Freitag, 28. Mai 2021
Nazgul
Christian genoss die Stille des Augenblicks. Keine Geräuschlosigkeit, keine Reglosigkeit wie in einem aufgeräumten Zen-Zimmer. Das Rauschen des Windes in den Blättern, die Pfiffe der Vögel, in der Ferne das Blöken der Schafe. Und alles war in Bewegung: die wiegenden Wipfel, die flatternden Falter, das gurgelnde Wasser im Bachlauf. Aber nichts davon wirkte aufschreckend, irritierend, bedrohlich oder enervierend. Es war alles so, wie Gott es gemacht hatte und es war sehr gut. Hier war der perfekte Ort, um die Pfeile über die Lichtung zu schicken, auf das weit entfernte Ziel, dann gemächlich zu wandern, sich an der Anzahl der Treffer zu erfreuen, die Geschosse wieder einzusammeln, zurückzulaufen und erneut in höchster Konzentration die Bogensehne zu spannen, eins zu werden mit dem Langbogen und im richtigen Moment, im richtigen Winkel loszulassen und den Pfeil in die Freiheit zu schicken, sich selbst seinen Weg zu suchen.
So musste man es auch mit seinen Kindern machen: sie in die passende Startposition versetzen, sie lange genug festhalten, bis man sicher war, dass die Richtung stimmte und dann loslassen, unwiederbringlich, und darauf vertrauen, dass sie sich ihren Weg suchten und das Ziel nicht verfehlten. Und wenn ungünstige Seitenwinde einen Strich durch die Rechnung machten und sie knapp daneben landeten, so war das nicht das Ende, dann gab es eben einen nächsten Versuch. Und noch einen, bis sie dort ankamen, wo sie ankommen sollten.
Miriam würde sich auch zu gegebener Zeit von Julius trennen, sie würde schon merken, dass der leichtfüßige Geselle ihr nicht guttat. Er sorgte sich nur manchmal, dass Julius mit seinen waghalsigen Unternehmungen Miriam mit in den Abgrund ziehen könnte und dann hätte sie vielleicht keine Gelegenheit zu merken, wie schädlich er für sie war.

Patrick fühlte sich großartig. Endlich wieder oben, nur das Rauschen des Windes in den Ohren, unter sich die zweidimensionale Landschaft, wie eine Insel aus der Perspektive eine Fährschiffs, alles klar und deutlich zu erkennen, aber in sicherer Entfernung, außer Hörweite, nahezu unwirklich, wie eine fremde Welt, zu der es keine Verbindung gab und aus der man auch nicht behelligt werden konnte. Dies war die beste Möglichkeit, allem Schweren und Düsteren zu entkommen, die Muskeln zu entspannen und den Kopf frei zu kriegen. Drei Starts würde er sich heute mindestens gönnen, danach gut essen und früh, fest und lange schlafen. So gestärkt würde er die kommende Woche problemlos überstehen.

Sie flogen wieder. Kaum erlaubte ein sonniger Tag, entspannt auf der Terrasse zu sitzen, schon kreisten die fliegenden Männer bedrohlich über dem Kaffeetisch. Genaugenommen waren sie nur gleitende Männer, fliegen konnte man das, was sie da taten, schwerlich nennen, denn es geschah nicht nur ohne eigene Kraftanstrengung, sie schraubten sich, die Thermik über dem frisch gepflügten Feld ausnutzend in großen Kreisen langsam zurück in weniger tragende Luftschichten, um schließlich sanft zu landen und sich erneut mit der Winde hochziehen zu lassen.
Norbert hatte stets Angst, dass eines Tages einer von ihnen aus heiterem Himmel auf seine Schultern krachte. Schlimm genug, wenn sich der Angeber den Hals brach, aber wenn er ihn dabei gleich noch mitnahm, war das mehr als nur ein unangenehmes Ärgernis.

Ein gewaltiger Schatten flog über die Lichtung. Christians Nackenhaare stellten sich auf. Manchmal fragte er sich, ob es sich da um rudimentäre Kleintier-Instinkte handelte, waren doch Kaninchen, Hasen, Katzen, Hühner, Fasane und natürlich Ratten und Mäuse von Angriffen großer Vögel bedroht. Menschen hatten so etwas ja nie erlebt. Als der Mensch sich entwickelte, waren die Flugsaurier schon ausgestorben. Und die drachenartigen Reittiere, auf denen die Ringgeister in J.R.R. Tolkiens Meisterwerk die Lüfte unsicher machten, existierten nur in Legenden und Phantasien. Doch es war schaurig, bei einem so riesigen Schatten kein verdächtiges Geräusch zu hören. Er blickte nach oben und erkannte den Paraglider. Das gehörte auch zu Julius Halsbrecher-Hobbys. Es wäre ihm ja egal gewesen, hätte er nicht so eine furchtbare Angst um seine einzige Tochter. Es war nur eine Frage der Zeit, er würde sie zu einem Tandemflug überreden und dann zu noch einem? bis es schließlich schiefging. Warum mussten Menschen so leichtfertig und ohne Not die eigene Gesundheit, wenn nicht sogar ihr Leben und das ihrer Mitmenschen aufs Spiel setzen?

Riesige Kreise waren heute möglich, viel Zeit um die Welt auf Abstand zu halten und sich ihr doch nicht vollständig zu entziehen. Patrick bewunderte die Landschaft aus der Vogelperspektive: Zuerst die trockene, braune Erde, über der die von der Sonne aufgeheizte Luft flimmerte, dann das Gras der Weide, die blühenden Büsche und Stauden des angrenzenden Gartens, ein frisches, grünes Getreidefeld und noch ein Stück Wald, der eine sonnendurchflutete Lichtung umschloss. Es war ein kleines Areal, aber es wirkte auf ihn, als kreise er mehrmals um die ganze Welt und mit jeder Runde wurde sein Atem tiefer und sein Geist freier.
Der Waldschrat richtete seinen Blick sehnsüchtig nach oben. Ja, er würde auch neidvoll in den Himmel blicken, wenn er jetzt mit seiner ganzen, körperlich Schwere an den Boden gefesselt wäre, nur langsam Schritt für Schritt vorankäme, mit dem eingeschränkten Gesichtsfeld der Fußgängerperspektive. Jeder Baum, jeder Busch, Jede kleine Hütte ein Hindernis. Manchmal kamen Muggel an die Winde geschlichen und erkundigten sich devot, wie das alles funktionierte und wenn sie etwas dreister waren, gern auch mal, ob sie es auch einmal probieren dürften. Die hatten keine Vorstellung davon, wie viel Aufwand man im Vorfeld betreiben musste und wie teuer der Spaß war. Er zog dann immer mit einem freundlichen Grinsen eine Karte aus der Brusttasche und erklärte: ?Das ist die Webseite unseres Vereins. Da finden Sie alle Informationen über Anmeldung und Preise für Tandemflüge und Anfängerkurse.? Dann hielten sie die Klappe und fragten nicht weiter. Zahlen oder sich Mühe geben wollte ja niemand. Alles Schmarotzer.

Norbert goss sich eine zweite Tasse Kaffee ein. Schon zum zweiten Mal hielt der Segler auf sein Haus zu, hatte einen ganz schönen Zahn drauf und wurde um einiges sichtbarer. Gegen neugierige Passanten konnte man Hecken pflanzen, doch sogar darauf hatte er weitestgehend verzichtet, weil er in seinem Garten den weiten Blick liebte, er wollte nicht vor eine grüne Wand starren und diejenigen, die an seinem Haus vorbei kamen, hatten andere Ziele vor Augen, als die undurchsichtige Botanik seines naturnahen Gartens. Aber von oben, die hatten ja sonst nichts, die glotzten einem die Torte vom Teller, das war übergriffig und wenn man nicht im Schatten eines Sonnenschirmes sitzen wollte, gab es dagegen keinen Schutz.

Christian hatte gerade alle Pfeile verschossen, da kam der Verrückte schon wieder angeflogen. Es fehlte nicht mehr viel und seine Füße streiften die Wipfel der Buchen, die weit in den Himmel aufragten. In der nächsten Runde würde er irgendwo hängen bleiben, Bäume beschädigen, Jungvögel aus ihren Nestern kegeln, den Frieden stören. Die vergnügungssüchtigen Geldsäcke machten einfach vor gar nichts halt und die anderen Menschen waren meistens zu höflich, um sich ihnen in den Weg zu stellen.

Patrick staunte über die vielen Nester die er in den hohen Bäumen ausmachen konnte. Beim nächsten Aufstieg würde er sein Smartphone mitnehmen. Spektakuläre Fotos, die er sich ansehen konnte, wenn er einmal nicht mehr in der Lage war, über den Dingen zu schweben.

Bei der dritten Runde kam der Gleitschirmsegler so tief, dass Norbert das Flattern der ultraleichten Textilien deutlich hören konnte. Also konnte der Flieger auch ihn hören. "Sie sind lästig!", brüllte er nach oben. "Ich glotze Ihnen ja auch nicht auf den Kaffeetisch!"

Christian sammelte die Pfeile ein: vier Volltreffer, zwei knapp daneben. Er wurde immer besser, je mehr er das Geschehen um sich herum ausblendete, aber er hätte sicher sechs Volltreffer gelandet, wenn er sich nicht über den Gleitschirm geärgert hätte.

Der Kaffeetischsitzer bellte Patrick etwas entgegen. Er war zu weit weg und hier oben war zu viel Wind, um es zu verstehen. Es klang auf jeden Fall nicht freundlich. Vermutlich hatte er Sorge, der Gleitschirm könne ihm auf die Terrasse stürzen und sein Meißner Porzellan zerdeppern oder Schlimmeres. Ob er sich über die Autos, die mit einem Affenzahn an seinem Grundstück vorbei rasten, genauso viel Sorgen machte? Wie viele waghalsige Überholmanöver hatten wohl schon in seiner Hecke geendet? Aber so waren die Spießer. Immer eine Scheißangst vor dem Ungewohnten. Und vor allem, von dem sie selbst nichts verstanden.
Der Waldschrat dagegen folgte ihm erneut mit seinen sehnsüchtigen Blicken. Er könnte ja in der nächsten Runde versuchen, auf der Lichtung zu landen und ihm eine Karte zustecken. Das wäre doch mal ein schöner Spaß, auch wenn er danach mindestens eine Viertelstunde zu Fuß laufen musste, wenn nicht sogar eine halbe. Er hatte ja noch Zeit, es sich zu überlegen.

Beim vierten Mal sprang Norbert panisch von seiner Gartenbank und flüchtete ins Haus. Es hatte wirklich so ausgesehen, als würde der Verrückte gleich auf sein Grundstück krachen. Hoffentlich knallte er nicht aufs Dach. Ob er die Polizei verständigen sollte? aber die würden ihn nur auslachen.

Christian war fassungslos. Der Idiot war doch beinahe in den Garten gekracht. Gemeingefährlich war der. Man musste diese Wahnsinnigen aufhalten, ein Exempel statuieren.

Patrick konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, denn der Tortenopa rannte panisch ins Haus. Vermutlich klingelte das Telefon. So waren ältere Leute ja. Meinten, sie müssten immer reagieren, wenn es klingelte. Das Mobiltelefon verweigern, sich aber vom Festnetzanschluss terrorisieren lassen. Gut, dass es hier oben so still war.

Norbert wagte sich wieder auf seine Terrasse, denn der Paraglider entfernte sich gerade in Richtung Wald. Selbst in der Entfernung störte das Flugobjekt seine feiertägliche Nachmittagsruhe. Zumal er sich schon oft darüber geärgert hatte, dass diese selbstverliebten Wichtigtuer mit ihrem Equipment den Feldweg blockierten, den er als Radweg nutzte, um an der stark befahrenen Landstraße nicht von einem Raser über den Haufen gefahren zu werden. Wenn die Nazgul ? wie er sie nannte ? hier ihr Unwesen trieben, musste er jedes Mal absteigen und sein Fahrrad über das bestellte Feld tragen; selbst Schieben war nicht möglich zwischen Zuckerrüben, Kartoffelhügeln oder Maispflanzen.

Ein eigenartiges Kribbeln kroch Christians Nacken empor. Das Denken setzte aus. Er war nur noch ein strafender rächender, Gott, eine männliche Artemis. Der Bogen wurde zu einem Glied seines Körpers, die Sehne einer seiner Muskeln und der Pfeil war sein Sohn. Er gab seinem Sohn die Richtige Richtung und dann ließ er ihn los, damit er seinen Weg fand. Und er fand ihn.

Patrick badete im Licht des azurblauen Himmels. Von den Wipfeln der nahenden Buchen startete ein seltsamer Vogel. War das ein Storch? Oder ein Fischreiher? Schlank und stromlinienförmig schoss er wie ein Pfeil durch die Luft. So einen seltsamen Flieger hatte er noch nie gesehen. Er kam direkt auf ihn zu. Hoffentlich verhedderte er sich nicht in den Schnüren, das wäre kein Spaß! Er hörte in seltsames Geräusch, dann pfiff der Wind so laut und der Boden kam viel zu schnell näher.

Norbert traute seinen Augen nicht. Plötzlich und ohne erkennbaren Grund klappte der Gleitschirm zusammen wie ein Stück Tischwäsche, das man vor der Fahrt zur Heißmangel zusammenlegte. Wie ein Stein stürzte der Freizeitsportler vom Himmel. Er kam an der Stelle herunter, an der das Bachbett besonders felsig war. Er rannte wieder ins Haus, um den Notruf zu alarmieren.

Sie hatten alle drei die Stille gesucht, aber nur einer hatte sie endgültig gefunden.

... comment