Freitag, 7. Februar 2020
Blutige Erben
c. fabry, 11:24h
Es war ein gewaltiger Zug. Sie trugen ihn an einen Pfahl gebunden durch die Straßen, eine aufgewühlte Menschenmenge um ihn herum, wie bei einer sizilianischen Karfreitags-Prozession. Oder hing er an einem Kreuz? Sie konnte es nicht einmal sagen. Sein Rücken war gerade und in einer Kurve hatte sie kurz einen Blick auf sein Gesicht erhaschen können: starr und hölzern, wie bei einer Puppe.
Sie wollte in Kontakt treten und in seine sehenden Augen blicken, die sie erkannten, aber das wollten alle anderen auch, sie sah nur von weitem seinen Rücken. Sie kämpfte sich weiter nach vorne, entschlossen, mit der Energie einer Verzweifelten. Ihr stockte der Atem: Seine Haut war fast schwarz, nicht dunkel pigmentiert, sondern so, als wäre sie verbrannt – oder verrottet.
Sie stellte sich seinen Trägern in den Weg und blickte hoch in sein Gesicht, doch sie sah nichts als Leere darin. Sein Kopf kippte vornüber, ein Sterbender am Kreuz, ein Gekreuzigter, ein Gestorbener.
Die Menge schob sie zur Seite und trug ihn weiter. Sie fiel, stand wieder auf, rannte hinter ihm her. Sie musste ihn berühren, wenn sie ihn nur einmal kurz anfassen könnte, dann würde er wieder atmen, zurückkehren.
Sie schaffte es, legte ihre Hände auf seinen festen, geraden Rücken. Aber er war schwarz, seltsam hart und kalt. Nicht eiskalt wie eine erstarrte Leiche, aber kalt genug, um zu spüren, dass das Leben aus ihm gewichen war. Sie weinte, schrie, heulte, rief seinen Namen. Er wurde fortgetragen.
Was für ein Scheißtraum. Sie träumte nie von Hannes, da gab es nichts zu verdrängen, das sich im Schlaf Bahn brechen musste. Und jetzt so ein gruseliger Schwachsinn. Hannes als Gekreuzigter und sie selbst als Maria Magdalena. Dabei wollte ihn niemand kreuzigen, er opferte sich nicht, er ging nur einfach fort, würde munter weiter leben.
Und er ließ auch kein Chaos zurück, hatte allen, die seine Aufgaben übernehmen sollten, seine Unterstützung zukommen lassen. Trotzdem würde er eine große Lücke hinterlassen, riesige Fußstapfen, in denen niemand sicher und zielgenau gehen konnte so wie er. Aber so war das mit den Heilsbringern, Supermenschen, Nächstenliebemultiplikatoren: sie hatten viel zu geben, trösteten, heilten, retteten, bauten auf, machten es allen schön und hinterließen Stabilität, Orientierung, liebe Erinnerungen, Stärkung, Wärme, Licht und jede Menge Schmerz und Traurigkeit, wenn sie ihr Wirkungsfeld verließen. Ihre Nachfolger hatten es schwer, aber sie teilten es unter sich auf.
Und dann brach doch das Chaos aus. Obwohl längst abgesprochen war, dass Larissa sein wichtigstes Ressort übernehmen sollte, kam plötzlich Konrad aus der Deckung der chronisch desinteressierten Tatenlosigkeit und brachte einen anderen Kandidaten ins Spiel. Er würde Till ansprechen und sie ahnte, wie er dazu kam. Mit Larissa hatte Konrad Stress, und außerdem beherrschte sie sein Arbeitsgebiet besser als er. Das wurmte ihn.
Der karrieregeile Till würde nicht einen Moment zögern, die Chance ergreifen, die Ressortleitung übernehmen, wenn man ihn ließ. Und man würde ihn lassen, denn er war ein Meister der Selbstinszenierung, der es verstand, sich zu verkaufen. Die Arbeit hinter den Kulissen überließ er gern den anderen. Er würde sie alle instrumentalisieren, um seine Projekte umzusetzen und sich damit ein dickes Brett für den nächsten Karrieresprung zu sichern.
Larissa dagegen tat, was getan werden musste, hielt den Mitarbeitenden den Rücken frei, hielt sich selbst im Hintergrund, stärkte, unterstützte beratend, gab Impulse, äußerte Bedenken. Etwa so, wie Hannes es auch gehalten hatte.
Nach dem Chaos saß sie vor diesem schmucklosen Schreibtisch und fragte sich, ab welchem Punkt es falsch gelaufen war. Wäre sie etwas schneller gewesen, hätte es nur einen Toten gegeben und sie wäre womöglich davon gekommen. Egal, welchen von beiden sie sich zuerst vorgeknöpft hätte, es hätte das Ableben des anderen überflüssig gemacht, nur rechtzeitig hätte sie handeln müssen. Hatte sie aber nicht.
Um zu verhindern, dass Konrad sein Anliegen überhaupt an Till herantrug, hatte sie ihm nach Feierabend aufgelauert – er parkte seinen Wagen gern in einer dunklen Ecke – und blitzschnell seine Beinschlagader mit einem sehr scharfen Küchenmesser durchtrennt. Als er zusammensackend nach dem Warum fragte, erklärte sie: „Du hättest uns Till vor die Nase gesetzt. Das muss ich verhindern. Du hältst ihn für den Größten, das tut er auch, aber er ist nur ein kleiner Mann, der ganz schnell nach oben will und der uns alle als Steigbügel benutzen würde, wenn man ihm ließe. Ich lasse ihn nicht. Wenn ihn niemand fragt, kommt er auch nicht auf dumme Gedanken.“
„Aber ich hab‘ ihn schon gefragt.“, erklärte Konrad, dann verdrehte er die Augen und atmete bewusstlos seinem Ende entgegen.
Das war dumm gelaufen, denn jetzt musste auch Till aus dem Weg geschafft werden, vermutlich war er schon im Rennen. Sie nahm ihn sich auf dieselbe Weise vor, nur erklärte sie ihm nicht warum. Sollte er doch dumm sterben. Und er starb schnell, schneller als Konrad. Doch dann saß Larissa plötzlich in Untersuchungshaft. Sie hatte kein Alibi, ein glasklares Motiv und schwache Nerven. Sie konnte sie unmöglich ihrem Schicksal überlassen und musste sich stellen.
Nun würde sie bis ans Ende ihrer Tage im Gefängnis sitzen und den scheidenden Hannes würde sie wohl nie wieder zu Gesicht bekommen, denn mit einer Mörderin wollte er gewiss nichts zu tun haben.
Wenigstens erhielt Larissa die Stelle der Ressortleiterin.
Sie wollte in Kontakt treten und in seine sehenden Augen blicken, die sie erkannten, aber das wollten alle anderen auch, sie sah nur von weitem seinen Rücken. Sie kämpfte sich weiter nach vorne, entschlossen, mit der Energie einer Verzweifelten. Ihr stockte der Atem: Seine Haut war fast schwarz, nicht dunkel pigmentiert, sondern so, als wäre sie verbrannt – oder verrottet.
Sie stellte sich seinen Trägern in den Weg und blickte hoch in sein Gesicht, doch sie sah nichts als Leere darin. Sein Kopf kippte vornüber, ein Sterbender am Kreuz, ein Gekreuzigter, ein Gestorbener.
Die Menge schob sie zur Seite und trug ihn weiter. Sie fiel, stand wieder auf, rannte hinter ihm her. Sie musste ihn berühren, wenn sie ihn nur einmal kurz anfassen könnte, dann würde er wieder atmen, zurückkehren.
Sie schaffte es, legte ihre Hände auf seinen festen, geraden Rücken. Aber er war schwarz, seltsam hart und kalt. Nicht eiskalt wie eine erstarrte Leiche, aber kalt genug, um zu spüren, dass das Leben aus ihm gewichen war. Sie weinte, schrie, heulte, rief seinen Namen. Er wurde fortgetragen.
Was für ein Scheißtraum. Sie träumte nie von Hannes, da gab es nichts zu verdrängen, das sich im Schlaf Bahn brechen musste. Und jetzt so ein gruseliger Schwachsinn. Hannes als Gekreuzigter und sie selbst als Maria Magdalena. Dabei wollte ihn niemand kreuzigen, er opferte sich nicht, er ging nur einfach fort, würde munter weiter leben.
Und er ließ auch kein Chaos zurück, hatte allen, die seine Aufgaben übernehmen sollten, seine Unterstützung zukommen lassen. Trotzdem würde er eine große Lücke hinterlassen, riesige Fußstapfen, in denen niemand sicher und zielgenau gehen konnte so wie er. Aber so war das mit den Heilsbringern, Supermenschen, Nächstenliebemultiplikatoren: sie hatten viel zu geben, trösteten, heilten, retteten, bauten auf, machten es allen schön und hinterließen Stabilität, Orientierung, liebe Erinnerungen, Stärkung, Wärme, Licht und jede Menge Schmerz und Traurigkeit, wenn sie ihr Wirkungsfeld verließen. Ihre Nachfolger hatten es schwer, aber sie teilten es unter sich auf.
Und dann brach doch das Chaos aus. Obwohl längst abgesprochen war, dass Larissa sein wichtigstes Ressort übernehmen sollte, kam plötzlich Konrad aus der Deckung der chronisch desinteressierten Tatenlosigkeit und brachte einen anderen Kandidaten ins Spiel. Er würde Till ansprechen und sie ahnte, wie er dazu kam. Mit Larissa hatte Konrad Stress, und außerdem beherrschte sie sein Arbeitsgebiet besser als er. Das wurmte ihn.
Der karrieregeile Till würde nicht einen Moment zögern, die Chance ergreifen, die Ressortleitung übernehmen, wenn man ihn ließ. Und man würde ihn lassen, denn er war ein Meister der Selbstinszenierung, der es verstand, sich zu verkaufen. Die Arbeit hinter den Kulissen überließ er gern den anderen. Er würde sie alle instrumentalisieren, um seine Projekte umzusetzen und sich damit ein dickes Brett für den nächsten Karrieresprung zu sichern.
Larissa dagegen tat, was getan werden musste, hielt den Mitarbeitenden den Rücken frei, hielt sich selbst im Hintergrund, stärkte, unterstützte beratend, gab Impulse, äußerte Bedenken. Etwa so, wie Hannes es auch gehalten hatte.
Nach dem Chaos saß sie vor diesem schmucklosen Schreibtisch und fragte sich, ab welchem Punkt es falsch gelaufen war. Wäre sie etwas schneller gewesen, hätte es nur einen Toten gegeben und sie wäre womöglich davon gekommen. Egal, welchen von beiden sie sich zuerst vorgeknöpft hätte, es hätte das Ableben des anderen überflüssig gemacht, nur rechtzeitig hätte sie handeln müssen. Hatte sie aber nicht.
Um zu verhindern, dass Konrad sein Anliegen überhaupt an Till herantrug, hatte sie ihm nach Feierabend aufgelauert – er parkte seinen Wagen gern in einer dunklen Ecke – und blitzschnell seine Beinschlagader mit einem sehr scharfen Küchenmesser durchtrennt. Als er zusammensackend nach dem Warum fragte, erklärte sie: „Du hättest uns Till vor die Nase gesetzt. Das muss ich verhindern. Du hältst ihn für den Größten, das tut er auch, aber er ist nur ein kleiner Mann, der ganz schnell nach oben will und der uns alle als Steigbügel benutzen würde, wenn man ihm ließe. Ich lasse ihn nicht. Wenn ihn niemand fragt, kommt er auch nicht auf dumme Gedanken.“
„Aber ich hab‘ ihn schon gefragt.“, erklärte Konrad, dann verdrehte er die Augen und atmete bewusstlos seinem Ende entgegen.
Das war dumm gelaufen, denn jetzt musste auch Till aus dem Weg geschafft werden, vermutlich war er schon im Rennen. Sie nahm ihn sich auf dieselbe Weise vor, nur erklärte sie ihm nicht warum. Sollte er doch dumm sterben. Und er starb schnell, schneller als Konrad. Doch dann saß Larissa plötzlich in Untersuchungshaft. Sie hatte kein Alibi, ein glasklares Motiv und schwache Nerven. Sie konnte sie unmöglich ihrem Schicksal überlassen und musste sich stellen.
Nun würde sie bis ans Ende ihrer Tage im Gefängnis sitzen und den scheidenden Hannes würde sie wohl nie wieder zu Gesicht bekommen, denn mit einer Mörderin wollte er gewiss nichts zu tun haben.
Wenigstens erhielt Larissa die Stelle der Ressortleiterin.
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der imperialist,
Sonntag, 9. Februar 2020, 12:58
Hat was von der CDU-CSU.
Oder habe ich mich da völlig vertan.
Nächstenliebemultiplikatoren finde ich einen schönen Begriff. Wirtschaftswissenschaftler sprechen da von "Tugendkreisen". Wenn das auch was strukturelles ist.
Nächstenliebemultiplikatoren finde ich einen schönen Begriff. Wirtschaftswissenschaftler sprechen da von "Tugendkreisen". Wenn das auch was strukturelles ist.
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c. fabry,
Sonntag, 9. Februar 2020, 16:21
CDU / CSU ?
Assoziieren Sie da die Merkel-Nachfolge? Vermutlich ist es überall das gleiche, egal ob in der freien Wirtschaft, in der Kirche, in der Politik oder im örtlichen Heimatverein. Es gibt überall Blender, die sich auf Kosten anderer profilieren wollen (z.B. Merz) und es gibt immer übereifrige, junge Naive (Junge Union), die auf die Bleder hereinfallen, weil sie sich so sehr danach sehnen, dass deren Versprechen wahr werden. Am Ende haben sich die Blender dann aber nur versprochen.
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der imperialist,
Sonntag, 9. Februar 2020, 21:53
Ja. Die dortiges Vorsitzende wird als Kanzlerkandidatin nach und nach abmontiert. Auch weil die Kanzlerin nicht weicht. Und weil es halt Teile der CDU gibt die den Merz präferieren. Und das läuft dann alles über einige Bande. Mal so, mal so.
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al bern,
Sonntag, 9. Februar 2020, 23:29
Mir gefällt der Beginn, mit dem Alptraum.
Und dass sie am Schluss soviel Ehrgefühl hatte, sich zu stellen, um eine Unschuldige zu schützen.
Das dazwischen war gefällig, ein normaler Kurzkrimi eben.
Und dass sie am Schluss soviel Ehrgefühl hatte, sich zu stellen, um eine Unschuldige zu schützen.
Das dazwischen war gefällig, ein normaler Kurzkrimi eben.
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