Freitag, 16. August 2019
Erschütternde Begegnung
Wer ist das? Sieht aus wie der Bruder, der, der vor zehn Jahren an Krebs gestorben ist. Nur war er schmaler im Gesicht, gezeichnet von der Chemotherapie und die Haarstoppeln waren nur noch ein Kranz und bedeckten nicht den vorderen Kopf.
Und dann erkennt sie die Farbe der Iris, das Muttermal am rechten Nasenflügel, der Schwung der Augenbrauen und die verräterische kleine Lücke zwischen den Schneidezähnen. Es ist ihr Gesicht, aber im falschen Rahmen, so als hätte jemand die Landschaft in Öl, die seit fünf-und-fünfzig Jahren im üppigen, gold lackierten Holzrahmen über dem Sofa hängt, in einen rahmenlosen Bildhalter mit steingrauem Passepartout gepresst.
Der Anblick erinnert an die Unglücklichen in den Jahren ihrer Kindheit, die man einer radikalen Behandlung unterziehen musste, weil Kopfläuse sich in ihrer Haarpracht eingenistet hatten. Aber sie hatte keine Kopfläuse, noch nie gehabt, im Leben nicht.

Mit Häftlingen hat man das früher auch getan, vor allem mit den Opfern der Nazis, die man in den Todeslagern behandelte wie Schlachtvieh in Massentierhaltung.

So lange sie denken kann, nein nicht ganz, seit ihrem vierten Hochzeitstag, hat sie ihr Haar ein-einhalb Finger lang getragen. Beim Friseur eine Dauerwelle legen lassen, nach einer Woche an jedem Samstag waschen, Festiger, Strähne für Strähne auf Wickler gedreht, dann eine halbe Stunde unter der Trockenhaube Kartoffeln geschält oder die Hände manikürt, Wickler gelöst, durchgekämmt, fertig und eine Woche lang Ruhe. Sie hat damit immer perfekt ausgesehen: in jungen Jahren brünett, später meliert, dann coloriert kaschiert und schließlich hat sie das silbergrau selbstbewusst und stolz getragen.

Selbst aufdrehen geht schon lange nicht mehr. Die Schwiegertochter hat sich beklagt, sie schaffe das nicht mehr mit den Haaren. Was die nur hat. Ins gemachte Nest hat sie sich damals gesetzt. Dabei hat sie sich schon immer gehen lassen. Farblos, ungepflegt, mit schlaffen Muskeln und teigiger Haut, Speckrollen und glanzlosem Haar. Sie schaffte es nicht einmal, sich anständig anzuziehen. Nur ihre zwei missratenen Kinder hat sie großgezogen, das Geld hat der Ehemann rangeschafft und das nicht zu knapp. Damals hat sie sich beklagt, sie wolle wieder arbeiten, aber das sei unmöglich, wenn ihr niemand die Kinder abnehme. Phantasielose Tranfunzel, das schafften ja sogar Alleinerziehende, ohne die Generation ihrer Mütter einzuspannen. Aber die Schwiegertochter war sogar mit ihrer kleinen Wohnung und ein wenig Gartenarbeit überfordert, sogar jetzt, wo die missratenen Kinder längst aus dem Haus sind. Eine halbe Stunde die Woche Haare aufdrehen, zu viel Arbeit, unfassbar.

Arglos hat sie sich dem ins Haus bestellten Friseur ausgeliefert. Sie hatten sie in dem Glauben gelassen, er mache ihr nur eben die Haare, dann müsse sie nicht extra mit dem Auto zu ihrer Stammfriseurin, wo sie immer noch ein paar Treppenstufen überwinden muss, was ihr zunehmend schwerfällt. Es war nicht die Schere, die sie irritiert hat, sondern das andere Gerät, das komische Summen und dieser harte Gegenstand so nah an der Kopfhaut, ein Gefühl, als werde man für die Hinrichtung vorbereitet.

Das ist nicht mehr sie selbst. Sie haben sie zum Sträfling gemacht, planen ja auch, sie in den Knast abzuschieben. Es nennt sich zwar Pflegezentrum, aber es unterscheidet sich in nichts von einem Gefängnis: totale Fremdbestimmung, keine Privatsphäre, liebloses Kantinenessen, gefangen in einer Zelle mit genormten Betten, geregelten Besuchszeiten und uniformiertem Personal, das einem die Leviten liest, wenn man nicht spurt. Das hat sie schon in der Kurzzeitpflege kennengelernt. Wenn sie also ohnehin in den Knast muss, dann will sie es sich wenigstens verdienen.

Mit der brüchigen Stimme einer vom Leben Gezeichneten kräht sie den Namen ihrer Schwiegertochter so lange, bis die gleichzeitig gelangweilt und verärgert im Türrahmen erscheint.
„Mir ist der Kamm runtergefallen, kannst du mir den mal aufheben?“
„Wozu brauchst du noch einen Kamm?“
„Der ist runtergefallen, der kann doch da nicht liegen bleiben.“
„Meinetwegen.“

Da ist noch immer der Riesenflacon mit Eau de Cologne, der lediglich zu dekorativen Zwecken auf der Fensterbank steht, ein uraltes Werbegeschenk, das die Schwiegertochter schon oft entsorgen wollte, dessen Verbleib die alte Frau aber bis jetzt erfoglreich verteidigt hat. Mit der letzten Kraft ihrer drei-und-neunzig Jahre greift sie nach der Flasche und zertrümmert sie auf dem dahinwelkenden Schädel der lebenslang verachteten Schwiegertochter. Das Aroma des billigen Kosmetikums vermischt sich mit dem metallischen Geruch des Blutes und des kalten Schweißes der Todesangst. Fast schon Konzeptkunst, angesichts der Fleisch gewordenen Geschmacklosigkeit, die die Schwiegertochter immer für sie verkörpert hat. Eine letzte Genugtuung, ein endültiger Sieg und die Gewissheit, dem geliebten Sohn die Erlösung auf dem Silbertablett serviert zu haben.

Wenn sie Glück hat, kann sie es als Unfall verkaufen.

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Die Idee gefällt mir gut, die Ausführung auch. Eine klassische kleine böse Geschichte, die ich mir auch gut als Folge der leider nicht mehr gesendeten "Krimistunde" vorstellen könnte, wobei man da gucken müsste, was man mit dem inneren Monolog macht.

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Ist das jetzt Satire oder meinst Du das ernst? ;-)

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Wieso Satire? Nee, war ernst gemeint.

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Das ist ja nett. Hätte Dir aber auch eine kleine Frotzelei nicht übel genommen ;-)

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Ich will Dir jetzt mal was sagen, Frau @fabry: Du bist noch besser geworden in dem Jahr, in dem ich nicht hier war: Toller Text, tolles Thema, rasant kaltblütig umgesetzter Schwiegertochter-Mord (Unfall)!

Frenetischer Beifall aus der Fankurve!!!

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Interessant, ich dachte eigentlich, ich hätte deutlich nachgelassen. Dankeschön.

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Neineineinein: Ich habe den Text gelesen und gedacht: Chapeau, die Frau schreibt besser und besser!
Manchmal glaube ich, als Kreative schätzt man seine eigenen Sachen nie richtig (ein) - weil es eben keine objektiven Kriterien gibt für Kunst, Literatur, Musik …
Ich quäle mich gerade wieder in einem Schreibforum, weil ich (immer noch) glaube, man müsse mir sagen wie's funktioniert, ob eine Text nach "literarischen Kriterien" gut ist …
Bei mir ist das immer so' ne Phase der Unsicherheit … und dann lese ich einen völlig unbekannten Autor, den ich Klasse finde und denke: Siehste, der/dem hat auch keiner gesagt, wie Klasse er/sie zu lesen ist.
Schade.
Ich reiche der Frau @fabry also meine wohlgefüllte Schale der Ermutigung: Mach' n Buch draus, liest sich mega!;)

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Mag ich sehr. Hab selbst meine beiden Großmütter in ihren letzten Jahren begleitet und denke im Nachhinein oft: Wie zur Hölle haben die es fertig gebracht, keinen von uns zu töten? Man ist ja oft so sehr mit sich selbst und den vermeintlich unstemmbaren Alltagsnichtigkeiten befasst gewesen, dass diese Personen, die auch noch da waren im Haus, so unglaublich belastend wirkten mit ihren Bedürfnissen und ihrer Einsam- und Hilflosigkeit. Und dann sind das nichtmal süße Babys, aus denen irgendwann mal ein richtiger Mensch wird, das sind schon richtige Menschen gewesen, da kommt nix mehr außer noch mehr Hilflosigkeit und Elend und Unterbrechung im superaufreibenden Alltag. Finde, der Stolz der alten Dame und dieses widerliche Ausgeliefertsein, die Angst vor dem und die Gewissheit dessen ja an jedem Geburtstag größer wird, sind hier sehr schön angelegt, ohne dass sie einem zu ausufernd vorgekaut werden. Ein letzter Akt der Selbstbestimmtheit oder die lauteste Form von: Ich bin noch da. Wirklich, sehr gelungen.

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Danke, Danke!

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