Freitag, 28. Januar 2022
# Eiskalter Januar - Kurzkrimi in vier Teilen - 3. Das Meer
Geistesgegenwärtig positionierte er sich mit dem Rücken zum Waschtisch und bekam das Messer mit den gefesselten Händen zu fassen. Er verbarg es so gut es ging, indem er es zwischen Hände und Rücken schob und spürte, wie er sich leicht dabei verletzte. Seine Vorsicht bewährte sich, denn Maxi trieb ihn vor sich her in die Wohnküche. Dort angekommen verpasste der Jugendliche ihm einen Tritt in die Kniekehlen, sodass er zu Boden ging. Er spielte die devote Geisel, seine einzige Chance, seinen erbarmungslosen Wärter in Sicherheit zu wiegen.
"Wo ist das Brennholz?" fragte der Junge.
Jan gab drängende Geräusche von sich, um zu verdeutlichen, dass er sich mit zugeklebtem Mund kaum würde verständlich machen können.
"Ja, is ja gut.", sagte Maxi, riss mit einem schmerzhaften Ruck das Klebeband vom Mund des Pfarrers und sah ihn erwartungsvoll an.
"Im Holzschuppen, gleich hinterm Haus." keuchte Jan.
"Alles klar." sagte Maxi.
Jan wollte die Gunst des Augenblicks nutzen und versuchen, den Heranwachsenden zur Vernunft zu bringen: "Hast du dir mal...", setzte er an. "überlegt", wollte er noch sagen und dann improvisieren, aber der Knabe klebte ihm schon wieder das Gaffertape auf den Mund. "Das reicht Pastor.", sagte er. "Du hast für immer ausgequatscht. Bleib hier liegen und rühr dich nicht, sonst lass ich mir vor deinem Abgang noch ne kleine Zugabe einfallen."
Maxi schnappte sich den Holzkorb und ging in den Garten. Er würde eine Weile brauchen, denn es war mittlerweile dunkel geworden und hier hinterm Deich leuchtete keine Straßenlaterne oder Reklame den von dichten Weiden umsäumten Garten aus. Verzweifelt hantierte Jan mit dem Messer. Er musste blitzschnell sein. Schließlich gelang es ihm, das Klebeband an seinen Händen zu durchtrennen. Er legte sich wieder hin und verbarg die gesprengten Fesseln hinter seinem Rücken.
Maxi kam zurück, schob einen Hocker vor den Kaminofen und begann, Holz aufzuschichten; nicht sehr fachmännisch, aber äußerst konzentriert. Darum hatte er auch keine Augen für seine Geisel. Jan nutzte die Gelegenheit, griff nach dem Schürhaken und schlug seinem Wärter damit kräftig auf den Schädel. Maxi jaulte auf und fuhr herum. Jans Gehirn war längst in den Sauriermodus übergegangen: keinerlei Hemmungen, keine Bedenken, er wollte das hier einfach nur überleben, darum schlug er direkt wieder zu, gezielt auf die Schädeldecke über dem schmerz- und wutverzerrten Gesicht. Er sah in die nach oben rollenden Augen, die anzeigten, dass in Maxis Kopf das Licht ausging. Vielleicht war er tot, vielleicht brauchte er ärztliche Hilfe, vielleicht kam er gleich wieder zu sich. Jan war alles egal, er wollte nur möglichst schnell heraus aus der Gefahrenzone. Mit dem Rasiermesser zerschnitt er seine Fußfesseln, riss sich den Klebestreifen vom Mund und rannte ohne Jacke in die friesisch-winterliche Witterung. Er begann zu rennen, spürte, dass er nicht sofort Vollgas geben konnte, dafür waren seine Muskeln nicht warm genug und das fortgeschrittene Alter trug sein Übriges dazu bei. Er dachte nicht nach, spürte aber instinktiv, dass er erst warm werden musste, wenn er sich nicht mit einem plötzlichen Muskelriss selbst seiner letzten Überlebenschance berauben wollte. Er hatte keinen Plan, er wollte nur möglichst weit weg vom Haus. Jan rannte, wo er rennen konnte, quer über den Deich in die Dunkelheit, gegen den kalten Wind und den eisigen Nieselregen, der seine Gesichtshaut peinigte wie tausend Nadelstiche. Auf einmal gab der Boden unter seinen Füßen nach, er fiel hin, steckte im Schlick, wurde nass und kalt, wollte aufstehen und spürte, wie er tiefer einsank. "Verdammt!", dachte er. "Jetzt bin ich den Nazis entkommen, damit die Mordsee mich fressen kann." Schluchzer der Verzweiflung und der Wut entfuhren seinen Eingeweiden. Das konnte doch nicht alles gewesen sein. Er hatte doch noch so viel vor. Er blinzelte in die Dunkelheit. Das Wasser stieg.

Fortsetzung folgt am nächsten Freitag.

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