Freitag, 5. Februar 2021
Nazarener
Es war ein mulmiges Gefühl, mit dem sie die Kirche heute betrat. Zum ersten Mal wieder ein richtiger Präsenz-Gottesdienst. Zum ersten Mal nach dem Tag. Nicht dem Tag, an dem die Sonne am Himmel steht, nein nach dem Tag, dem unverwechselbaren Zeichen eines Graffity-Künstlers – oder Graffity-Dilettanten oder Dilettantin. Nur dies war ja eigentlich kein Tag gewesen sondern ein Symbol der Vogelfreiheit. Hier sind Nazarener, Juden oder Christen, kann man abschlachten.

Niemand vermutete einen drohenden Anschlag. Viel zu ungenau und hastig hingemalt das Zeichen. Da hatte ein Teenager, der mal so richtig provozieren wollte, die Hosen voll. Einer der irgendwo etwas aufgeschnappt hatte und auch mal einer von den ganz bösen Jungs sein wollte. Denn vor den bösen Jungs hatten alle Angst. Die bösen Jungs wurden weder übersehen noch ausgelacht, auch nicht verbal oder mit Fäusten zusammengefaltet. Die Bösen Jungs waren die, die zusammenfalteten, über alles hinweg gingen und am Ende am lautesten lachten. Eigentlich war die neonfarbene Schmiererei nichts als ein Aufschrei der Ohnmacht. Aber das schlechte Gefühl blieb.

Es kribbelte im Nacken. Lag das am lang vermissten Hallelujah? Sie konnte den Gedanken nicht mehr zu Ende denken. Plötzlich war alles auf einmal: laut, hell, heiß, drückend, reißend und dann nichts mehr.

Kerim zuckte zusammen. Es piepte in seinen Ohren, alle Geräusche außerhalb seines Kopfes nahm er wie durch Watte wahr. Ein rauchender Trümmerhaufen, da wo er mehrere Sommer abends auf den Stufen gesessen und mit seinen Kumpels schachtelweise Kippen weggeraucht hatte. Wo er vor ein paar Wochen, etwas an die Wand gemalt hatte. Nur so zum Spaß. Weil die ihn nervten, die komischen Leute da, die immer so nett taten, ihn aber in Wirklichkeit nirgends dabei haben wollten. So etwas spürte man.

Kerim aber, hätte lieber dazu gehört, statt sie jetzt brennen zu sehen. Er hatte nichts getan. Nur ein bisschen gesprüht. Er hatte es nicht so gemeint. Hatte nur die Bilder genossen, die er mit seiner Tat in seinem Kopf heraufbeschworen hatte. Furchtsam aufgerissene Augen in den selbstzufriedenen Gesichtern. Unsicherheit bei den Satten und Etablierten.

Mit der Gastfreundschaft war das so eine Sache. Er hatte sie verraten, seine Gastgeber an ihre Schlächter verraten, die Gastfreundschaft selbst verraten, ihr Blut klebte jetzt an seinen Händen.

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