Freitag, 9. August 2024
Gegenolympiade*
c. fabry, 10:27h
*der Titel stammt im Original von Dietmar Wischmeyer, als er vor etwa 30 Jahren die im Folgenden beschriebene Veranstaltung im Frühstyxradio auf FFN so betitelte. Ich hoffe, er verzeiht mir mein kleines Plagiat.
Er musste sich ein Bild machen, bevor er am kommenden Sonntag den besonderen Gottesdienst im Festzelt gestalten würde. Ihm waren derlei Volksfeste fremd, aufgewachsen am Stadtrand einer westfälischen Provinzmetropole, kannte er nur Innenstadt-Kirmes, Weihnachtsmarkt und private Feierlichkeiten in Wohnzimmern, Partykellern oder Gärten.
Sportwerbewoche nannte sich die Veranstaltung. Es war ein unfassbares Ereignis für die Einheimischen. Vom ersten Freitag bis zum zweiten Sonntag in der Folgewoche wurde durchgefeiert, viele nahmen sich dafür extra eine Woche Urlaub, vordergründig ging es um Sport, vorzugsweise um Handball-Turniere, aber eigentlich setzten die Besucher:innen wie bei jedem Volksfest die üblichen Schwerpunkte: Alkoholkonsum, laute Musik, fettiges, eiweißreiches Essen, sowie Paarungsrituale von der Balz über die Schlägerei bis zur Vollendung zahlreicher Geschlechtsakte. Die Gescheiterten urinierten an Bäume und erbrachen sich in dunklen Winkeln, die am Tage fatalerweise wieder hell ausgeleuchtet waren.
In Nordhemmern war das Sportfest, wie es um Volksmund genannt wurde, aber viel mehr als das. Es handelte sich um ein gesellschaftliches Ereignis mit gleich mehreren Höhepunkten: Dem Heimatabend zum Auftakt, dem Grillabend mit lustiger Fahrradrallye und Laser-Show in der Mitte und einem bunten, familienfreundlichen Sonntag zum Abschluss, mit Gottesdienst, Kuchen, Kinderflohmarkt Turnierfinale und breitem kulinarischem Angebot.
Er meldete sich auch zur Fahrradrallye an. Da er noch weitestgehend unbekannt im Dorf war, schloss er sich einer Gruppe mittelalter Männer an, die ihn großzügig aufnahmen. „Patrick Gottwald“, stellte er sich vor, „seit ein paar Wochen Gemeindepfarrer in der Region Hille, zuständig auch für Nordhemmern.“
Das sei hinlänglich bekannt, entgegnete man mit fröhlichem Lachen und hieß ihn der Gruppe willkommen. Man radelte gemächlich und ohne Eile von Station zu Station, verließ bald die Grenzen des Dorfes, um gleich wieder zurückzukehren, vollführte Turnübungen oder maß sich in phantasierten olympischen Disziplinen wie Teebeutelweitwurf, Kirschkern-weit-Spucken oder kooperativem Sommer-Skilauf. Es war ein bisschen albern, aber auch sehr gesellig, kurzweilig und gemütlich. Dass einige Herren während der Rallye bereits mit Bier vorglühten, empfand er als leicht verstörend, aber nicht weiter tragisch.
Beim Apfel-Dart traf er auf ein bekanntes Gesicht. Ein Mitglied des örtlichen Presbyteriums gehörte zu jenen, die die Station betreuten. Rainer Lürmann, ein kluger, bodenständiger und gesprächsbereiter Typ. Er sammelte gerade ein paar am Boden liegende Pfeile ein, als er plötzlich im Gras zusammenbrach. Man eilte ihm sofort zur Hilfe, jemand rief einen Rettungswagen und es dauerte eine Weile, bis man feststellte, dass in seiner Schläfe ein Dartpfeil steckte und der Rettungswagens sich vergeblich auf den Weg gemacht hatte. Ein schrecklicher Unfall, dessen Schatten Patrick annehmen ließ, das Fest sei nun zu Ende. Aber mitnichten. Schließlich hatten mehr als einhundert Menschen an der Vorbereitung und Ausgestaltung mitgewirkt, es war viel Geld in die Veranstaltung geflossen und das musste zu einem großen Teil wieder herein kommen, außerdem, so versicherte man es ihm, sei das nun wahrhaft nicht das erste Mal, dass jemand während des Festes versterbe. Es seien schon vor Kraft strotzende Familienväter vor dem Handballtor leblos zusammengebrochen, Alkoholvergiftungen und eine Schlägerei mit Todesfolge seien ebenfalls dabei gewesen. Es wäre aber eine nette Geste von dem Herrn Pfarrer den tragischen Todesfall im Schluss-Gottesdienst am Sonntag nicht unerwähnt zu lassen. Rainer Lürmann sei ja praktisch für den Sportverein gestorben.
Er radelte dennoch auf dem schnellsten Weg zurück zum Platz. Auch hier stand ein bekanntes Gesicht aus dem Presbyterium, mit eingezogenem Kopf, hängenden Schultern und einem Körper, dem man nicht ansah, dass er durch exzessives Radeln gestählt wurde. Zu jeder Sitzung erschien er demonstrativ mit dem Rad in entsprechend eindeutiger Kleidung, heute dagegen stand er da im blütenweißen Hemd und frischer Jeans. Ein zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht sagte ihm, dass Stefan Glaser noch nichts von dem tragischen Vorfall wusste. Er trat widerwillig an ihn heran und erklärte: „Zu meinem großen Bedauern muss ich Ihnen mitteilen, dass ein Mitglied ihres Presbyteriums gerade eben ums Leben gekommen ist. Rainer Lürmann wurde tödlich von einem Dartpfeil getroffen.“
Stefan Glaser machte ein überraschtes Gesicht, das eigenartigerweise überhaupt nicht echt wirkte. Stattdessen schweifte sein Blick kurz unruhig über den Platz, verharrte für einen Augenblick an einem Punkt und wurde dann stiller. Patrick sah in dieselbe Richtung und bemerkte einen weiteren Presbyter, Herwig Schmitz, dem die Unruhe in der zur Schau gestellten Gelassenheit ebenfalls anzusehen war. Er trug noch den Fahrradhelm. Er wandte sich erneut Stefan Glaser zu: „Das wird sicher eine große Herausforderung für Ihr ohnehin schon unvollständig besetztes Presbyterium.“
„Vielleicht.“, erwiderte Glaser. „Auf jeden Fall ändert es die Situation grundlegend. Wir haben nun kein Patt mehr, sondern eine Mehrheit für unsere Unabhängigkeit. Die Großgemeinde darf sich ohne uns zugrunde richten. Wir geben dann gerne Ratschläge beim Neuanfang.“ Glaser grinste breit und ging auf wackligen Beinen auf Schmitz zu. Es sollte würdig und gemessen wirken, was ihm ebenso wenig gelang, wie ihm die Umsetzung seiner Pläne für eine unabhängige, viel zu kleine Kirchengemeinde gelingen würde
Patrick wusste später nicht, warum er es getan hatte, auf jeden Fall zog er sein Mobiltelefon aus der Tasche und rief die Webseite der Kirchengemeinde auf. Das Presbyterium stellte sich dort vor, jeder für sich mit Name, Foto, Zielen für die Kirchengemeinde und persönlichen Hobbys. Schmitz liebte Radfahren, gute Krimis, gutgeschriebene Bibelkommentare und Darts.
Er musste sich ein Bild machen, bevor er am kommenden Sonntag den besonderen Gottesdienst im Festzelt gestalten würde. Ihm waren derlei Volksfeste fremd, aufgewachsen am Stadtrand einer westfälischen Provinzmetropole, kannte er nur Innenstadt-Kirmes, Weihnachtsmarkt und private Feierlichkeiten in Wohnzimmern, Partykellern oder Gärten.
Sportwerbewoche nannte sich die Veranstaltung. Es war ein unfassbares Ereignis für die Einheimischen. Vom ersten Freitag bis zum zweiten Sonntag in der Folgewoche wurde durchgefeiert, viele nahmen sich dafür extra eine Woche Urlaub, vordergründig ging es um Sport, vorzugsweise um Handball-Turniere, aber eigentlich setzten die Besucher:innen wie bei jedem Volksfest die üblichen Schwerpunkte: Alkoholkonsum, laute Musik, fettiges, eiweißreiches Essen, sowie Paarungsrituale von der Balz über die Schlägerei bis zur Vollendung zahlreicher Geschlechtsakte. Die Gescheiterten urinierten an Bäume und erbrachen sich in dunklen Winkeln, die am Tage fatalerweise wieder hell ausgeleuchtet waren.
In Nordhemmern war das Sportfest, wie es um Volksmund genannt wurde, aber viel mehr als das. Es handelte sich um ein gesellschaftliches Ereignis mit gleich mehreren Höhepunkten: Dem Heimatabend zum Auftakt, dem Grillabend mit lustiger Fahrradrallye und Laser-Show in der Mitte und einem bunten, familienfreundlichen Sonntag zum Abschluss, mit Gottesdienst, Kuchen, Kinderflohmarkt Turnierfinale und breitem kulinarischem Angebot.
Er meldete sich auch zur Fahrradrallye an. Da er noch weitestgehend unbekannt im Dorf war, schloss er sich einer Gruppe mittelalter Männer an, die ihn großzügig aufnahmen. „Patrick Gottwald“, stellte er sich vor, „seit ein paar Wochen Gemeindepfarrer in der Region Hille, zuständig auch für Nordhemmern.“
Das sei hinlänglich bekannt, entgegnete man mit fröhlichem Lachen und hieß ihn der Gruppe willkommen. Man radelte gemächlich und ohne Eile von Station zu Station, verließ bald die Grenzen des Dorfes, um gleich wieder zurückzukehren, vollführte Turnübungen oder maß sich in phantasierten olympischen Disziplinen wie Teebeutelweitwurf, Kirschkern-weit-Spucken oder kooperativem Sommer-Skilauf. Es war ein bisschen albern, aber auch sehr gesellig, kurzweilig und gemütlich. Dass einige Herren während der Rallye bereits mit Bier vorglühten, empfand er als leicht verstörend, aber nicht weiter tragisch.
Beim Apfel-Dart traf er auf ein bekanntes Gesicht. Ein Mitglied des örtlichen Presbyteriums gehörte zu jenen, die die Station betreuten. Rainer Lürmann, ein kluger, bodenständiger und gesprächsbereiter Typ. Er sammelte gerade ein paar am Boden liegende Pfeile ein, als er plötzlich im Gras zusammenbrach. Man eilte ihm sofort zur Hilfe, jemand rief einen Rettungswagen und es dauerte eine Weile, bis man feststellte, dass in seiner Schläfe ein Dartpfeil steckte und der Rettungswagens sich vergeblich auf den Weg gemacht hatte. Ein schrecklicher Unfall, dessen Schatten Patrick annehmen ließ, das Fest sei nun zu Ende. Aber mitnichten. Schließlich hatten mehr als einhundert Menschen an der Vorbereitung und Ausgestaltung mitgewirkt, es war viel Geld in die Veranstaltung geflossen und das musste zu einem großen Teil wieder herein kommen, außerdem, so versicherte man es ihm, sei das nun wahrhaft nicht das erste Mal, dass jemand während des Festes versterbe. Es seien schon vor Kraft strotzende Familienväter vor dem Handballtor leblos zusammengebrochen, Alkoholvergiftungen und eine Schlägerei mit Todesfolge seien ebenfalls dabei gewesen. Es wäre aber eine nette Geste von dem Herrn Pfarrer den tragischen Todesfall im Schluss-Gottesdienst am Sonntag nicht unerwähnt zu lassen. Rainer Lürmann sei ja praktisch für den Sportverein gestorben.
Er radelte dennoch auf dem schnellsten Weg zurück zum Platz. Auch hier stand ein bekanntes Gesicht aus dem Presbyterium, mit eingezogenem Kopf, hängenden Schultern und einem Körper, dem man nicht ansah, dass er durch exzessives Radeln gestählt wurde. Zu jeder Sitzung erschien er demonstrativ mit dem Rad in entsprechend eindeutiger Kleidung, heute dagegen stand er da im blütenweißen Hemd und frischer Jeans. Ein zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht sagte ihm, dass Stefan Glaser noch nichts von dem tragischen Vorfall wusste. Er trat widerwillig an ihn heran und erklärte: „Zu meinem großen Bedauern muss ich Ihnen mitteilen, dass ein Mitglied ihres Presbyteriums gerade eben ums Leben gekommen ist. Rainer Lürmann wurde tödlich von einem Dartpfeil getroffen.“
Stefan Glaser machte ein überraschtes Gesicht, das eigenartigerweise überhaupt nicht echt wirkte. Stattdessen schweifte sein Blick kurz unruhig über den Platz, verharrte für einen Augenblick an einem Punkt und wurde dann stiller. Patrick sah in dieselbe Richtung und bemerkte einen weiteren Presbyter, Herwig Schmitz, dem die Unruhe in der zur Schau gestellten Gelassenheit ebenfalls anzusehen war. Er trug noch den Fahrradhelm. Er wandte sich erneut Stefan Glaser zu: „Das wird sicher eine große Herausforderung für Ihr ohnehin schon unvollständig besetztes Presbyterium.“
„Vielleicht.“, erwiderte Glaser. „Auf jeden Fall ändert es die Situation grundlegend. Wir haben nun kein Patt mehr, sondern eine Mehrheit für unsere Unabhängigkeit. Die Großgemeinde darf sich ohne uns zugrunde richten. Wir geben dann gerne Ratschläge beim Neuanfang.“ Glaser grinste breit und ging auf wackligen Beinen auf Schmitz zu. Es sollte würdig und gemessen wirken, was ihm ebenso wenig gelang, wie ihm die Umsetzung seiner Pläne für eine unabhängige, viel zu kleine Kirchengemeinde gelingen würde
Patrick wusste später nicht, warum er es getan hatte, auf jeden Fall zog er sein Mobiltelefon aus der Tasche und rief die Webseite der Kirchengemeinde auf. Das Presbyterium stellte sich dort vor, jeder für sich mit Name, Foto, Zielen für die Kirchengemeinde und persönlichen Hobbys. Schmitz liebte Radfahren, gute Krimis, gutgeschriebene Bibelkommentare und Darts.
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