Freitag, 29. Juli 2022
Verwandlung
c. fabry, 14:43h
Das erste, das Jenny an diesem Morgen sah, war ihr eigenes kupferrotes Haar auf dem weißen Kopfkissen. Das war der Segen der Rothaarigen, sie ergrauten erst spät und so nannte sie mit Mitte Fünfzig noch eine Haarpracht ihr eigen, die einer jungen Frau in der Blüte ihrer Jahre würdig gewesen wäre.
Auch der Rest war noch in gutem Zustand: kaum Falten oder Bindegewebsschwäche am Körper, dank Ausdauertraining, Yoga und gesunder Ernährung, keine Skelett-Probleme, keine Krampfadern und ein ungetrübtes Wohlbefinden.
Heute war ihr freier Tag. Ausgeschlafen hatte sie, Jan war bei der Arbeit, Louis in der Schule und sie freute sich auf einen unbeschwerten Vormittag.
Auf dem Weg zur Toilette blieb es eigenartig still. Scarlett und Pepper, die beiden Kätzchen, die normalerweise eilig angetrippelt kamen, sobald sich jemand rührte, schienen irgendwo friedlich zu schlummern.
Nach der Dusche ging sie in die Küche, um sich einen Kaffee zu kochen. Noch immer waren die Kätzchen nicht in Sicht. Stattdessen standen zwei ihr unbekannte Gläser auf dem Küchentisch: Crème Caramel und Meersalz mit schwarzem Pfeffer. Als hätte ein Zauberer die beiden Kätzchen in Lebensmittel verwandelt. Wirklich eigenartig und ein bisschen gruselig. Sie würde Jan abends fragen, woher diese bretonischen Mitbringsel stammten. Vielleicht von einem Kollegen.
Die Suche nach Scarlett und Pepper blieb ergebnislos. Als die Eltern abends schlafen gingen, waren sie noch nicht wieder aufgetaucht, Louis würde erst in der Nacht heimkehren, er war auf einer Party eingeladen.
Die halbe Nacht lag Jenny wach. Was konnte den Kätzchen widerfahren sein? Waren sie durch die offene Haustür geschlüpft, draußen umhergeirrt und entführt worden? Sie würde gleich morgen einen Aushang entwerfen, zwanzigfach ausdrucken und überall aufhängen. Dummerweise waren sie noch nicht gechipt, es würde schwierig sein, zu beweisen, dass Scarlett und Pepper zu ihnen gehörten.
Am Samstagmorgen fühlte sie sich wie gerädert. Jan war schon aufgestanden, hatte Brötchen geholt und den Frühstückstisch gedeckt.
"Louis liegt noch im Koma.", meinte er. "Ich hoffe, er hat sich nicht sämtliche Englisch-Vokabeln weggesoffen."
"Ich seh? mal nach ihm, vielleicht will er doch schon frühstücken.", meinte Jennifer. Sie betrat das Zimmer ihres Sohnes und spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. Das Bett war zwar benutzt, aber das lag daran, dass Louis sein Bett nie machte. Eigenartigerweise lag mitten auf dem Laken eine Holzhaarbürste, die genau den gleichen Farbton hatte, wie seine blonden Locken. Louis benutzte keine Bürsten, nur einen groben Kamm und den auch nur gelegentlich. Bisher hatte er auch noch keine Freundin mit nach Hause gebracht und von einer Freundin war ja auch sonst keine Spur, genauso wenig wie von Louis.
"Er ist nicht da.", sagte Jennifer erschrocken.
"Der wird schon wieder auftauchen.", erwiderte Jan gelassen.
"Ich schreib ihm eine Nachricht.", sagte Jennifer.
"Wenn du meinst."
Louis reagierte nicht. Auch nicht nach Stunden. Sie riefen überall an. Auf der Party war er gewesen, hatte sie gegen drei Uhr nachts verlassen, um nach Hause zu fahren. Tatsächlich standen die Turnschuhe in seinem Zimmer, mit denen er abends aus dem Haus gegangen war. Er war also nachts zu Hause angekommen. Und dann? Es blieb ein Rätsel.
Die Polizei wollte nicht aktiv werden. Noch nicht. Wenn er Sonntagmorgen noch nicht wieder da sei, sollten sie sich melden. Die hatten vielleicht Nerven.
Auch in dieser Nacht konnte Jennifer nicht schlafen. Sie wälzte sich in ihrem Bett hin und her. Jan beschwerte sich, sie solle sich beruhigen. Ungehalten über die Seelenruhe mit der er sich schlafen legte, während sein Sohn einem ungewissen Schicksal ausgeliefert war, zog sie um in Louis Bett. So bekäme sie wenigstens sofort mit, wenn er endlich nach Hause kam.
Sie erwachte, als die Sonne grell ins Zimmer schien. Louis war nicht da, noch immer nicht. Nur die eigenartige Haarbürste, die sie auf den Teppich verfrachtet hatte, lag noch auf ihrem neuen Platz. Sie stand auf, um Jan zu wecken. Sie mussten etwas unternehmen ? irgendetwas.
Jan lag nicht mehr im Bett und war auch sonst nirgends aufzutreiben. Wie konnte er in so einer Situation ans Brötchen Holen denken? Auch wenn sie mit den Gedanken woanders war, deckte sie wie ferngesteuert den Küchentisch. Mittendrin lief sie zum Telefon und rief die Polizei an.
"Unser Sohn ist immer noch nicht aufgetaucht. Unternehmen Sie jetzt mal etwas?", fragte sie, als sie zu dem zuständigen Beamten durchgestellt worden war.
"Wir schicken gleich jemanden vorbei.", lautete die gleichmütige Antwort.
"Na toll.", stöhnte sie. "Die haben ja einen sicheren Job. Müssen sich nicht anstrengen."
Jan kam gar nicht vom Brötchen Holen zurück. Oder hatte er sich eigenmächtig auf die Suche nach Louis gemacht? Sie suchte die ganze Wohnung nach einer Notiz ab, überprüfte ihren Messengerdienst ? nichts.
Sie blickte auf das leere Bett. Da lag etwas auf Jans Hälfte. Ein Portemonnaie aus dunkelbraunem Leder. War ihm das aus der Tasche gefallen? Aber seit wann hatte er so eines? Er benutzte doch das weinrote, das sie ihm letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte. Dieses hier hatte sie noch nie gesehen. Sie betrachtete es näher. Es war vollkommen leer, etwas abgewetzt und hatte exakt die Farbe von Jans dunkelbraunen Haaren.
Wurde sie verrückt? Oder träumte sie das alles? Konnte sie der Polizei von den seltsamen Gegenständen erzählen? Sicher nicht, sie würden sie für eine durchgeknallte, alternde Rothaarige halten, die gerade von Sohn und Mann verlassen worden war, weil sie es mit ihr nicht mehr aushielten.
Zwei Beamte kamen vorbei, stellten hunderte von Fragen, wunderten sich auch, dass Jan sich offenkundig auf die Suche nach seinem Sohn machte, ohne etwas zu sagen. Sie nahmen Louis Zimmer unter die Lupe, baten um ein Foto, forderten einen Spürhund an und ließen das Tier Witterung aufnehmen. Sie würden sich melden, sagten sie.
Der Sonntag zog sich endlos hin. Niemand meldete sich, auch Jan nicht. Was passierte hier? Sie hätte ihre Freundinnen anrufen können, um Beistand bitten, aber sie war wie gelähmt, wollte eigenartigerweise niemandem zur Last fallen, nicht für hysterisch gehalten werden, was auch immer.
Sie lief hin und her, wartete, trank literweise Kaffee, dachte daran, sich Zigaretten zu kaufen, obwohl sie schon seit dreißig Jahren nicht mehr rauchte, versuchte sich mit Fernsehen abzulenken, wischte das Wohnzimmerregal aus und entschloss sich, sich am nächsten Tag krank zu melden. Sie konnte in dieser Situation unmöglich zur Arbeit gehen.
Irgendwann fiel sie erschöpft ins Bett, noch bekleidet. Mitten in der Nacht wurde sie wach. Jemand stand an ihrem Bett. "Louis?", rief sie. "Jan?". Sie knipste die Leselampe an. Es war ein Unbekannter. Ein mittelgroßer Mann mit fahler Gesichtshaut und kalten, grauen Augen. In der linken Hand hielt er einen größeren Gegenstand, in der rechten eine Drahtschlinge. Den größeren Gegenstand stellte er auf ihrem Kopfkissen ab. Es war eine Kupferpfanne. Danach ging alles ganz schnell.
Am Dienstag erschien ein Presseartikel über das mysteriöse Verschwinden einer Familie. Freunden wäre im Haus nichts Außergewöhnliches aufgefallen, nur dass die jungen Katzen nicht da waren.
Auch der Rest war noch in gutem Zustand: kaum Falten oder Bindegewebsschwäche am Körper, dank Ausdauertraining, Yoga und gesunder Ernährung, keine Skelett-Probleme, keine Krampfadern und ein ungetrübtes Wohlbefinden.
Heute war ihr freier Tag. Ausgeschlafen hatte sie, Jan war bei der Arbeit, Louis in der Schule und sie freute sich auf einen unbeschwerten Vormittag.
Auf dem Weg zur Toilette blieb es eigenartig still. Scarlett und Pepper, die beiden Kätzchen, die normalerweise eilig angetrippelt kamen, sobald sich jemand rührte, schienen irgendwo friedlich zu schlummern.
Nach der Dusche ging sie in die Küche, um sich einen Kaffee zu kochen. Noch immer waren die Kätzchen nicht in Sicht. Stattdessen standen zwei ihr unbekannte Gläser auf dem Küchentisch: Crème Caramel und Meersalz mit schwarzem Pfeffer. Als hätte ein Zauberer die beiden Kätzchen in Lebensmittel verwandelt. Wirklich eigenartig und ein bisschen gruselig. Sie würde Jan abends fragen, woher diese bretonischen Mitbringsel stammten. Vielleicht von einem Kollegen.
Die Suche nach Scarlett und Pepper blieb ergebnislos. Als die Eltern abends schlafen gingen, waren sie noch nicht wieder aufgetaucht, Louis würde erst in der Nacht heimkehren, er war auf einer Party eingeladen.
Die halbe Nacht lag Jenny wach. Was konnte den Kätzchen widerfahren sein? Waren sie durch die offene Haustür geschlüpft, draußen umhergeirrt und entführt worden? Sie würde gleich morgen einen Aushang entwerfen, zwanzigfach ausdrucken und überall aufhängen. Dummerweise waren sie noch nicht gechipt, es würde schwierig sein, zu beweisen, dass Scarlett und Pepper zu ihnen gehörten.
Am Samstagmorgen fühlte sie sich wie gerädert. Jan war schon aufgestanden, hatte Brötchen geholt und den Frühstückstisch gedeckt.
"Louis liegt noch im Koma.", meinte er. "Ich hoffe, er hat sich nicht sämtliche Englisch-Vokabeln weggesoffen."
"Ich seh? mal nach ihm, vielleicht will er doch schon frühstücken.", meinte Jennifer. Sie betrat das Zimmer ihres Sohnes und spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. Das Bett war zwar benutzt, aber das lag daran, dass Louis sein Bett nie machte. Eigenartigerweise lag mitten auf dem Laken eine Holzhaarbürste, die genau den gleichen Farbton hatte, wie seine blonden Locken. Louis benutzte keine Bürsten, nur einen groben Kamm und den auch nur gelegentlich. Bisher hatte er auch noch keine Freundin mit nach Hause gebracht und von einer Freundin war ja auch sonst keine Spur, genauso wenig wie von Louis.
"Er ist nicht da.", sagte Jennifer erschrocken.
"Der wird schon wieder auftauchen.", erwiderte Jan gelassen.
"Ich schreib ihm eine Nachricht.", sagte Jennifer.
"Wenn du meinst."
Louis reagierte nicht. Auch nicht nach Stunden. Sie riefen überall an. Auf der Party war er gewesen, hatte sie gegen drei Uhr nachts verlassen, um nach Hause zu fahren. Tatsächlich standen die Turnschuhe in seinem Zimmer, mit denen er abends aus dem Haus gegangen war. Er war also nachts zu Hause angekommen. Und dann? Es blieb ein Rätsel.
Die Polizei wollte nicht aktiv werden. Noch nicht. Wenn er Sonntagmorgen noch nicht wieder da sei, sollten sie sich melden. Die hatten vielleicht Nerven.
Auch in dieser Nacht konnte Jennifer nicht schlafen. Sie wälzte sich in ihrem Bett hin und her. Jan beschwerte sich, sie solle sich beruhigen. Ungehalten über die Seelenruhe mit der er sich schlafen legte, während sein Sohn einem ungewissen Schicksal ausgeliefert war, zog sie um in Louis Bett. So bekäme sie wenigstens sofort mit, wenn er endlich nach Hause kam.
Sie erwachte, als die Sonne grell ins Zimmer schien. Louis war nicht da, noch immer nicht. Nur die eigenartige Haarbürste, die sie auf den Teppich verfrachtet hatte, lag noch auf ihrem neuen Platz. Sie stand auf, um Jan zu wecken. Sie mussten etwas unternehmen ? irgendetwas.
Jan lag nicht mehr im Bett und war auch sonst nirgends aufzutreiben. Wie konnte er in so einer Situation ans Brötchen Holen denken? Auch wenn sie mit den Gedanken woanders war, deckte sie wie ferngesteuert den Küchentisch. Mittendrin lief sie zum Telefon und rief die Polizei an.
"Unser Sohn ist immer noch nicht aufgetaucht. Unternehmen Sie jetzt mal etwas?", fragte sie, als sie zu dem zuständigen Beamten durchgestellt worden war.
"Wir schicken gleich jemanden vorbei.", lautete die gleichmütige Antwort.
"Na toll.", stöhnte sie. "Die haben ja einen sicheren Job. Müssen sich nicht anstrengen."
Jan kam gar nicht vom Brötchen Holen zurück. Oder hatte er sich eigenmächtig auf die Suche nach Louis gemacht? Sie suchte die ganze Wohnung nach einer Notiz ab, überprüfte ihren Messengerdienst ? nichts.
Sie blickte auf das leere Bett. Da lag etwas auf Jans Hälfte. Ein Portemonnaie aus dunkelbraunem Leder. War ihm das aus der Tasche gefallen? Aber seit wann hatte er so eines? Er benutzte doch das weinrote, das sie ihm letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte. Dieses hier hatte sie noch nie gesehen. Sie betrachtete es näher. Es war vollkommen leer, etwas abgewetzt und hatte exakt die Farbe von Jans dunkelbraunen Haaren.
Wurde sie verrückt? Oder träumte sie das alles? Konnte sie der Polizei von den seltsamen Gegenständen erzählen? Sicher nicht, sie würden sie für eine durchgeknallte, alternde Rothaarige halten, die gerade von Sohn und Mann verlassen worden war, weil sie es mit ihr nicht mehr aushielten.
Zwei Beamte kamen vorbei, stellten hunderte von Fragen, wunderten sich auch, dass Jan sich offenkundig auf die Suche nach seinem Sohn machte, ohne etwas zu sagen. Sie nahmen Louis Zimmer unter die Lupe, baten um ein Foto, forderten einen Spürhund an und ließen das Tier Witterung aufnehmen. Sie würden sich melden, sagten sie.
Der Sonntag zog sich endlos hin. Niemand meldete sich, auch Jan nicht. Was passierte hier? Sie hätte ihre Freundinnen anrufen können, um Beistand bitten, aber sie war wie gelähmt, wollte eigenartigerweise niemandem zur Last fallen, nicht für hysterisch gehalten werden, was auch immer.
Sie lief hin und her, wartete, trank literweise Kaffee, dachte daran, sich Zigaretten zu kaufen, obwohl sie schon seit dreißig Jahren nicht mehr rauchte, versuchte sich mit Fernsehen abzulenken, wischte das Wohnzimmerregal aus und entschloss sich, sich am nächsten Tag krank zu melden. Sie konnte in dieser Situation unmöglich zur Arbeit gehen.
Irgendwann fiel sie erschöpft ins Bett, noch bekleidet. Mitten in der Nacht wurde sie wach. Jemand stand an ihrem Bett. "Louis?", rief sie. "Jan?". Sie knipste die Leselampe an. Es war ein Unbekannter. Ein mittelgroßer Mann mit fahler Gesichtshaut und kalten, grauen Augen. In der linken Hand hielt er einen größeren Gegenstand, in der rechten eine Drahtschlinge. Den größeren Gegenstand stellte er auf ihrem Kopfkissen ab. Es war eine Kupferpfanne. Danach ging alles ganz schnell.
Am Dienstag erschien ein Presseartikel über das mysteriöse Verschwinden einer Familie. Freunden wäre im Haus nichts Außergewöhnliches aufgefallen, nur dass die jungen Katzen nicht da waren.
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