Freitag, 1. Juli 2016
Erbarmungslos - zweiteiliger Kurzkrimi – Teil I
Der Geruch war so entsetzlich, wie es in einem derartigen, anonymen Wohnsilo bei der gegenwärtigen sommerlichen Schwüle zu erwarten war. Hier fühlte sich niemand für irgendetwas oder irgendwen außerhalb seiner eigenen, privaten Wohnräume verantwortlich. Es stank nach Urin, saurer Milch und geronnenem Blut, von dem sich eine gewaltige Pfütze auf dem Boden ausgebreitet hatte. Die Leiche der jungen Frau lag zwar in der halb geöffneten Wohnungstür, aber ihre Mitbewohner hatten sie entweder beim Verlassen der eigenen Wohnungen oder bei der Rückkehr in dieselben nicht bemerkt oder – was wahrscheinlicher war – ignoriert, weil Hilfestellung Ärger mit sich bringen konnte oder zumindest den persönlichen Zeitplan durcheinander brachte.
In einem weißen Overall trat Kriminalkommissarin Sabine Kerkenbrock aus der Wohnung und sah ihren ranghöheren Kollegen herausfordernd an. „Na, Herr, Keller? Auch schon am Tatort?“, fragte sie keck.
„Ich hatte noch einen Arzttermin“, entschuldigte Stefan Keller sich. „Aber Sie haben in der Zwischenzeit doch sicherlich schon alle wesentlichen Spuren zusammengetragen und mir eine Menge zu erzählen.“
„In der Tat.“, erwiderte die junge Polizistin. „Das Opfer heißt Nadine Dünker, 28 Jahre alt, alleinstehend, Erzieherin in einer Kindertageseinrichtung. Die Einrichtungsleitung hat ihr heute Morgen auf den AB gesprochen, weil sie nicht zur Arbeit erschienen ist. Wir können gleich dorthin fahren und erste Gespräche führen, denn von der Familie, deren Nummern im Adressbuch stehen, haben wir noch niemanden erreicht. Ach ja, Konstanze Flegel meint, sie muss gestern Abend, etwa gegen 23 Uhr mit mehreren Messerstichen getötet worden sein. Sie hat dem Täter selbst die Tür geöffnet und ist dann hier im Eingangsbereich niedergestochen worden. Von den Nachbarn hat niemand etwas gemerkt, nur ein früher Paketbote, der ein Stockwerk höher etwas abgeben wollte, hat die Tote gefunden.“
In der KiTa herrschte blankes Entsetzen. Alle beschrieben Nadine Dünker als eine lebenslustige junge Frau, bei den Kindern und den Kolleginnen gleichermaßen beliebt, attraktiv und sympathisch, aber auch keine leichtsinnige Partylöwin, die an jedem Wochenende eine andere Zufallsbekanntschaft aus der Disco abgeschleppt hätte. Niemand hatte den Hauch einer Ahnung, wer einen Grund gehabt hätte, ihr das anzutun.
Sie hatten nach zwei Tagen noch keinen nennenswerten Ermittlungsansatz, da wurde die nächste Frauenleiche aufgefunden: Anja Depenbrock, 45 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder, war beim abendlichen Joggen mit einem Stein erschlagen worden. Normalerweise hätten die ermittelnden Beamten keinen Zusammenhang hergestellt: der erste Mord geschah im Stadtgebiet, der zweite im ländlichen Umfeld. Das erste Opfer war jung und alleinstehend gewesen, das zweite eine gestandene Familienfrau. Der erste Mord geschah in den eigenen vier Wänden, der zweite in der Öffentlichkeit; das erste Opfer war niedergestochen worden, das zweite erschlagen. Doch es gab zwei wesentliche Gemeinsamkeiten: erstens grenzenlose Brutalität, die auf ungezügelte Wut deutete und zweitens der gemeinsame Arbeitsplatz der beiden Frauen: Die Kita Kunterbunt des Evangelischen Trägerverbundes im Stadtgebiet.
Die Einrichtungsleiterin Charlotte Schweppe fühlte sich sichtlich unbehaglich, als die Beamten zum zweiten Mal bei ihr vorstellig wurden.
„Ich habe absolut keine Idee, was hier vor sich geht.“, erklärte sie. „Offen gestanden sind wir neben der Trauer und dem Entsetzen im Moment auch viel zu sehr damit beschäftigt, die Ausfälle zu kompensieren. Beide Kolleginnen sind voll eingeplant und zwei weitere befinden sich zur Zeit im Jahresurlaub, die kann ich auch nicht zurückholen, die eine ist ohne Handy auf Wandertour in Schottland unterwegs, die andere liegt in Thailand am Strand.“
„Seit wann können Hungerlohn-gebeutelte Erzieherinnen sich so kostspielige Ferien leisten?“, fragte Keller hellhörig.
„Gute Frage.“, antwortete Charlotte Schweppe. Unsere Schottland-Expertin lebt so reduziert, dass sie praktisch nur die Anreise finanzieren muss: wandern, zelten, einkaufen im Supermarkt und selbst kochen. Die andere Kollegin ist mit einem Pfarrer verheiratet. Noch Fragen?“
„Ja.“, erklärte Keller, „aber keine die das Urlaubsverhalten ihrer Mitarbeiterinnen betreffen. Gibt es in ihrem Team vielleicht eine Kollegin, die die beiden im Visier hatte? Oder gab es in der letzten Zeit auffällige Helikopter-Eltern, die ihre Kolleginnen möglicherweise für eine Fehlentwicklung bei ihrem Kind verantwortlich machten?“
Die Leiterin überlegte kurz, schüttelte dann aber entschieden den Kopf. „Nein, solche Geschichten hört man ja immer wieder, sowohl von Zickenkrieg unter Kolleginnen als auch von besagten Übereltern, die überall mitbestimmen wollen und immer etwas zu nörgeln haben und die Defizite ihrer selbst verzogenen Kinder der Kita ankreiden. Aber ich bin jetzt schon einige Jahre hier und habe so etwas noch nicht erleben müssen.“
„Wie sieht denn der Stellenplan aus?“, fragte Kerkenbrock. „Vollzeit, Teilzeit, befristet, unbefristet und so weiter.“
„Also bis auf unsere Jahrespraktikantin und eine Berufseinsteigerin sind alle unbefristet beschäftigt. Anja hatte eine halbe Stelle, genauso wie Karin – die ist gerade in Thailand – und Janine, die ist vor einem Jahr nach der zweiten Schwangerschaft wieder eingestiegen.“
„Das heißt, niemand mit Teilzeitbeschäftigung sehnt sich nach einer vollen Stelle?“
„Doch, Franziska, das habe ich vergessen. Sie ist erst seit kurzem bei diesem Träger und im Sozialplan ganz unten. Als im letzten Herbst mehr Kinder gingen als dazu kamen, mussten wir eine viertel Stelle abgeben und da war Franziska dran. Normalerweise einigen wir uns im Team, wer vorübergehend mal ein paar Stunden abgeben möchte, manchmal passt das ja ganz gut in die Lebensplanung, aber diesmal wollte keine verzichten, da hat es eben Franziska getroffen. Wenn die Anmeldezahlen wieder steigen, kann sie aber wieder aufstocken. Sie hätte auch ein paar Stunden in einer anderen Kita dazunehmen können, aber dazu hatte sie keine Lust.“
„In welcher anderen Kita?“, fragte Keller.
„Das weiß ich nicht mehr.“, erwiderte die Erzieherin. „Da ist ja ständig alles in Bewegung. Wir sind alle zentral angestellt und werden nach Bedarf auf die Einrichtungen verteilt oder lösen das Problem mit flexiblen Stundenkontingenten. Es gibt immer welche, die sich gelegentliche Reduzierungen leisten können.“
„Da kommt eine Menge Arbeit auf uns zu.“, erklärte Keller im Auto. „Wir müssen etwa zweihundert Beschäftigte überprüfen, von denen vermutlich ein Drittel in Teilzeit arbeitet und im Detail herauszukriegen, wer von denen das wirklich freiwillig tut, erfordert ein wenig Fingerspitzengefühl.“
„Glauben Sie wirklich, eine Erzieherin mordet, um ihr Stundenkontingent aufzustocken? Wer braucht denn bitte schön eine Aufstockung von eineinhalb Stellen?“
Die systematische Überprüfung der Erzieherinnen des Evangelischen Trägers stellten sie hintenan, als zwei Tage später die dritte Frauenleiche auftauchte, die mit Benzin übergossen und angezündet worden war. Es handelte sich auch bei dieser um eine Erzieherin, allerdings um eine, die zurzeit ohne Beschäftigung war. Sie lebte allein, war siebenunddreißig Jahre alt und hatte stapelweise Bewerbungen geschrieben, nachdem sie vor drei Monaten ihr Arbeitsverhältnis auf eigenen Wunsch beendet hatte. Keller und Kerkenbrock suchten die städtische Kita am Rosengarten auf und sprachen mit der Leiterin. Die erklärte: „Frau Potthoff ist es in den zweieinhalb Jahren, die sie bei uns war, nicht gelungen, sich in das Team einzufinden. Ich habe mittlerweile mit der Einrichtung telefoniert, bei der sie vor ihrer mehrmonatigen Arbeitslosigkeit und dem Beschäftigungsverhältnis bei uns angestellt war. Sie hatte es mal in der ostwestfälischen Provinz versucht, ist da aber wohl überall angeeckt, weil ihr immer alles nicht professionell genug war, aber niemand auf ihre Verbesserungsvorschläge eingehen wollte. So ähnlich hat sie damals ihren Wechsel zu uns auch erklärt, aber auch damit, dass es sie zurück in die Großstadt zog. Doch das Problem, das sie bei den von ihr so bezeichneten Landpomeranzen hatte, hatte sie offensichtlich auch bei uns.“
„Haben Sie ihre Bewerbungsunterlagen noch da?“
„Ja, selbstverständlich.“, antwortete die Leiterin und stellte sie den Beamten zur Verfügung. Beim Lesen der Unterlagen riss Kerkenbrock plötzlich die Augen auf.
ENDE TEIL I – Fortsetzung folgt am 08.07.

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