Freitag, 27. Dezember 2024
2nd Spoiler 12
1978
Als Vierjährige besuchte Sigrid endlich den Kindergarten in Häger. Sie war begeistert von den ihr uferlos erscheinenden Spielmöglichkeiten, von dieser perfekt auf die Träume und Sehnsüchte von Kindern abgestimmte Welt. Stühle, auf die man sich einfach setzen konnte, ohne zu klettern, an Tischen in passender Höhe, kleine Klos, niedrige Waschbecken, leuchtend farbiges Essgeschirr, herrliche Bauklötze, Puppen mit perfekter Ausstattung, Lego, Bastelpapier, Brettspiele, Holzperlen, Musikinstrumente, Malutensilien...und liebenswert freundliche Erzieherinnen, die sich täglich neue Abenteuer ausdachten, mitspielten, zuhörten, trösteten, einen zum Lachen brachten.
Darüber hinaus wimmelte es von Spielkameradinnen und Spielkameraden. Welch ein Vergnügen es war, mit anderen Kindern Rollenspiele in der Puppenecke zu veranstalten, große Schlösser aus Holzklötzen zu bauen und sie wieder einzureißen, hoch zu schaukeln, Verstecken zu spielen oder Sandkuchen zu backen.
Sigrid schloss Freundschaften mit Jungen und Mädchen, erhielt Einladungen zu Geburtstagsfeiern, verabredete sich und war mit ihrem Leben im Großen und Ganzen glücklich und zufrieden.
Allmählich lernte sie, ihre Mutter zu lesen, wann es besser war, ihr aus dem Weg zu gehen, ihr nicht zu widersprechen, sie nicht zu stören. War sie entspannt und ausgeglichen, ließ sich gut mit ihr auskommen, lachen, spielen und verwöhnt werden.
Renate hatte ebenfalls das Gefühl, dass sie nun in ruhigerem Fahrwasser unterwegs war und sah die Ursache dafür im Kindergarten, der sie entlastete und Sigrid etwas zu bieten hatte.

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Freitag, 6. Dezember 2024
2nd Spoiler 11
1976
Trotzanfälle von Kleinkindern können Eltern leicht an ihre Grenzen bringen. Bei Dreijährigen ist dieser erste Akt bewusster Selbstständigkeit im Leben besonders ausgeprägt. Oft beginnt es aber schon vor Vollendung des dritten Lebensjahres. So ging es auch mit Sigrid. Sie hatte sehr klare Vorstellungen bezüglich ihrer Präferenzen von Lebensmitteln, Farben oder Spielzeugen. Dabei erwies sie sich als Kompromisslos, unabhängig davon, ob es nur einen Handgriff erforderte oder man die halbe Welt aus den Angeln heben musste, um ihrem Wunsch zu entsprechen. Das konnte sehr anstrengend sein, vor allem dann, wenn egen weiterer Faktoren ohnehin schon Dampf im Kessel war.

An diesem Morgen wollte sie ihren Brei aus der Schale mit den Kätzchen.
„Miez!“, sagte Sigrid bestimmt.
In einer Stunde musste die Gaststube hergerichtet sein – eine Gruppe von Geschäftsleuten hatte sich zum Frühschoppen angemeldet. Das Katzenschälchen war noch schmutzig vom Vortag und stand krustig eingetrocknet im unteren Drittel eines gigantischen Spülberges, den zu beseitigen sie sich für die Zeit des Kochens der Mittagsmahlzeit vorgenommen hatte. Hildegard saß beim Friseur und Ulrich erledigte Einkäufe.
„Die Miez schläft ganz tief, die kann heute Morgen nicht.“, versuchte Renate, ihre Tochter zu beschwichtigen. „Wenn du alles aufisst, findest du die Ente.“
„Will keine Ente!“, protestierte Sigrid. „Ich will die Miez!“
„Aber die Miez ist krank.“
„Ich will die Miez! Ich will die Miez!“, kreischte Sigrid in immer höheren Tönen und schlug mit Wucht rhythmisch mit dem Löffel auf den Brei, sodass der Tisch, die Bank, die Stühle und sogar die Wand Spritzer abbekamen.
„Jetzt hab‘ ich aber genug!“, brüllte Renate und ihre Faust sauste auf den Tisch. „Die Miez ist krank und du isst jetzt deinen Brei und hörst auf hier rumzusauen!“
Sigrid hielt kurz inne vor Schreck, dann brüllte sie um so höher und lauter: „Die Miez! Ich will die Miez!“, begleitet von heißen Tränen und herzzerreißenden Schluchzern.
Plötzlich stand Ulrich in der Küchentür. „Was ist den hier los?“, fragte er.
„“Gar nichts.“, schrie Renate gereizt. „Sie macht Theater, das ist alles.“ Dann wandte sie sich erneut an das Kind: „Sei endlich still und iss. Sonst kommt die Miez nie wieder.“
Nun geriet Sigrid noch mehr in Rage.
„Warum gibst du ihr das Schälchen nicht?“, fragte Ulrich verwirrt.
Renates Stimme überschlug sich fast, als sie erklärte: „Weil es dreckig und angetrocknet ganz unten im Spülberg steckt und ich keine Zeit habe.“
„Sag das doch gleich.“, meinte Ulrich. Er nahm Sigrid auf den Arm und sagte: „Komm, wir suchen die Miez, Mama hat keine Zeit..“
Er ging mit der Kleinen zum Stapel mit dem schmutzigen Geschirr und ziegte ihr den Rand eines Schüsselchens, bei dem es sich wahrscheinlich um das begehrte Objekt handelte.
„Guck mal, Siggi, ich kann die Miez da jetzt auch nicht raus holen, die ist ganz tief vergraben und bis wir die ausgegraben haben, hast du so doll Hunger, dass du gar nicht mehr gucken kannst. Jetzt essen wir was, dann graben wir die Miez aus und heute Mittag isst du wieder aus der Miez. Was meinst du?“
Sigrid schien noch nicht zufrieden, wurde aber langsam ruhiger und die Abstände zwischen den Schluchzern vergrößerten sich. Ulrich sang ihr etwas vor und überzeugte sie mit albernen Spielchen, den Brei zu löffeln, bis sie wieder lachte. Auch Renate beruhigte sich, überließ das Kind dem Vater und bereitete die Gaststube vor. Als sie in die Küche zurück kam, hatte ihr Mann das Katzenschälchen ausgegraben und Sigrid stand auf einem Hocker vor dem Spülbecken und reinigte unter väterlicher Anleitung ihr Lieblingsgeschirr. Das entlockte Renate ein liebevolles Lächeln. Sie gab Mann und Tochter einen Kuss, den Sigrid eher stoisch erduldete.

Und dann kam Weihnachten. Es war anstrengender als bei anderen Leuten, das Weihnachtsgeschäft im Gasthof mitzunehmen und gleichzeitig ein stimmungsvolles Fest für die ganze Familie vorzubereiten mit gutem Essen, Festschmuck, Lichterbaum, Geschenken und leuchtenden Kinderaugen. Aber es gelang. Als sie den Schlüssel hinter dem letzten Gast umdrehten, nahmen sie Platz in der Weihnachtsstube, die sie nebenbei abwechselnd vorbereitet hatten. Sigrid hatte bereits zu Abend gegessen, es wurde gesungen, dann durfte die Kleine zum Entzücken der Erwachsenen ihre Geschenke auspacken und etwas naschen. Danach blieb ihr noch etwas Zeit zum Spielen, während die Erwachsenen ihre Päckchen öffneten und Hildegard in der Küche verschwand, um das Abendessen für die Erwachsenen anzurichten.
Als Renate ihre Tochter zu Bett brachte, ganz beseelt von dem perfekten, stimmungsvollen Abend, spürte sie, dass etwas das Bild störte. Sie trug das Kind ins Schlafzimmer, aber die Kleine wirkte dabei leicht distanziert, als handele es sich nicht um ihre Mutter sondern eine Tante, eine Fremde, von der man nicht wusste, ob man ihr trauen konnte.

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Samstag, 30. November 2024
1974
Nach zwei Jahren Ehe und geschäftlichem Neustart war es endlich so weit, die nächste Generation zog in den Gasthof ein, Sigrid Husemann wurde geboren.
Für Renate war dies das bisher größte Glück in ihrem Leben. Sie blühte auf, strahlte und ging auf in der neuen Aufgabe. Da war einerseits die natürliche Bindung an das eigene Kind, das aufregend Neue, die mit der Geburt verbundene Hormonausschüttung und andererseits die Bestätigung und Anerkennung, die sie in diesem Ausmaß nie zuvor erfahren hatte, dazu Kontakte mit anderen jungen Müttern.
Hildegard hielt ihr im Gasthof weitestgehend den Rücken frei, sodass sie sich zunächst zurücklehnen und ganz und gar der kleinen Sigrid widmen konnte. Und wenn es sie nach Abwechslung verlangte, sprang die Mutter bei der Säuglingspflege ein und Renate wirbelte durch den Gasthof wie vor der Geburt.
Sie hatte große Pläne mit dem kleinen Mädchen. Niemals sollte sie angebrüllt werden, niemand sollte sie einschüchtern. Sie sollte frei und fröhlich aufwachsen und wenn sie alt genug war, eigene Entscheidungen treffen. Vielleicht würde sie den Betrieb einmal fortführen, vielleicht würde aus ihr aber auch eine Goldschmiedin, Wirtin, Landwirtin oder Friseurin. Bis dahin wollte Renate alles tun, damit ihr Kind sich gesund entwickelte, wertvolle Erfahrungen machte und deutlich fühlte, dass es geliebt wurde. Ulrich sah das ebenso und diese Einigkeit stimmte sie zuversichtlich.

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Freitag, 22. November 2024
2nd Spoiler 10
1972
Es war keine Bilderbuchhochzeit, aber ein schönes Fest, als Renate Bierhoff und Ulrich Husemann sich das Jawort gaben und Renate ihren Geburtsnamen aufgab, um im Gegenzug so viel mehr dafür zu gewinnen. Hildegard zog sich in zwei kleine Zimmer zurück und überließ die restlichen Wohnräume der neuen Generation, denn sie waren bereit für das Abenteuer, die Verantwortung für den Betrieb zu übernehmen und ihn den Erfordernissen moderner Ansprüche anzupassen. Beide waren zuversichtlich und voller Tatendrang. Ulrich wollte das Hotelangebot auf Vordermann bringen, die Zimmer nach und nach modernisieren und gezielt bewerben. Renate erweiterte das kulinarische Angebot und war damit erfolgreicher, als sie selbst erwartet hatte.

Die große Nachfrage brachte aber auch Probleme mit sich, denn die Arbeit machte sich nicht von allein und wuchs dem jungen Paar gelegentlich über den Kopf.
Renate konnte ihre Impulse mittlerweile kontrollieren, doch in Zeiten übergroßer Belastung und Anspannung neigte sie nach wie vor zu Gefühlsausbrüchen.
„Wieso hast du denn die Konfirmation auch noch angenommen? Wie soll ich das schaffen, wenn wir am Samstag bis spät in die Nacht die Hütte voll haben?“
„Du musst das nicht allein schaffen.“, beschwichtigte Ulrich seine Frau. „Wir machen das zusammen. Wir stellen Aushilfen ein. Da kommt so viel Geld rein, dass wir uns das leisten können.“

Überall lässt du deine Brocken liegen und ich muss dauernd hinter dir her räumen, als wenn ich sonst nichts zu tun hätte!“
„Du musst nicht hinter mir her räumen. Ich brauche die Sachen ja und spätestens bis zum Wochenende stehen sie woanders rum. Genau wie deine Schuhe oder deine Haarbänder.“
Danach mussten beide lachen.
Und wenn unverschämte Gäste Renate zur Weißglut brachten, bemerkte Ulrich das jedes Mal rechtzeitig, um sie aus der Schusslinie zu lotsen, ihr Recht zu geben in ihrem Zorn, ihr eine Pause zu gönnen und sanft über den Rücken zu streichen. Renate war wie eine Wildkatze und Ulrich verstand, sie zu zähmen mit Liebe, Verständnis, Respekt, Vertrauenswürdigkeit, Loyalität und Humor.
Die Päckchen, die Heinrichs Ausbrüche hinterlassen hatten, würde sie niemals los werden, aber durch Ulrichs Einfluss verloren sie an Gewicht.

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