Sonntag, 13. August 2023
Allons enfants de la patrie
Ihr Gesicht kam mir irgendwie bekannt vor. Vielleicht kannte ich sie nur fröhlich; aktuell wirkte sie bedrückt, eine Mischung aus Schockstarre und Resignation. Warum sie wohl da hinten im Polizeiwagen saß?
Hatte sie einen lässlichen Ladendiebstahl begangen? War sie gewalttätig gegen einen Nachbarn geworden? Oder musste sie am Ende die Leiche eines Ertrunkenen identifizieren?

Ich tauschte die Kühlakkus an der Campingplatzbar und schlurfte zum Zelt zurück. Meine Zehennägel zierten schon wieder Trauerränder. Eigentlich könnte man das Waschen der Füße auch vorübergehend einstellen, es sei denn man entscheidet sich für Socken und feste Schuhe.

Die Nudelsauce simmerte auf dem Campingkocher. Rudi rührte lustlos um. „Die Hälfte der Tomaten haben die Vögel gefressen.“, beklagte er sich. Ich warf einen Blick in die Pfanne. „Na und? Reicht doch und schmeckt nicht alles nur nach Tomaten.“
Rudi schnaubte. „Das Wasser ist übrigens alle. Kannst du was holen?“
Na toll! Die nächste Zapfstelle wurde aktuell von mutmaßlichen Neonazis belagert undvor dem Klohäuschen lagerte schon den ganzen Tag irgendein Riesenvieh von einem knurrenden Köter. Also wieder den ganzen Sandhügel hochkämpfen wie in dem Film „The Hill“ mit Sean Connery, nur kein Sean weit und breit, nur hyperaktive Holländer und lethargische Franzosen. Campst du noch oder lebst du schon? Irgendwie war ich den ganzen Tag damit beschäftigt, mein Leben zu organisieren. Keine Zeit zum Träumen, Lesen, in-den-Tag-hineinlumpen. Immer musste irgendetwas gemacht werden. Wie viele Ehen wohl am Camping zerbrachen?
Und warum tut man so etwas? Warum verlässt man sein komfortables Haus mit Garten und bezahlt auch noch Geld dafür, ein paar Wochen so zu leben, als sei man auf der Flucht? Wie dekadent ist unsere untergehende Hochkultur, dass Besitzlosigkeit und raue Lebensbedingungen als Urlaub empfunden werden, als romantische Grenzerfahrung, während an den EU-Außengrenzen gänzlich unromantische Grenzerfahrungen gemacht werden von denen, mit denen wir den Luxus der restlichen elf Monate nicht teilen mögen; wenn sie nicht schon vorher im Mittelmeer ertrunken sind.

Unser Essen war delikat, vielleicht auch nur aufgrund unseres Bärenhungers, der uns regelmäßig überfiel, weil wir den ganzen Tag in Bewegung waren – zum Herumliegen hatten wir nicht nur zu wenig Zeit, es war auch zu kalt.

Im Ennepetal war es ruhig geworden. So nannten wir eine Senke im Pinienhain, in der sich ein Paar aus dem Ruhrgebiet häuslich niedergelassen hatte, oder zeltlich, um genau zu sein.
„Nächstes Jahr will ich Zimmerservice!“, forderte ich beim Schlafengehen.
„Kannst du gerne machen.“, erwiderte Rudi und lachte dreckig. Im zelt nebenan quietschten zuerst die Luftmatratzen und dann die aparte Holländerin. Ich sehnte mich nach Steinwänden und Holzfußboden, Federkernmatratzen und Daunenkissen, dem Summen der Spülmaschine und trockenen, sauberen Füßen. Seufzende streckte ich mich auf der Luftmatratze aus und fiel in den bleiernen Schlaf der Gerechten.

Eine gigantische Jakobsmuschel trieb auf dem Meer, darin saß eine Frau, die verzweifelt mit unruhigem Blick die Wasseroberfläche absuchte.
„Miesmuscheln nur bei Ebbe!“, rief ich vom Strand aus. „Und nur in den Monaten mit R.“
Sie hörte mich nicht, sondern trieb weiter aufs tosende Meer hinaus. Ein unangenehmes Geräusch riss mich aus den Träumen. Rudi schnarchte. Es grenzte an ein Wunder, dass die Pinien noch standen. Wenn es nicht dauernd geregnet hätte, wäre ich zum Schlafen an den Strand umgezogen. Aber die Bretagne ist nicht Aquitanien und der Weg wäre ohnehin viel zu anstrengend gewesen.
Ich hörte Schritte neben dem Zelt und Schleifgeräusche. Baute jemand ab? Mitten in der Nacht? Oder hätten wir morgen früh neue Nachbarn? Manche Camper reisten auch zu fortgeschrittener Stunde an.

Am nächsten Morgen war alles normal. Die hyperaktiven Holländer räumten ihr Frühstücksgeschirr weg und spielten Frisbee, im Ennepetal herrschte Stille und wir kochten Tee und holten die Aufstriche aus der Kühltasche.

Eine Woche später war ich schon wieder im Alltag angekommen: Frühstück ohne Croissants, dafür unkomplizierte Morgentoilette, Aufbruch zur Endstation mit dem Fahrrad ohne einen einzigen steile Gipfel, der bezwungen werden musste, ab in die Straßenbahn und dem Arbeitsplatz entgegendösen.
Ein vierschrötiger Kerl begrüßte lautstark einen Artgenossen, der mir seltsam bekannt vorkam. „Mensch Jürgen, wat machs du denn hier? Bisse auch rauf inn‘n Norden? Wir ham uns ja ewich nich jeseh‘n.“
„Mehr so aufe Durchreise.“, meinte Jürgen und beschwor den alten Bekannten mit vielsagendem Blick, nicht weiter nachzuhaken. Stattdessen fragte er: „Gehnwer‘n Kaffee trinken? Watt meinze?“
Und plötzlich wusste ich, dass ich heute zu spät zur Arbeit erscheinen würde, denn jetzt wusste ich, woher ich Jürgen kannte und ein spezieller Nerv, der vom Nacken ausgehend bis tief in den Hinterkopf hineinkitzelte, sagte mir, dass da etwas Ungeheuerliches in der Luft lag und ich der Sache auf den Grund gehen musste.

Der Kumpel hatte Zeit. Sie steigen zwei Stationen vor meinem Zielbahnhof aus und hockten sich in die Kaffeebude des Bahnhofsbäckers. Ich nahm unauffällig am Nebentisch Platz, um nur ja nichts von ihrem Gespräch zu verpassen.
„Ich mach‘n Abflug.“, raunte Jürgen.
Und Angela ist schon da und wartet auf dich?“, fragte der Kumpel.
„Angela wartet woanders.“
„Wo willst du denn hin?“
„Asien.“
„Wo genau?“
„Das weiß besser keiner.“
„Und Angela? Was ist mit ihr?“, der Kumpel wurde merklich unruhig.
„Keine Angst. Ich hab‘ sie nicht umgelegt. Sie muss nur ein paar Jahre woanders warten.“
„Wo denn?“
„Brest, vermute ich.“
„In Polen?“
„Nee, in Frankreich. Die sitzt.“
„Warum?“
„Weil sie ihren Mann ermordet hat. Hat ihn einfach im Atlantik ertrinken lassen.“
„Aber du sitzt doch hier.“
„Das wissen die in Brest aber nicht.“
„Du verschwindest, Leiche auf Urlaub, ohne Rückfahrschein. Und wovon willst du leben? Luft und Liebe?“
„Ich habe vorgesorgt. Hab‘ da unten ein Konto, das ist randvoll. Wenn Angela raus kommt, hat sie nix mehr. Kein Haus, kein Auto, nur ein paar Klamotten, Fotoalben, Taschenbücher und so weiter. Hab‘ ich in einer Garage eingelagert. Die Miete fließt monatlich von unserem Konto, das hab‘ ich nicht ganz leer geräumt. Ich kann einfach nicht mehr. Ich muss hier weg und nochmal ganz von vorn anfangen.“

So ein Halunke! Wenn ich schnell handelte, konnte ich verhindern, dass sein Plan aufging. Doch was würde dann geschehen? Ihm würden einige Jahr Haft drohen wegen Vortäuschung einer Straftat, aber die Frau käme trotzdem nicht an das Konto in Asien. Das würde er hübsch geheim halten. Und wenn sie ihm doch auf die Schliche kämen, würde er nach wenigen Jahren aus dem Gefängnis entlassen und würde sie vielleicht töten, weil sie seinen Traum zerstört hatte, der doch zum Greifen nah gewesen war.
Nein. Ich wollte nicht Gott spielen. Ich würde der Frau helfen, indem ich zur Polizei ging, das Foto und den heimlichen Mitschnitt des Gesprächs zur Verfügung stellen, um zu beweisen, dass die unter Mordverdacht stehende Angela aus Ennepetal unschuldig war.

Vielleicht war dies der Beginn einer außergewöhnlichen und unerschütterlichen Freundschaft. Le jour de gloire est arrivé.

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