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Freitag, 11. Oktober 2024
2nd Spoiler 4
c. fabry, 12:28h
1963
Mit dem Wechsel in die siebte Klasse an die Schule in Werther wechselten auch Renates Freundschaften. Das lag nicht etwa daran, dass die Klassen auseinandergerissen worden wären – es gingen ja alle Zwölfjährigen nach Werther – sondern daran, dass keine ihrer neu geschlossenen Freundschaften lange hielt. In der dritten und vierten Klasse war das noch bei allen so gewesen. In diesem Alter wurde viel ausprobiert, man ließ sich auf alles ein, verwarf aber auch vieles und erwarb so Schritt für Schritt eine gewisse Menschenkenntnis. Irgendwann wurden aus Kindern Jugendliche mit einem Gespür dafür, wer zu ihnen passte und wer nicht, aber auch mit der Fähigkeit, das Schiff einer guten Freundschaft durch stürmische Krisen zu manövrieren. Bei Renate zeichnete sich diese Veränderung aber keineswegs ab. Gefühlt brachte sie monatlich eine neue beste Freundin mit nach Hause, mit der sie nach wenigen Wochen bereits zerstritten war. Sie waren alle sehr unterschiedlich, Hildegard erkannte keinen roten Faden, kein Konzept. Scheinbar nahm Renate einfach, was sie kriegen konnte, war aber nicht fähig, einen Menschen an sich zu binden. Wenn sie das später mit den Männern genauso machte, standen ihnen schauderhafte Zeiten bevor.
Hildegard sorgte sich sehr und suchte das Gespräch: „Warum triffst du dich eigentlich nicht mehr mit Karin?“
„Die hat keine Zeit.“
„Aber zuerst hatte sie doch mehrmals die Woche Zeit.“
„Jetzt aber nicht mehr.“
„Und warum nicht?“
„Hat sie nicht gesagt.“
„Und was ist mit Dagmar?“
„Die trifft sich jetzt immer mit Almut und Monika. Die machen dann so Schmink-Nachmittage oder fahren nach Spenge ins Kino.“
„Und das ist nichts für dich?“
„Weiß nicht. Die fragen mich ja nicht, ob ich mitmachen will.“
„Und Hanna?“
„Die ist doof.“
„Warum?“
„Die macht immer so Witze, die keiner versteht und dann lacht sie total irre.“
„Aber die Susanne war doch nett. Warum triffst du dich denn gar nicht mehr mit der?“
„Die geht doch mit Petra zum Klavierunterricht und zum Reiten. Die machen jetzt alles zusammen. Da kommt keiner mehr zwischen.“
Hildegard seufzte ratlos, aber sie hatte zu viel zu tun, um weitere Nachforschungen anzustellen.
Was Hildegard nicht ahnte: Ihre Tochter neigte zu großer Impulsivität. Ob sie das von Heinrich erlernt hatte oder ob es eine Folge der Anpassung aufgrund permanenter Alarmbereitschaft war, die von den unkalkulierbaren Zornentladungen ihres Vaters herrührte, konnte niemand wissen. Renates starke Emotionen gepaart mit einer natürlichen, kindlichen Offenheit verschreckten viele Freundinnen und nahmen sie gegen die Wirtstochter ein. So blieb keine Beziehung stabil und von Dauer, was Renate mit noch viel größerer Ratlosigkeit und Verzweiflung zur Kenntnis nahm als ihre besorgte Mutter, war sie doch diejenige, die von diesem Problem unmittelbar betroffen war.
Sie lernte selbst im Laufe der folgenden Jahre, sich etwas zurückzuhalten mit ihrer direkten und explosiven Art, zumindest gegenüber denjenigen, an denen ihr etwas lag
Mit dem Wechsel in die siebte Klasse an die Schule in Werther wechselten auch Renates Freundschaften. Das lag nicht etwa daran, dass die Klassen auseinandergerissen worden wären – es gingen ja alle Zwölfjährigen nach Werther – sondern daran, dass keine ihrer neu geschlossenen Freundschaften lange hielt. In der dritten und vierten Klasse war das noch bei allen so gewesen. In diesem Alter wurde viel ausprobiert, man ließ sich auf alles ein, verwarf aber auch vieles und erwarb so Schritt für Schritt eine gewisse Menschenkenntnis. Irgendwann wurden aus Kindern Jugendliche mit einem Gespür dafür, wer zu ihnen passte und wer nicht, aber auch mit der Fähigkeit, das Schiff einer guten Freundschaft durch stürmische Krisen zu manövrieren. Bei Renate zeichnete sich diese Veränderung aber keineswegs ab. Gefühlt brachte sie monatlich eine neue beste Freundin mit nach Hause, mit der sie nach wenigen Wochen bereits zerstritten war. Sie waren alle sehr unterschiedlich, Hildegard erkannte keinen roten Faden, kein Konzept. Scheinbar nahm Renate einfach, was sie kriegen konnte, war aber nicht fähig, einen Menschen an sich zu binden. Wenn sie das später mit den Männern genauso machte, standen ihnen schauderhafte Zeiten bevor.
Hildegard sorgte sich sehr und suchte das Gespräch: „Warum triffst du dich eigentlich nicht mehr mit Karin?“
„Die hat keine Zeit.“
„Aber zuerst hatte sie doch mehrmals die Woche Zeit.“
„Jetzt aber nicht mehr.“
„Und warum nicht?“
„Hat sie nicht gesagt.“
„Und was ist mit Dagmar?“
„Die trifft sich jetzt immer mit Almut und Monika. Die machen dann so Schmink-Nachmittage oder fahren nach Spenge ins Kino.“
„Und das ist nichts für dich?“
„Weiß nicht. Die fragen mich ja nicht, ob ich mitmachen will.“
„Und Hanna?“
„Die ist doof.“
„Warum?“
„Die macht immer so Witze, die keiner versteht und dann lacht sie total irre.“
„Aber die Susanne war doch nett. Warum triffst du dich denn gar nicht mehr mit der?“
„Die geht doch mit Petra zum Klavierunterricht und zum Reiten. Die machen jetzt alles zusammen. Da kommt keiner mehr zwischen.“
Hildegard seufzte ratlos, aber sie hatte zu viel zu tun, um weitere Nachforschungen anzustellen.
Was Hildegard nicht ahnte: Ihre Tochter neigte zu großer Impulsivität. Ob sie das von Heinrich erlernt hatte oder ob es eine Folge der Anpassung aufgrund permanenter Alarmbereitschaft war, die von den unkalkulierbaren Zornentladungen ihres Vaters herrührte, konnte niemand wissen. Renates starke Emotionen gepaart mit einer natürlichen, kindlichen Offenheit verschreckten viele Freundinnen und nahmen sie gegen die Wirtstochter ein. So blieb keine Beziehung stabil und von Dauer, was Renate mit noch viel größerer Ratlosigkeit und Verzweiflung zur Kenntnis nahm als ihre besorgte Mutter, war sie doch diejenige, die von diesem Problem unmittelbar betroffen war.
Sie lernte selbst im Laufe der folgenden Jahre, sich etwas zurückzuhalten mit ihrer direkten und explosiven Art, zumindest gegenüber denjenigen, an denen ihr etwas lag
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Freitag, 4. Oktober 2024
2nd Spoiler 4
c. fabry, 00:44h
1961
Die Grundschulzeit ging zu Ende, das Schulgebäude blieb das Gleiche. Für das dritte Schuljahr war Renate in den Klassenraum mit Blick zum Schulhof umgezogen – etwas langweiliger war die Aussicht schon und dort war es auch weniger hell; nun ging es in den großen Raum mit Bühne und mit Aussicht auf den Garten des Schulleiters, der die Klasse in Mathematik, Naturwissenschaften und Geschichte unterrichtete. Männer waren Renate suspekt: sie kannte den launischen, bisweilen jähzornigen Vater, betrunkene, lautstark palavernde Stammgäste im Gasthof, rüde Bauern in der Verwandtschaft, aber selten jemanden, der einen feinsinnigen oder einfühlsamen Eindruck machte.
Als sie nach dem ersten Tag in der fünften Klasse nach Hause kam, spürte sie sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie bemühte sich, alles richtig zu machen, stellte den Ranzen ordentlich auf die Ecke der Küchenbank, vermied es, Geräusche zu machen und hängte sorgsam ihre Jacke an die Garderobe.
Tatsächlich war es ihr aber entgangen, dass sie in die Hinterlassenschaft eines größeren Vogels getreten war, und nun, da sie es versäumt hatte, die Straßenschuhe gegen Pantoffeln einzutauschen, verteilte sie in mehreren Räumen hässliche Kotflecken.
Heinrich hatte soeben äußerst ärgerliche Post vom Finanzamt geöffnet, noch etwas Unangenehmes, um das er sich kümmern musste, dabei hatte er gerade die Bierleitung gereinigt und am Nachmittag erwartete er eine größere Gesellschaft, die nicht nur trinken, sondern auch essen wollten – wenn auch nur Brühwürstchen mit Kartoffelsalat.
Als es nun in seinen Augen so aussah, als müssten sämtliche Fußböden noch einmal gründlich gewischt werden, löste sich seine Selbstbeherrschung vollständig auf. „Verdammt nochmal! Wie dumm bist du eigentlich?“ brüllte er Renate an, die - sich keiner Schuld bewusst – zusammenzuckte.
„Du weißt doch, dass man seine Straßenschuhe auszieht, wenn man nach Hause kommt!“
Sie sah an sich herunter und fand den Fehler. Schnell streifte sie die Schuhe ab, schlüpfte in die Pantoffeln und wollte die Schuhe ins Regal stellen, als ihr Vater einen Satz auf sie zu machte, sie am Arm packte und schüttelte.
„Wo hast du denn deinen Verstand?“, brüllte er. „Bring deine dreckigen Treter nach draußen und mach sie gründlich sauber. Und dann machst du Wischwasser und wischt hier alles feucht durch.“
„Lass sie los!“, unterbrach Hildegard ihren Mann. „Gib mir die Schuhe, Renate, ich mach das. Dein Essen steht schon auf dem Tisch. Geh ruhig in die Küche. Die paar Flecken, die ich noch nicht gefunden habe, putze ich nach dem Essen weg. Deswegen muss nicht alles nochmal gewischt werden.“
Renate floh in die Küche und Heinrich stand mit offenem Mund da. „Wieso mischt du dich ein?“, fragte er und seine Augen blitzten angriffslustig. „Sie muss doch schließlich lernen, Ordnung zu halten.“
„So wie du versuchst, ihr das beizubringen, lernt sie nur eins: dass ihr Papa ein böser Mann ist, vor dem sie sich in acht nehmen muss. Darüber vergisst sie dann alles, was wirklich wichtig ist. Wir haben viel Arbeit und manchmal hat man keine Geduld mehr mit einem Kind. Aber wenn wir wollen, dass Renate uns im Alter unterstützt, dann müssen wir dafür sorgen, dass sie etwas lernt. Und das wird nichts, wenn sie immer Angst hat.“
Heinrich erklärte der unsicheren Renate, dass er eigentlich nicht so hart und laut reagieren wollte. Er sei eben gereizt, wenn alles zu viel würde, aber das sei nicht ihre Schuld.
„Lass mich das nächste Mal einfach stehen, wenn ich dich anschreie.“, schlug er schmunzelnd vor. „Dann fällt mir vielleicht wieder ein, dass ich das nicht will.“
Renate lächelte vorsichtig und schöpfte ein wenig Hoffnung.
Die Grundschulzeit ging zu Ende, das Schulgebäude blieb das Gleiche. Für das dritte Schuljahr war Renate in den Klassenraum mit Blick zum Schulhof umgezogen – etwas langweiliger war die Aussicht schon und dort war es auch weniger hell; nun ging es in den großen Raum mit Bühne und mit Aussicht auf den Garten des Schulleiters, der die Klasse in Mathematik, Naturwissenschaften und Geschichte unterrichtete. Männer waren Renate suspekt: sie kannte den launischen, bisweilen jähzornigen Vater, betrunkene, lautstark palavernde Stammgäste im Gasthof, rüde Bauern in der Verwandtschaft, aber selten jemanden, der einen feinsinnigen oder einfühlsamen Eindruck machte.
Als sie nach dem ersten Tag in der fünften Klasse nach Hause kam, spürte sie sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie bemühte sich, alles richtig zu machen, stellte den Ranzen ordentlich auf die Ecke der Küchenbank, vermied es, Geräusche zu machen und hängte sorgsam ihre Jacke an die Garderobe.
Tatsächlich war es ihr aber entgangen, dass sie in die Hinterlassenschaft eines größeren Vogels getreten war, und nun, da sie es versäumt hatte, die Straßenschuhe gegen Pantoffeln einzutauschen, verteilte sie in mehreren Räumen hässliche Kotflecken.
Heinrich hatte soeben äußerst ärgerliche Post vom Finanzamt geöffnet, noch etwas Unangenehmes, um das er sich kümmern musste, dabei hatte er gerade die Bierleitung gereinigt und am Nachmittag erwartete er eine größere Gesellschaft, die nicht nur trinken, sondern auch essen wollten – wenn auch nur Brühwürstchen mit Kartoffelsalat.
Als es nun in seinen Augen so aussah, als müssten sämtliche Fußböden noch einmal gründlich gewischt werden, löste sich seine Selbstbeherrschung vollständig auf. „Verdammt nochmal! Wie dumm bist du eigentlich?“ brüllte er Renate an, die - sich keiner Schuld bewusst – zusammenzuckte.
„Du weißt doch, dass man seine Straßenschuhe auszieht, wenn man nach Hause kommt!“
Sie sah an sich herunter und fand den Fehler. Schnell streifte sie die Schuhe ab, schlüpfte in die Pantoffeln und wollte die Schuhe ins Regal stellen, als ihr Vater einen Satz auf sie zu machte, sie am Arm packte und schüttelte.
„Wo hast du denn deinen Verstand?“, brüllte er. „Bring deine dreckigen Treter nach draußen und mach sie gründlich sauber. Und dann machst du Wischwasser und wischt hier alles feucht durch.“
„Lass sie los!“, unterbrach Hildegard ihren Mann. „Gib mir die Schuhe, Renate, ich mach das. Dein Essen steht schon auf dem Tisch. Geh ruhig in die Küche. Die paar Flecken, die ich noch nicht gefunden habe, putze ich nach dem Essen weg. Deswegen muss nicht alles nochmal gewischt werden.“
Renate floh in die Küche und Heinrich stand mit offenem Mund da. „Wieso mischt du dich ein?“, fragte er und seine Augen blitzten angriffslustig. „Sie muss doch schließlich lernen, Ordnung zu halten.“
„So wie du versuchst, ihr das beizubringen, lernt sie nur eins: dass ihr Papa ein böser Mann ist, vor dem sie sich in acht nehmen muss. Darüber vergisst sie dann alles, was wirklich wichtig ist. Wir haben viel Arbeit und manchmal hat man keine Geduld mehr mit einem Kind. Aber wenn wir wollen, dass Renate uns im Alter unterstützt, dann müssen wir dafür sorgen, dass sie etwas lernt. Und das wird nichts, wenn sie immer Angst hat.“
Heinrich erklärte der unsicheren Renate, dass er eigentlich nicht so hart und laut reagieren wollte. Er sei eben gereizt, wenn alles zu viel würde, aber das sei nicht ihre Schuld.
„Lass mich das nächste Mal einfach stehen, wenn ich dich anschreie.“, schlug er schmunzelnd vor. „Dann fällt mir vielleicht wieder ein, dass ich das nicht will.“
Renate lächelte vorsichtig und schöpfte ein wenig Hoffnung.
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Samstag, 28. September 2024
2nd Spoiler 3
c. fabry, 16:09h
1957
Nur wenige Tage nach Ostern war es soweit: Renate bekam ein neues Kleid mit fröhlichem Blumenmuster und gebauschtem Rock, dazu schneeweiße Strumpfhosen und eine wärmende Strickjacke für die Morgenstunden. Ein paar Tage zuvor hatte sie auf dem Friseurstuhl gesessen und einen praktischen Kurzhaarschnitt erhalten. Der Ranzen war aus genarbtem, braunem Leder, die Schultüte groß und bunt und voller Spannung wartete Renate auf die Mittagszeit, wenn sie ihre Überraschungen auspacken durfte.
Das Schulgebäude in Häger wirkte mit seinem hellen Anstrich und den frisch austreibenden Bäumen freundlich und einladend.
Die großen Kinder sangen zur Begrüßung ein fröhliches Lied im Chor, die Mütter blieben zunächst bei ihren Kindern und sahen zu. Vor einem malerischen Hintergrund von Narzissen und rot blühenden, wilden Johannisbeeren nahm jedes einzelne Kind Aufstellung neben einem lustigen Osterhasen, der eine Kiepe mit bunten Eiern trug, dazu ein ovales, dunkelblaues Schild in der Pfote mit der Aufschrift: Mein erster Schultag.
Renate wirkte auf dem Foto ein wenig eingeschüchtert. So viele Kinder auf einem Haufen und dazu all die fremden Erwachsenen stellten eine große Herausforderung dar. Noch schneller schlug das Herz und Renate musste heftig schlucken, als es nun ohne Mutter in den Klassenraum ging.
Der Raum – eingerichtet mit klassischen Schulbänken, einer Tafel, ein wenig schmückenden Bildern hatte etwas Beängstigendes, auch wenn die zahlreichen hohen Fenster viel Licht hereinließen. Die Lehrerin sprach freundlich, aber auch streng, so als lauere hinter ihrer kultivierten Maske eine unberechenbare Monströsität, die jederzeit entfesselt werden konnte, man wusste nur nicht wodurch. Renate stand unter einer gewaltigen Anspannung, die zu kleinen Schalen geformten Hände lagen auf dem Tisch und unter ihnen entstanden auf der dunkelbraun lackierten Fläche kleine Schweißpfützen.
Nach einer Stunde war sie schon wieder erlöst und stürzte erleichtert in die Arme ihrer wartenden Mutter.
Zuhause durfte sie endlich die Schultüte auspacken: Sie fand Wachsmalkreiden, einen Flummi, ein neues Springseil, einen Kreisel, neue Kleider für die Anziehpuppen, Glanzbilder, Zuckerstangen, Brausebonbons, Karamell, Schokolade und Kaugummi.
Nach dem Mittagessen war die erste Hausaufgabe dran: Ein Bild von der eigenen Familie malen. Das machte Renate Freude und die neuen Wachsmalkreiden kamen direkt zum Einsatz.
Nachmittags kamen die Paten zu Kaffee und Kuchen und brachten Geld für die Spardose, ein Malbuch und Buntstifte mit. Renate fühlte sich reich beschenkt und ein wenig erschöpft. Am Abend schlief sie stolz und glücklich ein. Am zweiten Schultag war ein Großteil der Angst verflogen und es begannen vier weitestgehend unbeschwerte Jahre für sie.
Nur wenige Tage nach Ostern war es soweit: Renate bekam ein neues Kleid mit fröhlichem Blumenmuster und gebauschtem Rock, dazu schneeweiße Strumpfhosen und eine wärmende Strickjacke für die Morgenstunden. Ein paar Tage zuvor hatte sie auf dem Friseurstuhl gesessen und einen praktischen Kurzhaarschnitt erhalten. Der Ranzen war aus genarbtem, braunem Leder, die Schultüte groß und bunt und voller Spannung wartete Renate auf die Mittagszeit, wenn sie ihre Überraschungen auspacken durfte.
Das Schulgebäude in Häger wirkte mit seinem hellen Anstrich und den frisch austreibenden Bäumen freundlich und einladend.
Die großen Kinder sangen zur Begrüßung ein fröhliches Lied im Chor, die Mütter blieben zunächst bei ihren Kindern und sahen zu. Vor einem malerischen Hintergrund von Narzissen und rot blühenden, wilden Johannisbeeren nahm jedes einzelne Kind Aufstellung neben einem lustigen Osterhasen, der eine Kiepe mit bunten Eiern trug, dazu ein ovales, dunkelblaues Schild in der Pfote mit der Aufschrift: Mein erster Schultag.
Renate wirkte auf dem Foto ein wenig eingeschüchtert. So viele Kinder auf einem Haufen und dazu all die fremden Erwachsenen stellten eine große Herausforderung dar. Noch schneller schlug das Herz und Renate musste heftig schlucken, als es nun ohne Mutter in den Klassenraum ging.
Der Raum – eingerichtet mit klassischen Schulbänken, einer Tafel, ein wenig schmückenden Bildern hatte etwas Beängstigendes, auch wenn die zahlreichen hohen Fenster viel Licht hereinließen. Die Lehrerin sprach freundlich, aber auch streng, so als lauere hinter ihrer kultivierten Maske eine unberechenbare Monströsität, die jederzeit entfesselt werden konnte, man wusste nur nicht wodurch. Renate stand unter einer gewaltigen Anspannung, die zu kleinen Schalen geformten Hände lagen auf dem Tisch und unter ihnen entstanden auf der dunkelbraun lackierten Fläche kleine Schweißpfützen.
Nach einer Stunde war sie schon wieder erlöst und stürzte erleichtert in die Arme ihrer wartenden Mutter.
Zuhause durfte sie endlich die Schultüte auspacken: Sie fand Wachsmalkreiden, einen Flummi, ein neues Springseil, einen Kreisel, neue Kleider für die Anziehpuppen, Glanzbilder, Zuckerstangen, Brausebonbons, Karamell, Schokolade und Kaugummi.
Nach dem Mittagessen war die erste Hausaufgabe dran: Ein Bild von der eigenen Familie malen. Das machte Renate Freude und die neuen Wachsmalkreiden kamen direkt zum Einsatz.
Nachmittags kamen die Paten zu Kaffee und Kuchen und brachten Geld für die Spardose, ein Malbuch und Buntstifte mit. Renate fühlte sich reich beschenkt und ein wenig erschöpft. Am Abend schlief sie stolz und glücklich ein. Am zweiten Schultag war ein Großteil der Angst verflogen und es begannen vier weitestgehend unbeschwerte Jahre für sie.
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2nd Spoiler 3
c. fabry, 16:09h
1957
Nur wenige Tage nach Ostern war es soweit: Renate bekam ein neues Kleid mit fröhlichem Blumenmuster und gebauschtem Rock, dazu schneeweiße Strumpfhosen und eine wärmende Strickjacke für die Morgenstunden. Ein paar Tage zuvor hatte sie auf dem Friseurstuhl gesessen und einen praktischen Kurzhaarschnitt erhalten. Der Ranzen war aus genarbtem, braunem Leder, die Schultüte groß und bunt und voller Spannung wartete Renate auf die Mittagszeit, wenn sie ihre Überraschungen auspacken durfte.
Das Schulgebäude in Häger wirkte mit seinem hellen Anstrich und den frisch austreibenden Bäumen freundlich und einladend.
Die großen Kinder sangen zur Begrüßung ein fröhliches Lied im Chor, die Mütter blieben zunächst bei ihren Kindern und sahen zu. Vor einem malerischen Hintergrund von Narzissen und rot blühenden, wilden Johannisbeeren nahm jedes einzelne Kind Aufstellung neben einem lustigen Osterhasen, der eine Kiepe mit bunten Eiern trug, dazu ein ovales, dunkelblaues Schild in der Pfote mit der Aufschrift: Mein erster Schultag.
Renate wirkte auf dem Foto ein wenig eingeschüchtert. So viele Kinder auf einem Haufen und dazu all die fremden Erwachsenen stellten eine große Herausforderung dar. Noch schneller schlug das Herz und Renate musste heftig schlucken, als es nun ohne Mutter in den Klassenraum ging.
Der Raum – eingerichtet mit klassischen Schulbänken, einer Tafel, ein wenig schmückenden Bildern hatte etwas Beängstigendes, auch wenn die zahlreichen hohen Fenster viel Licht hereinließen. Die Lehrerin sprach freundlich, aber auch streng, so als lauere hinter ihrer kultivierten Maske eine unberechenbare Monströsität, die jederzeit entfesselt werden konnte, man wusste nur nicht wodurch. Renate stand unter einer gewaltigen Anspannung, die zu kleinen Schalen geformten Hände lagen auf dem Tisch und unter ihnen entstanden auf der dunkelbraun lackierten Fläche kleine Schweißpfützen.
Nach einer Stunde war sie schon wieder erlöst und stürzte erleichtert in die Arme ihrer wartenden Mutter.
Zuhause durfte sie endlich die Schultüte auspacken: Sie fand Wachsmalkreiden, einen Flummi, ein neues Springseil, einen Kreisel, neue Kleider für die Anziehpuppen, Glanzbilder, Zuckerstangen, Brausebonbons, Karamell, Schokolade und Kaugummi.
Nach dem Mittagessen war die erste Hausaufgabe dran: Ein Bild von der eigenen Familie malen. Das machte Renate Freude und die neuen Wachsmalkreiden kamen direkt zum Einsatz.
Nachmittags kamen die Paten zu Kaffee und Kuchen und brachten Geld für die Spardose, ein Malbuch und Buntstifte mit. Renate fühlte sich reich beschenkt und ein wenig erschöpft. Am Abend schlief sie stolz und glücklich ein. Am zweiten Schultag war ein Großteil der Angst verflogen und es begannen vier weitestgehend unbeschwerte Jahre für sie.
Nur wenige Tage nach Ostern war es soweit: Renate bekam ein neues Kleid mit fröhlichem Blumenmuster und gebauschtem Rock, dazu schneeweiße Strumpfhosen und eine wärmende Strickjacke für die Morgenstunden. Ein paar Tage zuvor hatte sie auf dem Friseurstuhl gesessen und einen praktischen Kurzhaarschnitt erhalten. Der Ranzen war aus genarbtem, braunem Leder, die Schultüte groß und bunt und voller Spannung wartete Renate auf die Mittagszeit, wenn sie ihre Überraschungen auspacken durfte.
Das Schulgebäude in Häger wirkte mit seinem hellen Anstrich und den frisch austreibenden Bäumen freundlich und einladend.
Die großen Kinder sangen zur Begrüßung ein fröhliches Lied im Chor, die Mütter blieben zunächst bei ihren Kindern und sahen zu. Vor einem malerischen Hintergrund von Narzissen und rot blühenden, wilden Johannisbeeren nahm jedes einzelne Kind Aufstellung neben einem lustigen Osterhasen, der eine Kiepe mit bunten Eiern trug, dazu ein ovales, dunkelblaues Schild in der Pfote mit der Aufschrift: Mein erster Schultag.
Renate wirkte auf dem Foto ein wenig eingeschüchtert. So viele Kinder auf einem Haufen und dazu all die fremden Erwachsenen stellten eine große Herausforderung dar. Noch schneller schlug das Herz und Renate musste heftig schlucken, als es nun ohne Mutter in den Klassenraum ging.
Der Raum – eingerichtet mit klassischen Schulbänken, einer Tafel, ein wenig schmückenden Bildern hatte etwas Beängstigendes, auch wenn die zahlreichen hohen Fenster viel Licht hereinließen. Die Lehrerin sprach freundlich, aber auch streng, so als lauere hinter ihrer kultivierten Maske eine unberechenbare Monströsität, die jederzeit entfesselt werden konnte, man wusste nur nicht wodurch. Renate stand unter einer gewaltigen Anspannung, die zu kleinen Schalen geformten Hände lagen auf dem Tisch und unter ihnen entstanden auf der dunkelbraun lackierten Fläche kleine Schweißpfützen.
Nach einer Stunde war sie schon wieder erlöst und stürzte erleichtert in die Arme ihrer wartenden Mutter.
Zuhause durfte sie endlich die Schultüte auspacken: Sie fand Wachsmalkreiden, einen Flummi, ein neues Springseil, einen Kreisel, neue Kleider für die Anziehpuppen, Glanzbilder, Zuckerstangen, Brausebonbons, Karamell, Schokolade und Kaugummi.
Nach dem Mittagessen war die erste Hausaufgabe dran: Ein Bild von der eigenen Familie malen. Das machte Renate Freude und die neuen Wachsmalkreiden kamen direkt zum Einsatz.
Nachmittags kamen die Paten zu Kaffee und Kuchen und brachten Geld für die Spardose, ein Malbuch und Buntstifte mit. Renate fühlte sich reich beschenkt und ein wenig erschöpft. Am Abend schlief sie stolz und glücklich ein. Am zweiten Schultag war ein Großteil der Angst verflogen und es begannen vier weitestgehend unbeschwerte Jahre für sie.
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Freitag, 20. September 2024
2nd Spoiler 2
c. fabry, 10:59h
1956
Wer glaubt, die Theke einer Schankstube sei kein Spielplatz für Kinder, befindet sich gewaltig im Irrtum. Renate liebte es, die Biertulpen im Spülbecken über die Bürsten sausen zu lassen oder leere Schnapsflaschen mit Wasser zu füllen, die Dosierhilfe auf den Hals zu schrauben und ihre Präzision beim Befüllen von Pinnchen zu vervolkommnen.
Ihrem Vater Heinrich ging das auf die Nerven. Das Mädchen, das immerzu umständlich vor seinen Füßen herumwerkelte, machte ihn nervös, aber sein Verstand sagte ihm, dass es nichts Besseres für ein Kind gab, als mit der Arbeit der Eltern ganz selbstverständlich aufzuwachsen und durch Versuch und Irrtum oder Gelingen all die kleinen und großen Handgriffe von Grund auf zu lernen. Fehler und Umstände musste man dabei billigend in Kauf nehmen, darum zwang er sich zu Geduld und Freundlichkeit.
Als die Fünfjährige dann aber durch eine ungeschickte Bewegung ein Glas zu Boden fallen ließ, das in tausend kleine Scherben zersprang, war es um seine Selbstbeherrschung geschehen.
„Kannst du nicht aufpassen?“, brüllte er. „Das ist doch hier kein Sandkasten!“
Er klemmte sich das Kind unter den Arm wie einen Sack Reis und schleppte die weinende Renate in die Privaträume. Dort setzte er sie ab, hob den Zeigefinger und brüllte: „Und hier bleibst du bis die Mama dich holt!“
Dann ließ er das irritierte und eingeschüchterte Mädchen allein zurück.
Nach einer gefühlten Ewigkeit fand Hildegard ihre Tochter, die zitternd und weinend mitten im Wohnzimmer stand, unter sich eine Pfütze, weil sie vor Angst das Wasser nicht hatte hatte halten können.
„Was ist denn passiert?“, fragte sie und kniete sich fürsorglich vor ihre Tochter.
„Ich hab...ich hab...“, Renate konnte vor Schluchzen kaum sprechen. Hildegard nahm sie auf den Arm und sagte: „Jetzt beruhigst du dich erstmal, ich mach dich sauber und zieh dir trockene Sachen an, dann trinkst du einen Kakao und erzählst mir, was passiert ist.“
Beim versprochenen Kakao berichtete Renate von ihrem Missgeschick und dass der Papa geschimpft habe und sie ins Wohnzimmer getragen und gesagt, dass sie dort auf die Mama warten solle.“
Hildegard zog einen Karton unter dem Sofa hervor. Eigentlich wollte sie ihn erst am Sonntag herausrücken, aber jetzt war dies genau das Richtige für ihre kleine Tochter. Anziehpuppen aus Pappe. Die Kleider und Accessoires wurden mit kleinen Laschen an den Figuren befestigt: einfach, preiswert und faszinierend. Renate war begeistert und strahlte wieder. Als sie ganz im Spiel versunken war, suchte Hildegard ihren Mann auf.
„Heini, du darfst die Renate nicht so einschüchtern, die ist noch zu klein, um das zu verpacken. Eben stand sie heulend und zitternd in der Stube, konnte gar nicht sprechen und hatte sich vor Angst in die Hose gemacht. Du hättest mir wenigstens Bescheid sagen müssen.“
„Ich weiß.“, sagte Heinrich schuldbewusst. „Ich hatte es eilig und als die Glas kaputt geschmissen hat, ist mir der Draht aus‘er Mütze gegangen. Ich kann dann nicht anders.“
„Dann schick sie am besten gleich weg, bevor dir der Kragen platzt. Nicht, dass dir noch die Hand ausrutscht.“
Heinrich nickte stumm. Er dachte weder pädagogisch noch tiefenpsychologisch, doch er besaß gesunde Instinkte, die ihm sagten, dass Härte keinem Kind guttat.
Wer glaubt, die Theke einer Schankstube sei kein Spielplatz für Kinder, befindet sich gewaltig im Irrtum. Renate liebte es, die Biertulpen im Spülbecken über die Bürsten sausen zu lassen oder leere Schnapsflaschen mit Wasser zu füllen, die Dosierhilfe auf den Hals zu schrauben und ihre Präzision beim Befüllen von Pinnchen zu vervolkommnen.
Ihrem Vater Heinrich ging das auf die Nerven. Das Mädchen, das immerzu umständlich vor seinen Füßen herumwerkelte, machte ihn nervös, aber sein Verstand sagte ihm, dass es nichts Besseres für ein Kind gab, als mit der Arbeit der Eltern ganz selbstverständlich aufzuwachsen und durch Versuch und Irrtum oder Gelingen all die kleinen und großen Handgriffe von Grund auf zu lernen. Fehler und Umstände musste man dabei billigend in Kauf nehmen, darum zwang er sich zu Geduld und Freundlichkeit.
Als die Fünfjährige dann aber durch eine ungeschickte Bewegung ein Glas zu Boden fallen ließ, das in tausend kleine Scherben zersprang, war es um seine Selbstbeherrschung geschehen.
„Kannst du nicht aufpassen?“, brüllte er. „Das ist doch hier kein Sandkasten!“
Er klemmte sich das Kind unter den Arm wie einen Sack Reis und schleppte die weinende Renate in die Privaträume. Dort setzte er sie ab, hob den Zeigefinger und brüllte: „Und hier bleibst du bis die Mama dich holt!“
Dann ließ er das irritierte und eingeschüchterte Mädchen allein zurück.
Nach einer gefühlten Ewigkeit fand Hildegard ihre Tochter, die zitternd und weinend mitten im Wohnzimmer stand, unter sich eine Pfütze, weil sie vor Angst das Wasser nicht hatte hatte halten können.
„Was ist denn passiert?“, fragte sie und kniete sich fürsorglich vor ihre Tochter.
„Ich hab...ich hab...“, Renate konnte vor Schluchzen kaum sprechen. Hildegard nahm sie auf den Arm und sagte: „Jetzt beruhigst du dich erstmal, ich mach dich sauber und zieh dir trockene Sachen an, dann trinkst du einen Kakao und erzählst mir, was passiert ist.“
Beim versprochenen Kakao berichtete Renate von ihrem Missgeschick und dass der Papa geschimpft habe und sie ins Wohnzimmer getragen und gesagt, dass sie dort auf die Mama warten solle.“
Hildegard zog einen Karton unter dem Sofa hervor. Eigentlich wollte sie ihn erst am Sonntag herausrücken, aber jetzt war dies genau das Richtige für ihre kleine Tochter. Anziehpuppen aus Pappe. Die Kleider und Accessoires wurden mit kleinen Laschen an den Figuren befestigt: einfach, preiswert und faszinierend. Renate war begeistert und strahlte wieder. Als sie ganz im Spiel versunken war, suchte Hildegard ihren Mann auf.
„Heini, du darfst die Renate nicht so einschüchtern, die ist noch zu klein, um das zu verpacken. Eben stand sie heulend und zitternd in der Stube, konnte gar nicht sprechen und hatte sich vor Angst in die Hose gemacht. Du hättest mir wenigstens Bescheid sagen müssen.“
„Ich weiß.“, sagte Heinrich schuldbewusst. „Ich hatte es eilig und als die Glas kaputt geschmissen hat, ist mir der Draht aus‘er Mütze gegangen. Ich kann dann nicht anders.“
„Dann schick sie am besten gleich weg, bevor dir der Kragen platzt. Nicht, dass dir noch die Hand ausrutscht.“
Heinrich nickte stumm. Er dachte weder pädagogisch noch tiefenpsychologisch, doch er besaß gesunde Instinkte, die ihm sagten, dass Härte keinem Kind guttat.
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