Donnerstag, 15. August 2024
Hätte
Er hatte großen Durst. Er konnte sich zwar frei bewegen, doch das nützte ihm gar nichts. Der Raum war stockdunkel, stickig, heiß und verschlossen. Es gab kein Bett, keinen Stuhl, gar nichts.
Vor ein paar Tagen war es ihm noch gut gegangen. Morgens Fitness im Sportraum, zum Abschluss ein paar Bahnen im kühlen Pool. Mittags auf der Dachterrasse, gebackene Scholle, frischer Spargel, Chardonnay, zum Nachtisch Erdbeeren, danach ein Nachmittag im Liegestuhl, geeistes Limettenwasser und ein Roman zum Abtauchen. Abends war er ausgegangen mit Freunden: Tapas-Bar, Taverne, Nachtclub – alles im bewachten Viertel, wo man sich sorglos bewegen konnte.

Nach einem faulen Sonntag hatte am Montag die Arbeit wieder angefangen, zahlreiche Meetings, das Geld verdiente sich nicht von allein, auch nicht, wenn einem ein Haufen davon gehörte. Im Gegenteil, es bedeutete einen ewigen Kampf, sich auf dem Markt zu behaupten und es wurde immer teurer, sich das Gesindel vom Hals zu halten. Bewegen konnte man sich nur noch in bewachten Arealen, die Sicherheitstechnik für das eigene Zuhause musstet ständig nachgerüstet werden, das verschlang Unsummen, genauso wie all der technische Aufwand, den man betreiben musste, um den Wetterlaunen etwas entgegenzusetzen, sei es nun Hitze-, Sturm-, Hochwasser- oder Frostschutz.

Und dann hatten die Sicherheitssysteme doch versagt. Sie hatten sein Auto gestoppt durch einen gefällten Mast, an dem früher einmal eine Telefonleitung gehangen hatte. Das Ding war plötzlich direkt vor ihm auf die Straße gekracht. Vor Schreck hatte er es versäumt, die Verriegelung zu aktivieren, sie waren von hinten ins Auto gestürmt, er hatte nicht die Spur einer Chance gehabt. Er erinnerte sich noch an einen stinkenden, feuchten Lappen vor seinem Gesicht, dann war es dunkel geworden. Sein Erwachen hatte daran nichts geändert, nur brennender Durst und rasende Kopfschmerzen hatten sich zu der Dunkelheit gesellt.

„Hätte ich doch ein Taxi genommen! Oder hätte ich doch das Meeting bei mir abgehalten!“, dachte er, um diese Gedanken sofort wieder zu verwerfen. Sie hatten es auf ihn abgesehen, wenn nicht heute, dann hätte es ihn in den nächsten Tagen erwischt. Niemand wollte unter einer Glasglocke leben.
Was wollten sie? Rache? Lösegeld? Betriebswirtschaftliche oder politische Entscheidungen? Auslösung politischer Gefangener? Er wusste es nicht.

Aber da war eine Erinnerung, die er nicht beiseite wischen konnte. Diese Party bei Julie, vor fünfzehn oder zwanzig Jahren, so genau wusste er das nicht mehr. Da war diese ungewöhnliche Frau, die so gesund und durchtrainiert war. Schlicht gekleidet, ungeschminkt und dennoch hatte sie gefunkelt wie ein Diamant. Anderenfalls hätte er ihr wohl auch nicht zugehört. Er war es gewohnt, für sich immer nur das Beste in Anspruch zu nehmen.
„In welcher Welt willst du leben?“, hatte sie ihn gefragt. „In einer Welt, in der überwiegend gesunde Menschen friedlich ihre Angelegenheiten regeln, in der so etwas wie Neid und Missgunst praktisch nicht existieren, in der Probleme gründlich analysiert und umgehend gelöst werden, weil man sie da angeht, wo sie entstehen und zwar direkt und ohne Verzögerungen. Wo du nicht in ständiger Angst leben musst vor Verlust, Terror, Entführung, Demütigung und so weiter, weil niemand es mehr nötig hat, sich etwas mit Gewalt anzueignen, bis auf ein paar in die Irre gegangene Ausnahmen vielleicht, für die es dann aber auch Konsequenzen gäbe, weil natürlich Regeln und Gesetze existierten, deren Einhaltung von einer funktionierenden Polizei durchgesetzt würden und die von einer integeren Justiz umgesetzt würden.
Oder wärst du lieber Teil einer Welt, in der du in ständiger Angst vor Raubüberfällen und Anschlägen leben müsstest, du alles was du besitzt hundertfach absichern müsstest, deine Gedanken ständig um deine eigene Sicherheit und den Schutz deines Vermögens kreisten, du dich nicht mehr frei in der Öffentlichkeit bewegen könntest, weil überall Gefahren lauerten, dazu Wetterextreme, Lieferengpässe, Unsicherheit durch Aufstände, Kriege und unfähige Regierungen?“
„Natürlich in der ersten Version.“, hatte er schmunzelnd geantwortet. „Aber was soll die Frage?“
„Dann hör auf, den Ast abzusägen, auf dem du sitzt.“, hatte sie geantwortet. „Verzichte auf einen Teil deines Reichtums und deiner Privilegien, um am Ende mehr zu gewinnen, als du dir vielleicht erträumt hast. Um in einer besseren Welt aufzuwachen. Sieh es als Investition in die Zukunft.“
Dann hatte sie ihn stehen lassen und er hatte sie belächelt und mit den Schultern gezuckt. Er hatte gespürt, dass sie nicht an ihm interessiert gewesen war, sondern an seinem Status. Also hatte er nicht weiter über ihre Worte nachgedacht. Aktivistinnen-Gerede, realitätsfern und lustfeindlich.

Wo er wohl heute wäre, wenn er auf sie gehört hätte? Das dachte er, als ein plötzlicher Lichtstrahl ihn blendete.

... comment