Freitag, 23. Juli 2021
Flut
Sie war entkommen. Ihre Instinkte arbeiteten noch einwandfrei, trotz ihres fortgeschrittenen Alters. Die Arthrose hatte sie im Augenblick der Flucht nicht gespürt, das Bloß-weg-hier hatte alles beherrscht. Aber die, die sie liebte hatte sie nicht retten können, sie hoffte von Herzen, dass sie sich ebenfalls rechtzeitig in Sicherheit hatten bringen können.
Das Wasser war etwas brackig, aber trinkbar. Mäuse gab es hier jetzt reichlich, sie konnte hier ausharren, bis alles wieder abgeflossen war. Sie ahnte noch nicht, dass der Ort, an dem sie gewohnt hatte, für immer verschwunden war.
Und dann sah sie sie: Henriette. Gestern morgen hatte sie ihr noch ihr Lieblingsmenü kredenzt: Lachs in würziger Sauce. Sie sah so anders aus: bleich und nass und irgendwie aufgebläht. An der Stirn hatte sie eine hässliche Delle; die Spitze von Ludwigs gepflegtem Dachdeckerhammer hätte perfekt hineingepasst.
Henriette würde kein Menü mehr servieren, das spürte sie deutlich. Ludwig hatte ihr nie etwas spendiert, wenn sie Glück hatte, hatte er sie einfach nicht beachtet, sie hatte sich vor ihm hüten müssen, wenn sie nicht mit einem Tritt an einen anderen Ort befördert werden wollte.
Mit Henriette hatte er das auch gemacht, aber Henriette war nie geflogen, sondern gestürzt und dann hatte sie geschrien und geweint und Ludwig hatte erst zu treten aufgehört, wenn Henriette keinen Mucks mehr von sich gegeben hatte.
Sie ahnte, dass niemand fragen würde, wie Henriette gestorben war. Ludwig war sicher davongekommen und sie würde sich nach einem anderen Zuhause umsehen müssen. Das würde sich finden. Mäuse gab es ja vorerst genug.

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