Freitag, 3. Juni 2022
Ein Abschiedsbrief
Einfach mal lostippen
keine Ahnung was dabei rauskommt
Stifte gehen besser
viel besser
Analog ist das neue Digital
Digital ist das neue Analog
Verrückte Welt
Will nicht den Kopf in den Sand stecken zu dunkel zu wenig Luft rückenunfreundliche Haltung
aber Jessas
weg will ich von allem was drückt
von allem was schmerzt und zehrt
von allem was ängstigt und lähmt
und weiß nicht wie und wohin
ich muss es angehen
nur was zuerst was danach und wo setze ich an?
Hab mich schon so oft aus dem Sumpf gezogen
Erfahrung und Training einerseits
Frust und Ermüdung andererseits
wird nie gut
wird nur ab und zu mal weniger schlimm
danach wieder schlimmer
viel schlimmer

Das war alles, was sie hinterlassen hatte. Halt nicht ganz. Da war noch das Häufchen, das neben ihr lag, mit dem der Darm sich verabschiedet hatte. Der letzte Ausdruck ihrer erstarrten Züge passte nicht zum Brief. Ein leerer Blick über herabhängenden Mundwinkeln oder geschlossene Augen über einem heruntergeklappten Kiefer, das hätte man vielleicht erwartet. Aber Augen und Mund waren weit aufgerissen. Schreckgeweitet.
Vielleicht ein Nervengift, das kam natürlich auch für Suizid infrage.

Doch der Ort war seltsam. Oder das Zusammenspiel von Ort, Abschiedsbrief und dem Zustand der Leiche. Wer setzt seinem Leben nackt an seiner Dienstelle ein Ende und hinterlässt einen solchen Abschiedsbrief als Textdatei im aufgeklappten Laptop?

Hätte man sie zu Hause so aufgefunden, wäre es vielleicht plausibel gewesen. Oder bekleidet am Arbeitsplatz. Aber so? Das roch überdeutlich nach Inszenierung.

Die Befragungen ergaben, dass sie sich mit allen angelegt hatte. In Konflikten hatte sie nie klein beigegeben, hatte richtig Ärger gemacht, sich an Verantwortliche gewandt, für Konsequenzen gesorgt.

Da war die Presbyterin, die sie in Veröffentlichungen immer wieder mit unsachgemäßen, abwertenden Berufsbezeichnungen tituliert hatte: Kindergärtnerin, Kinderpflegerin,.. niemals aber als das, was sie war, nämlich Sozialpädagogin und KiTa-Leitung.

Da war der Pfarrer, der sich nicht um das Mobbing-Problem innerhalb des Kita-Teams gekümmert hatte. Ihre Hinweise, dass im bestehenden Personalstamm der Wurm war, wenn nicht sogar der Borkenkäfer, dass mindestens zwei Erzieherinnen ausgetauscht werden mussten, weil sie noch immer im Geist der vor zwei Jahren suspendierten Leiterin täglich ihr Gift verspritzten und einen Keil zwischen Team und Leitung trieben, hatte er geflissentlich ignoriert, weil er Konflikten aus dem Weg ging, aufgrund welcher Ängste auch immer.

Da war die Putzfrau, die ihr Büro immer aussparte und erst bei drohender Abmahnung den fingerdicken Staub von den Regalen wischte. Dazu vergaß sie regelmäßig, den Fußboden im Büro zu saugen oder zu fegen; vom Wischen ganz zu schweigen. Die Leiterin hätte es auch eben selbst machen können und es dabei belassen, aber es ging ihr ums Prinzip. Sie entschied, wo wieviel und mit welcher Frequenz geputzt wurde und nicht die Reinigungskraft.

Da war der Küster, dem man bei anstehenden Gartenarbeiten alles dreimal sagen musste, der sich zwar nicht offen weigerte, seine Aufgaben zu erledigen, der aber nie um Ausreden verlegen war: zu große Hitze, Starkregen, Wind, Glatteis, wichtige Veranstaltungen in Kirche und Gemeindehaus? Komischerweise fand er aber immer die Zeit, mit Aufsitzmäher und Freischneider sorgfältig durch den großzügigen Garten des Pfarrhauses zu cruisen.

Da war die Elternratsvorsitzende, die ständig herumnörgelte, offensichtlich aber mit der Erziehung der eigenen Kinder überfordert war und dringenden Beratungsbedarf hatte, den sie natürlich entschieden von sich wies.

Und schließlich war da die penetrante Männergruppe, die immer wieder darauf bestand, sich abends auf dem Kita-Gelände zum Grillen und Kubb spielen zu treffen. Offizielle Vorschriften bezüglich der Nutzung von Kindertageseinrichtungen wischten sie mit laxen Handbewegungen beiseite, begleitet von den Rauchfahnen ihrer brennenden Filterzigaretten, deren Kippen immer wieder im Garten verstreut herumlagen.

Bei so vielen erschöpfenden Kämpfen mochte man ihr die Depressionen wohl abkaufen, nicht aber den Suizid.

Bei der Obduktion fand sich tatsächlich ein Nervengift. "Typisch für Frauen.", bemerkte der Pathologe.
"Blödes Klischee", erwiderte die Kommissarin. "Selbst wenn es statistisch mehr Giftmörderinnen als Giftmörder gäbe oder mordende Frauen vorzugsweise zum Gift griffen, nützt uns das überhaupt nichts. Es kann sich trotzdem um einen männlichen Täter handeln."
So dahingerotzt, wie die Kleider des Opfers herumlagen, war davon auszugehen, dass die Kita-Leiterin nach dem Eintritt des Todes entkleidet worden war. Tagelang forschten die Ermittelnden nach starken Motiven, Gelegenheiten, mangelnden Alibis. Ergebnislos.
Aber dann saß plötzlich Familie Semmering auf der Wache: Lydia Semmering, alleinerziehende Mutter von zwei Kindern, Ilvy war acht Jahre alt, Jonte war vier. Jonte hatte die komische Frau bemerkt, die er nie zuvor in der Kita gesehen hatte, die so unfreundlich guckte und ins Büro gestürmt war, kurz bevor die Mama ihn abgeholt hatte. Gestern hatte er sie zufällig in der Stadt wiedererkannt und sie Ilvy gezeigt. Ilvy kannte sie noch aus ihrer Kita-Zeit, es war Tamara, die hatte damals noch in der Kita gearbeitet und war dann irgendwann verschwunden. Als die Kinder ihrer Mutter davon erzählten, erinnerte die sich, dass Tamara Rethemeier damals dauerhaft erkrankt war. Es gab aber Gerüchte, dass sie als Opfer permanenter Schikanen durch Kolleginnen und vor allem die Leitung einen Nervenzusammenbruch erlitt, von dem sie sich nie mehr ganz erholte. In dem Jahr, in dem Familie Semmering nicht in der Kita vertreten war, hatte die Leitung gewechselt, die despotische Kita-Leitung war wohl immer schamloser geworden in ihrem Sadismus.
Ein Abgleich der Spuren mit der DNA von Tamara Rethemeier ergab eine Übereinstimmung und am Ende war die Beweislast so erdrückend, dass kein Zweifel mehr bestand.
Doch warum hatte die geschundene Erzieherin sich an der Nachfolgerin gerächt, mit der sie doch keinerlei Rechnung offen hatte?
"Ich habe schon gesehen, dass es nicht Juliana war, die da hinter dem Schreibtisch saß. Aber diese leitenden Sozialpädagoginnen sind doch alle gleich. Man trifft immer die Richtige. Sie hatte diesen Ausdruck in den Augen. Wie ein Terrier."
"Wie haben sie es gemacht?", fragte die Kommissarin.
"Niktotinkonzentrat. Juliana hat vor allem in den Raucherpausen ihre Giftpfeile abgeschossen. Jetzt kriegte sie alles zurück. Subkutan."
"Sie hatten eine Spritze mit Nikotinkonzentrat dabei? Die Tat war also geplant?"
"Ja. Ich habe mich informiert, wie das geht und dann Nikotin extrahiert, in die Spritze aufgezogen und los. Ich dachte ja, Juliana hat noch die Leitung. Ich wusste gar nicht, dass sie nicht mehr da ist. Aber die Neue war genauso. Da bin ich mir sicher."
"Und wie haben sie ihr das Gift verabreicht?"
"Hab mich auf sie gestürzt und die Spritze rein gerammt, in die Achsel, glaube ich."
"Und dann?"
"Dann habe ich sie ausgezogen, damit sie genauso nackt und bloß da liegt, wie ich mich gefühlt habe. Dann bin ich an ihren Laptop gegangen, habe das Textverarbeitungsprogramm geöffnet und ein Abschiedsgedicht rein getippt. Haben Sie?s gelesen?"
"Ja, haben wir."
"Und wie fanden sie es??"?Traurig."
"Ja. Das ist es."

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