Schule in Werther wechselten auch Renates Freundschaften. Das lag nicht etwa daran, dass die Klassen auseinandergerissen worden wären – es gingen ja alle Zwölfjährigen nach Werther – sondern daran, dass keine ihrer neu geschlossenen Freundschaften lange hielt. In der dritten und vierten Klasse war das noch bei allen so gewesen. In diesem Alter wurde viel ausprobiert, man ließ sich auf alles ein, verwarf aber auch vieles und erwarb so Schritt für Schritt eine gewisse Menschenkenntnis. Irgendwann wurden aus Kindern Jugendliche mit einem Gespür dafür, wer zu ihnen passte und wer nicht, aber auch mit der Fähigkeit, das Schiff einer guten Freundschaft durch stürmische Krisen zu manövrieren. Bei Renate zeichnete sich diese Veränderung aber keineswegs ab. Gefühlt brachte sie monatlich eine neue beste Freundin mit nach Hause, mit der sie nach wenigen Wochen bereits zerstritten war. Sie waren alle sehr unterschiedlich, Hildegard erkannte keinen roten Faden, kein Konzept. Scheinbar nahm Renate einfach, was sie kriegen konnte, war aber nicht fähig, einen Menschen an sich zu binden. Wenn sie das später mit den Männern genauso machte, standen ihnen schauderhafte Zeiten bevor.
Hildegard sorgte sich sehr und suchte das Gespräch: „Warum triffst du dich eigentlich nicht mehr mit Karin?“
„Die hat keine Zeit.“
„Aber zuerst hatte sie doch mehrmals die Woche Zeit.“
„Jetzt aber nicht mehr.“
„Und warum nicht?“
„Hat sie nicht gesagt.“
„Und was ist mit Dagmar?“
„Die trifft sich jetzt immer mit Almut und Monika. Die machen dann so Schmink-Nachmittage oder fahren nach Spenge ins Kino.“
„Und das ist nichts für dich?“
„Weiß nicht. Die fragen mich ja nicht, ob ich mitmachen will.“
„Und Hanna?“
„Die ist doof.“
„Warum?“
„Die macht immer so Witze, die keiner versteht und dann lacht sie total irre.“
„Aber die Susanne war doch nett. Warum triffst du dich denn gar nicht mehr mit der?“
„Die geht doch mit Petra zum Klavierunterricht und zum Reiten. Die machen jetzt alles zusammen. Da kommt keiner mehr zwischen.“
Hildegard seufzte ratlos, aber sie hatte zu viel zu tun, um weitere Nachforschungen anzustellen.

Was Hildegard nicht ahnte: Ihre Tochter neigte zu großer Impulsivität. Ob sie das von Heinrich erlernt hatte oder ob es eine Folge der Anpassung aufgrund permanenter Alarmbereitschaft war, die von den unkalkulierbaren Zornentladungen ihres Vaters herrührte, konnte niemand wissen. Renates starke Emotionen gepaart mit einer natürlichen, kindlichen Offenheit verschreckten viele Freundinnen und nahmen sie gegen die Wirtstochter ein. So blieb keine Beziehung stabil und von Dauer, was Renate mit noch viel größerer Ratlosigkeit und Verzweiflung zur Kenntnis nahm als ihre besorgte Mutter, war sie doch diejenige, die von diesem Problem unmittelbar betroffen war.

Sie lernte selbst im Laufe der folgenden Jahre, sich etwas zurückzuhalten mit ihrer direkten und explosiven Art, zumindest gegenüber denjenigen, an denen ihr etwas lag

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