Samstag, 22. Januar 2022
# Eiskalter Januar - Kurzkrimi in vier Teilen - 2. Die Chance
Eine dreiviertel Stunde später rollen sie gemächlich auf der A 1 Richtung Nordsee. Maxi hatte bis dahin nicht gewagt, das Wort an seinen Entführer zu richten und Jan hatte beharrlich geschwiegen, obwohl sie ja bereits seit einer halben Stunde auf Autobahnen unterwegs waren, aber das waren die mit reichlich Verkehr, jetzt konnte er entspannt bei konstanten 130 km/h mit weniger Konzentration das Geschehen unter Kontrolle halten.
Also begann er ein Gespräch: "Warst du schon mal am Meer?"
"Klar."
"Wann?"
"Weiß ich nicht mehr."
"Weißt du denn noch wo?"
"Nee. Da war Sand und braunes Wasser."
"Klingt nach Nordsee. Gab es Wellen?"
"Keine Ahnung."
"Warst du denn drin im Wasser?"
"Ja. Klar. Macht man ja so, wenn man ans Meer fährt."
"Dann waren da wohl keine Wellen, sonst wüsstest du das noch. Da warst du wohl an der Küste. Da fahren wir jetzt auch hin."
"Warum?"
"Ich habe da ein Haus. Da können wir uns mal ganz in Ruhe unterhalten."
"Wozu?"
"Merkst du dann schon."
"Willst du mir an die Wäsche, Pastor?"
"Quatsch! Ich steh nicht auf Jungs. Ich denke, du hast dich verirrt und ich will dir helfen zurückzufinden."
"Wohin denn?"
"Auf einen Weg, auf dem du ein gutes Leben leben kannst, ohne anderen zu schaden."
"Und wenn ich das nicht will?"
"Bist du sicher, dass du überhaupt weißt, was du willst?"

Maxi schwieg und verstellte den Rückspiegel, so dass er die Heckscheibe im Blick hatte.
"Der Rückspiegel ist für den Fahrer.", sagte Jan und stellte ihn wieder passend für sich selbst ein. "Wenn Du auch einen haben willst, findest du einen hinter der Sonnenblende."
Maxi blickte verständnislos zu Seite. Jan vermutete, dass das seinem begrenzten Wortschatz geschuldet war und klappte die Sonnenblende über dem Beifahrersitz herunter.
"'N scheiß Schminkspiegel für Weiber!" stieß Maxi abfällig hervor und schubste die Blende mit einer rüden Bewegung wieder hoch.
"Solche Kleinigkeiten.", meinte Jan, "da stehst du doch drüber. Entscheidend ist, ob es funktioniert."
Maxi klappte die Sonnenblende wieder herunter und nutzte den Spiegel, um die Heckscheibe im Auge zu behalten.
"Hast Du Angst, dass uns die Polizei folgt?", fragte Jan.
"Kann man nie wissen.", meinte Maxi.
"Dann hätten die uns aber ziemlich spät eingeholt.", sagte Jan. "Bei dem moderaten Tempo, das ich vorgelegt habe, ist das mehr als unwahrscheinlich. Die prügeln sich bestimmt noch immer mit deinen Kameraden oder haben die schon bei sich in den Keller gesperrt."
Maxi schnaubte wortlos. Sie rollten wieder schweigend die Autobahn herunter und jeder Versuch des Pfarrers, den Jungen in ein persönliches Gespräch zu ziehen, scheiterte an dem vorgeschützten Desinteresse. Vielleicht, dachte Jan, kann ich ihn erreichen, wenn ich ihn an einen Ort führe, der Kindheitserinnerungen in ihm weckt. Er nahm sich vor, im Haus erst einmal einen Tee zu kochen, er würde dem Jungen einen Schuss Rum anbieten, das käme ihm sicher entgegen, auch wenn das genau genommen ungesetzlich war, doch Jan war sich sicher, dass Spirituosen für Maxi kein Neuland darstellten. Vielleicht würde er sich etwas entspannen und zugänglicher werden. Jan würde den Ofen anschmeißen und Maxi zu einem Deichspaziergang nötigen. Das machte den Kopf frei und nach einer Weile würde er wieder versuchen, ihn über seine Kindheitserinnerungen an den Ort seiner Seele zu führen, der noch unschuldig und unverletzt war. Irgendein Ansatz musste sich doch finden lassen.

Als sie nach zweieinhalb Stunden Fahrt endlich an dem Elternhaus seiner Frau ankamen, einem alten, kleinen Ziegelbau direkt hinterm Deich, umgeben von Weiden, spürte Jan, wie der Druck von ihm abfiel und ein warmer Strom der Zuversicht sich in ihm ausbreitete.
Maxi stieg aus und grinste schief.
"Nanu.", entfuhr es Jan. "Erkennst du was wieder?"
Maxi lachte dreckig. "Allerdings.", sagte er. "Ab sofort bist du derjenige der spuren muss."
Irritiert sah Jan sich um und schon kam der blaue VW Passat kurz vor seinen Füßen zum Stehen. Drei martialische Typen sprangen aus dem Fahrzeug, zwei Glatzen, einer mit gescheitelter Kurzhaarfrisur und etwas kultivierterem Outfit, aber ebenfalls deutlich als Neonazi zu erkennen. Diesmal war Jan viel zu überrascht von der Situation, als dass er noch hätte reagieren können. Die Kameraden packten ihn, nahmen ihm das Schlüsselbund ab und schickten Maxi vor, um das Haus aufzuschließen. Drinnen verpassten sie Jan mehrere Schläge und Tritte bis er ganz benommen zu Boden ging. Einer der Schläger suchte erfolgreich nach Material zum Fesseln und fixierte Jans Hände mit Reparaturband hinter dem Rücken. Auch die Füße band er ihm damit zusammen.
"Kleb ihm auch die Fresse zu.", forderte Maxi. "Dann nervt er uns wenigstens nicht mit seinem blöden Gequatsche."
Jan musste sich selbst beruhigen, denn durch die Nase bekam er kaum ausreichend Luft, weil die Schleimhäute wegen der Winterzeit leicht angeschwollen waren. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Einen geschützten Raum, einen behaglichen Rückzugsort für sich und seine Familie hatte er mit einem Schlag verbrannt. Wie sollten sie hier jemals wieder zur Ruhe kommen?
"Was machen wir mit der Judensau?", fragte eine der Glatzen.
"Lassen wir hier liegen.", sagte der mit den Haaren. "Kommt keiner drauf, dass wir das waren. Oder hattest du schon länger mit ihm zu tun, Maxe?"
"Nee.", sagte Maxi. "Der war nur gestern bei uns zu Hause, weil meine Omma gestorben is'. Freitag is' die Beerdigung. Der kennt mich nur von der Zeit, als ich zum Pappen musste, wegen Komfamation. Meine Alten wollten das unbedingt."
"Wenn den einer findet, bevor der hin is', kann der uns aber verpfeifen.", sagte die andere Glatze.
"Der pfeift nicht mehr.", sagte der mit den Haaren. "Wir müssen nur gut überlegen, wie wir es machen, damit es nicht nach Mord aussieht. Wisst ihr was? Ich hab? echt Kohldampf. Erst die Kundgebung und dann die lange Autofahrt. Wir gehen jetzt für alle Schnitzel holen, schön mit Sauce und Kartoffelsalat. Pass auf Maxe, dass er dir nicht abhaut. Kannst ja schon mal Feuer machen, damit wir's beim Essen schön warm haben."
"Kein Thema.", sagte Maxi. "Das Weichei ist ja kaltgestellt, kann eh nix machen."
Jans Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Wenn die abgebrühten Altglatzen aus der Schusslinie waren, ließ der Junge vielleicht mit sich reden. Sobald sie allein waren, begann er zu zappeln und wortlos zu quengeln, um ihn dazu zu bewegen, das Klebeband von seinem Gesicht zu entfernen.
"Halt die Fresse, Pastor, oder ich trete dir in die Eier.", schnauzte Maxi ihn an.
Jan verzichtete auf die Geräusche, zappelte aber weiter.
"Musst du pissen, oder was?"
Jan nickte eifrig.
"Na, dann komm, bevor du hier alles vollstinkst."
Maxi half ihm auf die Beine, trieb ihn vor sich her, ließ ihn zur Toilette hüpfen, riss ihm die Hose herunter und stellte ihn vor die Keramik. Jan drehte sich und setzte sich hin.
"Sitzpisser bist du also auch. War ja klar."
Als er fertig war, riss Maxi ihm die Hosen wieder hoch und verschloss widerwillig den Reißverschluss.
"Glaub ja nicht, dass ich 'ne Schwuchtel bin.", fuhr er ihn an. Er drehte sich um und sagte: "Los komm mit, Pastor. Ich muss dich im Auge behalten."
Jans Blick fiel auf das Rasiermesser auf dem niedrigen Holzregal neben dem Waschbecken.

Fortsetzung folgt nächsten Freitag

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