Freitag, 17. September 2021
In der Traufe
c. fabry, 11:37h
Kennen Sie das, wenn Menschen Sie freundlich anlächeln, oder sogar die ganze Zeit mit anstrengender Fröhlichkeit unter anhaltender Erregung vor sich hin lachen, während sie mit Ihnen reden und dabei durch jede Pore ihres Körpers latente Aggression ausströmen, so dass Sie es unter gar keinen Umständen ignorieren können? Wenn Ihnen mehrfach versichert wird, alles sei in bester Ordnung und plötzlich ist alles ganz furchtbar und Sie werden damit konfrontiert, dass Sie schon seit langem die schrecklichsten Fehler gemacht haben und dass man entsetzlich enttäuscht von Ihnen ist? Nicht? Dann waren Sie niemals bei den Evangelischen. Ich schon. Und mir war eines Tages klar geworden: Ich muss hier raus. Das geht überhaupt gar nicht mehr. Das sind nicht meine Leute. Alles viel zu verklemmt, zu feige, zu unehrlich, zu sehr durchzogen von falscher Scham. Menschen, die so tun, als seien sie die Guten, und zwar nur sie, dabei ihre dunklen Seiten entschieden leugnen, damit sie im Katastrophenfall mit umso gewaltigerer Wucht aus ihnen heraus explodieren. Und so hatte ich ihnen den Rücken gekehrt, den vermeintlich Sanftmütigen, den äußerlich Flauschig-Weichen mit dem steinharten Kern, dem eiskalten.
Endlich normale Leute dachte ich, nicht diese Heuchler, die ständig damit beschäftigt sind, zu beweisen, dass sie täglich ein Versprechen erfüllen, das sie doch nie einhalten können.
Endlich Leute, die nicht in Schnappatmung verfallen, wenn man sich für die Abschaffung des konfessionellen Religionsunterricht ausspricht, aktive Sterbehilfe richtig findet oder sich in politischen Auseinandersetzungen auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse von Karl Marx beruft. Endlich Leute mit denen man reden konnte.
Aber jetzt konnte ich gar nicht mehr reden. Carlo hatte meinen Mund mit Gaffer zugetaped. Genauso wie er mir Hände und Füße damit zusammengebunden hatte. Und wenn mich hier niemand heraus holte, dann würde ich auch nie wieder reden, denn was ich zu sagen hatte, das empfand Carlo als Bedrohung. Carlo, dieser Speichel leckende Fahrradfahrer, der sich die drittklassigen Aquarelle seines Abteilungsleiters ins Büro hängte, um sich bei ihm lieb Kind zu machen, der höchstselbst seinem farblos-unspektakulären Vornamen Carsten durch ein mediterranes Pendant mehr Glamour zu verleihen suchte. Aber das half nicht. Er blieb so farblos, unspektakulär, klein, unscheinbar, phantasielos und unattraktiv wie sein wahrer Vorname versprach. Nicht einmal die im Slimfit-Schnitt sich über dem spärlichen Gemächthügel spannende, leicht speckige, schwarze Lederhose vermochte ihm die Ausstrahlung verleihen, die zu verströmen er beabsichtigte.
Und ich hatte gedacht, die Christen sind schlimm und verrückt. Gegen die persönlichkeitsgestörten Jungs des städtischen Jugendamtes waren die liebenswert Durchgeknallten allenfalls Vorstadtneurotiker. Ein bisschen nervtötend, aber harmlos.
Der Bufdi hatte eines Montags in der Teepause mir gegenüber sein Schweigen gebrochen: "Was da im Backhaus abgeht, ist ja auch nicht mehr zu toppen." hatte er angefangen.
Das Backhaus war ein Jugendzentrum am Stadtrand, das sich in städtischer Trägerschaft befand. Viel Publikum aus einem nahe gelegenen sozialen Brennpunkt, unter der Leitung eines geschlechtsheterogenen Teams: Andro und Sabrina. Andro hieß eigentlich Andreas, aber das verlieh dem sich gern mit dem Flair eines geheimnisvollen Exoten umgebenden Sozialarbeiter zu wenig Extravaganz. Sabrina war sein weibliches Gegenstück, fleißig, bescheiden und ein wenig nicht von dieser Welt.
Nach acht Monaten stummer Zeugenschaft machte der Bufdi nun seinem Herzen Luft: "Eine Besucherin, die auf keinen Fall genannt werden will, hat mir anvertraut, dass Andro eine Nacht mit ihr verbracht hat, dabei ist sie erst vierzehn. Er hat wohl Jugendliche aus dem Backhaus zu sich nach Hause zum Serien-Bingewatching über Beamer eingeladen, es gab Biermix und Übernachtung auf Isomatten. Das Mädchen fand Andro ziemlich gut und hatte absichtlich nichts zum Übernachten mitgebracht, so ist sie dann in seinem Vier-Quadratmeter-Bett gelandet und wo sie schon mal da war, hat er dann gleich Nägel mit Köpfen gemacht. Sie hat sich nicht gewehrt, aber sich die ganze Zeit unwohl gefühlt und er hat am nächsten Morgen so getan, als wäre nichts gewesen und sie danach in der Einrichtung so behandelt, als würde er sie kaum kennen. Nach ein paar Wochen ist sie dann dahinter gekommen, dass er regelmäßig Mädchen mit ins Bett nimmt und alle halten die Klappe, weil es ihnen peinlich ist, weil sie es ja selbst so wollten."
Ich hielt kurz die Luft an. Dann sagte ich: "Ich weiß nicht, ob die Chefetage akzeptiert, dass Du Dein Versprechen halten willst. Dieses Versprechen hättest Du nicht geben dürfen. Ich muss auf jeden Fall die Abteilungsleitung davon in Kenntnis setzen. Das kann man nicht einfach so lassen."
Nun, ich hatte den Abteilungsleiter in Kenntnis gesetzt, er hatte mich aufgefordert direkt mit ihm ins Backhaus zu fahren, als der Bufdi dort auch gerade seinen Einsatz hatte und dann hatte er plötzlich diese seltsame Route eingeschlagen und als ich verwundert nachfragte, wo genau er denn jetzt eigentlich lang fahre, hatte er gemeint, er wisse schon was er tue und dann waren wir plötzlich bei dieser abgeranzten Hütte mitten im Wald gewesen.
"Das ist aber nicht das Backhaus.", sagte ich.
"Steig aus!", herrschte Carlo mich an.
Aussteigen erschien mir ohnehin die weitaus bessere Option zu sein, denn dass hier etwas nicht stimmte, war mir längst aufgefallen. Er ging an den Kofferraum. "Hilf mir mal!", sagte er und ich stellte mich fragend neben ihn. "Wobei?", wollte ich gerade fragen, da hatte er schon einen Gegenstand gepackt und mir über den Schädel gezogen. Als ich wieder aufwachte, saß ich hier, in diesem Dreckloch, gefesselt und geknebelt und vollkommen hilflos. Carlo wollte verhindern, dass seine Abteilung in ein schlechtes Licht geriet. Oder er steckte am Ende selbst mit drin in diesem Teenage-Binge-Fucking, das Andro betrieb. Mitarbeitenden einer städtischen Behörde traute niemand so etwas zu, waren schließlich keine Theologen.
"Was soll ich denn jetzt mit dir machen?" fragte Carlo. Ich starrte ihn böse an, antworten konnte ich ja nicht. "Wenn ich wüsste, dass du den Mund hältst", fuhr er fort, "könnte ich dich ja einfach laufen lassen. Aber kann ich mich darauf verlassen?"
Natürlich konnte er das nicht. Aber ich musste Zeit gewinnen, wenn ich überleben wollte, musste ihn davon überzeugen, dass ich bereit war, sein Spiel mitzuspielen. Also nickte ich heftig.
Er sah mich versonnen an, dann schüttelte er den Kopf. "Nein.", sagte er gedehnt. "Du willst nur deine Haut retten. Wenn ich dich jetzt laufen lasse, gehst du direkt zur Amtsleitung oder wendest dich gleich an die Presse. Ich sehe da keine Möglichkeit. Einen Skandal in meiner Abteilung kann ich beim besten Willen nicht gebrauchen. Und Andro ist ein echter Profi, sorgt regelmäßig für gute Presse und hat seinen Laden im Griff. Wenn ausgerechnet der gefeuert wird, geraten wir in Erklärungsnot, da kommt dann richtig was hinterher, dann werden wir als Leitung auf den Prüfstand gestellt, dann kommen diese ganzen Nebensätze: hätten sie merken müssen, hätten sie verhindern müssen, hätten Sie reagieren müssen. Am Ende wird man freigestellt, Bezüge werden gekürzt oder es gibt sogar ein Strafverfahren. Dass ihr jungen, aufstrebenden Mädels nicht einfach nur eure Arbeit machen könnt, dass ihr immer gleich den ganzen Laden aufräumen wollt, statt einfach mal in eurer eigenen Rumpelkammer anzufangen. Ich muss mir jetzt nur noch in Ruhe überlegen, wie ich es am besten mache. Du hast also noch ein bisschen Zeit, dein Leben in aller Ruhe Revue passieren zu lassen und für abschließende Gebete."
Er verließ den Raum. Er ging in Ruhe nachdenken. Wenn er zurück kam, hatte er sicher etwas dabei, mit dem er meinem Leben ein Ende setze - oder ein Transportmittel, um mich möglichst ohne Spuren zum Tatort zu befördern. Ich musste mich befreien, es wenigstens versuchen. So gut es ging, tastete ich den Boden mit den Fingern meiner hinter dem Rücken gefesselten Hände ab. Da war nichts als schmutziger Fußboden. Ich ließ angestrengt den Blick schweifen, bis ich unter einer Kommode einen Gegenstand entdeckte, der zu einem kleinen Teil hervorlugte. Das könnte ein Teppichmesser sein, schoss es mir durch den Kopf. Ich ließ mich auf die Seite fallen und robbte in dieser seltsamen Position langsam Stück für Stück durch den Raum, bis ich schließlich mit dem Rücken zur Kommode ankam und nach einigen Verrenkungen den Gegenstand zu fassen bekam. Es war tatsächlich ein Teppichmesser. Vorsichtig begann ich an dem Gaffertape zu arbeiten. Ich rutschte mehrmals ab und schnitt mir in die Finger, aber ich war viel zu verzweifelt, um von dem Schmerz überhaupt Kenntnis zu nehmen. Mir fiel nur auf, dass meine Hände immer klebriger wurden. Noch ein kleines Stück, dann waren die Hände befreit. Als nächstes schnitt ich die Fußfessel auf. Ich wollte gerade aufstehen, da hörte ich, dass Carlo zurückkam. Jetzt gab es nur noch eine Chance. Ich legte die Fußfesseln wieder an mit der Schnittstelle an der Rückseite meiner Beine. Die Hände steckte ich hinter den Rücken, den Knebel hatte ich ohnehin noch nicht entfernt.
Carlo trug ein Seil. Schon klar, dass er mich damit nicht fesseln wollte. Kluger Kopf, dachte ich. Erdrosseln hinterlässt keine Flecken, außer vielleicht die in Todesangst abgesonderten Fäkalien. Und danach kann man die Leiche in den Wald schleppen und an irgendeinem Baum einen Suizid inszenieren. Aber ich wog siebzig Kilo und Carlo war ein Wicht, ein Schmachtlappen, ein drahtiger Ausdauersportler zwar, aber klein, schmächtig und nichts im Ärmel. Ob er das bedacht hatte? Er legte das Seil auf einen Hocker und wandte mir den Rücken zu, weil er nach irgendetwas suchte. Jetzt!, dachte ich, sprang auf, griff nach dem Seil und schlang es ihm von hinten um den dürren Hals. Ich zog so lange zu, bis er zappelnd zu Boden ging. Den Schock machte ich mir zunutze, umwickelte seine Handgelenke und fixierte das Seil mit einem Achterknoten. Mit dem anderen Ende fesselte ich seine Füße in der gleichen Weise. Dann zog ich ihm den Ledergürtel aus den Hosenschlaufen und befestigte damit das Seil an einem Stützbalken. Er durfte nicht entkommen. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich seinen Autoschlüssel gefunden hatte, und dann fuhr ich los, um sein unrühmliches Ende einzuleiten, und das von Andro gleich mit.
Endlich normale Leute dachte ich, nicht diese Heuchler, die ständig damit beschäftigt sind, zu beweisen, dass sie täglich ein Versprechen erfüllen, das sie doch nie einhalten können.
Endlich Leute, die nicht in Schnappatmung verfallen, wenn man sich für die Abschaffung des konfessionellen Religionsunterricht ausspricht, aktive Sterbehilfe richtig findet oder sich in politischen Auseinandersetzungen auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse von Karl Marx beruft. Endlich Leute mit denen man reden konnte.
Aber jetzt konnte ich gar nicht mehr reden. Carlo hatte meinen Mund mit Gaffer zugetaped. Genauso wie er mir Hände und Füße damit zusammengebunden hatte. Und wenn mich hier niemand heraus holte, dann würde ich auch nie wieder reden, denn was ich zu sagen hatte, das empfand Carlo als Bedrohung. Carlo, dieser Speichel leckende Fahrradfahrer, der sich die drittklassigen Aquarelle seines Abteilungsleiters ins Büro hängte, um sich bei ihm lieb Kind zu machen, der höchstselbst seinem farblos-unspektakulären Vornamen Carsten durch ein mediterranes Pendant mehr Glamour zu verleihen suchte. Aber das half nicht. Er blieb so farblos, unspektakulär, klein, unscheinbar, phantasielos und unattraktiv wie sein wahrer Vorname versprach. Nicht einmal die im Slimfit-Schnitt sich über dem spärlichen Gemächthügel spannende, leicht speckige, schwarze Lederhose vermochte ihm die Ausstrahlung verleihen, die zu verströmen er beabsichtigte.
Und ich hatte gedacht, die Christen sind schlimm und verrückt. Gegen die persönlichkeitsgestörten Jungs des städtischen Jugendamtes waren die liebenswert Durchgeknallten allenfalls Vorstadtneurotiker. Ein bisschen nervtötend, aber harmlos.
Der Bufdi hatte eines Montags in der Teepause mir gegenüber sein Schweigen gebrochen: "Was da im Backhaus abgeht, ist ja auch nicht mehr zu toppen." hatte er angefangen.
Das Backhaus war ein Jugendzentrum am Stadtrand, das sich in städtischer Trägerschaft befand. Viel Publikum aus einem nahe gelegenen sozialen Brennpunkt, unter der Leitung eines geschlechtsheterogenen Teams: Andro und Sabrina. Andro hieß eigentlich Andreas, aber das verlieh dem sich gern mit dem Flair eines geheimnisvollen Exoten umgebenden Sozialarbeiter zu wenig Extravaganz. Sabrina war sein weibliches Gegenstück, fleißig, bescheiden und ein wenig nicht von dieser Welt.
Nach acht Monaten stummer Zeugenschaft machte der Bufdi nun seinem Herzen Luft: "Eine Besucherin, die auf keinen Fall genannt werden will, hat mir anvertraut, dass Andro eine Nacht mit ihr verbracht hat, dabei ist sie erst vierzehn. Er hat wohl Jugendliche aus dem Backhaus zu sich nach Hause zum Serien-Bingewatching über Beamer eingeladen, es gab Biermix und Übernachtung auf Isomatten. Das Mädchen fand Andro ziemlich gut und hatte absichtlich nichts zum Übernachten mitgebracht, so ist sie dann in seinem Vier-Quadratmeter-Bett gelandet und wo sie schon mal da war, hat er dann gleich Nägel mit Köpfen gemacht. Sie hat sich nicht gewehrt, aber sich die ganze Zeit unwohl gefühlt und er hat am nächsten Morgen so getan, als wäre nichts gewesen und sie danach in der Einrichtung so behandelt, als würde er sie kaum kennen. Nach ein paar Wochen ist sie dann dahinter gekommen, dass er regelmäßig Mädchen mit ins Bett nimmt und alle halten die Klappe, weil es ihnen peinlich ist, weil sie es ja selbst so wollten."
Ich hielt kurz die Luft an. Dann sagte ich: "Ich weiß nicht, ob die Chefetage akzeptiert, dass Du Dein Versprechen halten willst. Dieses Versprechen hättest Du nicht geben dürfen. Ich muss auf jeden Fall die Abteilungsleitung davon in Kenntnis setzen. Das kann man nicht einfach so lassen."
Nun, ich hatte den Abteilungsleiter in Kenntnis gesetzt, er hatte mich aufgefordert direkt mit ihm ins Backhaus zu fahren, als der Bufdi dort auch gerade seinen Einsatz hatte und dann hatte er plötzlich diese seltsame Route eingeschlagen und als ich verwundert nachfragte, wo genau er denn jetzt eigentlich lang fahre, hatte er gemeint, er wisse schon was er tue und dann waren wir plötzlich bei dieser abgeranzten Hütte mitten im Wald gewesen.
"Das ist aber nicht das Backhaus.", sagte ich.
"Steig aus!", herrschte Carlo mich an.
Aussteigen erschien mir ohnehin die weitaus bessere Option zu sein, denn dass hier etwas nicht stimmte, war mir längst aufgefallen. Er ging an den Kofferraum. "Hilf mir mal!", sagte er und ich stellte mich fragend neben ihn. "Wobei?", wollte ich gerade fragen, da hatte er schon einen Gegenstand gepackt und mir über den Schädel gezogen. Als ich wieder aufwachte, saß ich hier, in diesem Dreckloch, gefesselt und geknebelt und vollkommen hilflos. Carlo wollte verhindern, dass seine Abteilung in ein schlechtes Licht geriet. Oder er steckte am Ende selbst mit drin in diesem Teenage-Binge-Fucking, das Andro betrieb. Mitarbeitenden einer städtischen Behörde traute niemand so etwas zu, waren schließlich keine Theologen.
"Was soll ich denn jetzt mit dir machen?" fragte Carlo. Ich starrte ihn böse an, antworten konnte ich ja nicht. "Wenn ich wüsste, dass du den Mund hältst", fuhr er fort, "könnte ich dich ja einfach laufen lassen. Aber kann ich mich darauf verlassen?"
Natürlich konnte er das nicht. Aber ich musste Zeit gewinnen, wenn ich überleben wollte, musste ihn davon überzeugen, dass ich bereit war, sein Spiel mitzuspielen. Also nickte ich heftig.
Er sah mich versonnen an, dann schüttelte er den Kopf. "Nein.", sagte er gedehnt. "Du willst nur deine Haut retten. Wenn ich dich jetzt laufen lasse, gehst du direkt zur Amtsleitung oder wendest dich gleich an die Presse. Ich sehe da keine Möglichkeit. Einen Skandal in meiner Abteilung kann ich beim besten Willen nicht gebrauchen. Und Andro ist ein echter Profi, sorgt regelmäßig für gute Presse und hat seinen Laden im Griff. Wenn ausgerechnet der gefeuert wird, geraten wir in Erklärungsnot, da kommt dann richtig was hinterher, dann werden wir als Leitung auf den Prüfstand gestellt, dann kommen diese ganzen Nebensätze: hätten sie merken müssen, hätten sie verhindern müssen, hätten Sie reagieren müssen. Am Ende wird man freigestellt, Bezüge werden gekürzt oder es gibt sogar ein Strafverfahren. Dass ihr jungen, aufstrebenden Mädels nicht einfach nur eure Arbeit machen könnt, dass ihr immer gleich den ganzen Laden aufräumen wollt, statt einfach mal in eurer eigenen Rumpelkammer anzufangen. Ich muss mir jetzt nur noch in Ruhe überlegen, wie ich es am besten mache. Du hast also noch ein bisschen Zeit, dein Leben in aller Ruhe Revue passieren zu lassen und für abschließende Gebete."
Er verließ den Raum. Er ging in Ruhe nachdenken. Wenn er zurück kam, hatte er sicher etwas dabei, mit dem er meinem Leben ein Ende setze - oder ein Transportmittel, um mich möglichst ohne Spuren zum Tatort zu befördern. Ich musste mich befreien, es wenigstens versuchen. So gut es ging, tastete ich den Boden mit den Fingern meiner hinter dem Rücken gefesselten Hände ab. Da war nichts als schmutziger Fußboden. Ich ließ angestrengt den Blick schweifen, bis ich unter einer Kommode einen Gegenstand entdeckte, der zu einem kleinen Teil hervorlugte. Das könnte ein Teppichmesser sein, schoss es mir durch den Kopf. Ich ließ mich auf die Seite fallen und robbte in dieser seltsamen Position langsam Stück für Stück durch den Raum, bis ich schließlich mit dem Rücken zur Kommode ankam und nach einigen Verrenkungen den Gegenstand zu fassen bekam. Es war tatsächlich ein Teppichmesser. Vorsichtig begann ich an dem Gaffertape zu arbeiten. Ich rutschte mehrmals ab und schnitt mir in die Finger, aber ich war viel zu verzweifelt, um von dem Schmerz überhaupt Kenntnis zu nehmen. Mir fiel nur auf, dass meine Hände immer klebriger wurden. Noch ein kleines Stück, dann waren die Hände befreit. Als nächstes schnitt ich die Fußfessel auf. Ich wollte gerade aufstehen, da hörte ich, dass Carlo zurückkam. Jetzt gab es nur noch eine Chance. Ich legte die Fußfesseln wieder an mit der Schnittstelle an der Rückseite meiner Beine. Die Hände steckte ich hinter den Rücken, den Knebel hatte ich ohnehin noch nicht entfernt.
Carlo trug ein Seil. Schon klar, dass er mich damit nicht fesseln wollte. Kluger Kopf, dachte ich. Erdrosseln hinterlässt keine Flecken, außer vielleicht die in Todesangst abgesonderten Fäkalien. Und danach kann man die Leiche in den Wald schleppen und an irgendeinem Baum einen Suizid inszenieren. Aber ich wog siebzig Kilo und Carlo war ein Wicht, ein Schmachtlappen, ein drahtiger Ausdauersportler zwar, aber klein, schmächtig und nichts im Ärmel. Ob er das bedacht hatte? Er legte das Seil auf einen Hocker und wandte mir den Rücken zu, weil er nach irgendetwas suchte. Jetzt!, dachte ich, sprang auf, griff nach dem Seil und schlang es ihm von hinten um den dürren Hals. Ich zog so lange zu, bis er zappelnd zu Boden ging. Den Schock machte ich mir zunutze, umwickelte seine Handgelenke und fixierte das Seil mit einem Achterknoten. Mit dem anderen Ende fesselte ich seine Füße in der gleichen Weise. Dann zog ich ihm den Ledergürtel aus den Hosenschlaufen und befestigte damit das Seil an einem Stützbalken. Er durfte nicht entkommen. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich seinen Autoschlüssel gefunden hatte, und dann fuhr ich los, um sein unrühmliches Ende einzuleiten, und das von Andro gleich mit.
... comment