Dienstag, 27. August 2024
Goeree Brugge en terug
Vor zwei Monaten hatten Kees und Corrie ihr Altersdomizil bezogen. Nun sollte alles anders werden. Die Luxuswohnung in der toten Schlafstadt Spijkenisse hatten sie eingetauscht gegen traditionelle opulente Räume in malerischer Umgebung mit Blick auf den verträumten und versandeten Hafen von Goedereede, einer kleinen Kaufmanns- und Fischerstadt mit grandioser Zukunft, deren Aussichten jäh von den Launen der Nordsee zerstört worden waren. Reiche Bauern hatten später die eindrucksvollen Bürgerhäuser bezogen und mittlerweile hatte sich die dörfliche Kleinstadt zu einer Perle nahe der Grenze zu Zeeland gemausert. Am Hafen, umgeben von historischen Prachtbauten – von denen Corrie und Kees nun eins bewohnten – lag ein lebendiger Marktplatz mit dreifacher Außengastronomie von solider Qualität. Hier, hatte Corrie beschlossen, würde Kees sich endlich das lästige Rauchen abgewöhnen, sich an der frischen Luft bewegen und ihr nicht auf die Nerven gehen, wenn sie in Ruhe ihren Stickereien und Patchworkarbeiten nachgehen wollte.

Doch mit der Rauchentwöhnung ging es schleppend voran: Kees durfte nur noch draußen vor der Tür qualmen und höchstens zwei Züge nehmen, dann musste er die Zigarette ausdrücken und mindestens eine Viertelstunde ohne Rauch auskommen. Das hob nicht gerade seine Stimmung. Bald schon erfand er Ausreden, um öfter vor die Tür zu gehen, zum Beispiel, um deutsche Touristen davon abzuhalten, mit dem Auto in die schmale Pieterstraat zu fahren. Da hatte er Corrie auf seiner Seite, die wild mit den Armen ruderte, um den begriffsstutzigen Moffen klar zu machen, dass ihr Auto dort nichts zu suchen hatte.

Corrie fühlte sich wohl in dem geräumigen Haus, aber sie hätte sich besser gefühlt, wenn sie es für sich allein gehabt hätte. Ihre Rente war nicht schlecht und noch war das gemeinsam Ersparte nicht aufgebraucht. Sie verstand mehr von Finanzen und Anlageoptionen als ihr Mann ihr zutraute und er hätte niemals zugelassen, dass sie sich einmischte.

Für das Wochenende war ein Aufenthalt in Brügge geplant. Kees hatte eine günstige AirBNB-Unterkunft gebucht, am Rand des historischen Stadtkerns. Und trotz ihrer beider arthrotischer Knie hatte Corrie entschieden, dass sie sich die Stadt vom höchsten Punkt des Belfort, dem Wahrzeichen Brügges, aus ansehen würden.
Die Unterkunft befand sich zwar in einem ordentlichen Viertel, es war auch alles sauber und funktionierte, aber das Haus war schrecklich eng und verbaut, mit vielen verschiedenen Ebenen und einem dunklen, schmalen und steilen Treppenhaus, in dem die Stifen auch noch mit dunkelbraunem Velours ausgelegt waren. In der Dachkammer, in der sie untergebracht waren, staute sich die Hitze, das Wetter war aber so unbeständig, dass sie nicht wagten, in ihrer Abwesenheit zu lüften.

Als Erstes unternahmen sie eine Bootsfahrt auf den Kanälen. Sie erfuhren, dass Brügge ein ähnliches Schicksal ereilt hatte wie Goedereede: Die Blütezeit der mittelalterlichen Handelsmetropole wurde infolge von Sturmfluten durch die Versandung des Hafens beendet. Die folgenden Jahrhunderte der Armut und Bedeutungslosigkeit bewahrten die Stadt vor baulichen Modernisierungen und machten nun ihren Charme aus. Jetzt war sie ein Touristenmagnet und hatte mit Schokoladengeschäften, Bier, Waffeln, Fritten, Spitzen, Museen, diversen Stadtführungen und ansprechender Innen- und Außengastronomie zu ihrem alten Glanz zurückgefunden. Die überwältigende Schönheit der Stadt rauschte jedoch an ihnen vorbei. An Kees, weil er sich nach einer Zigarette sehnte, an Corrie, weil sie Pläne für den morgigen Tag schmiedete.
Sie aßen Stoofvlees – belgisches Schmorfleisch – mit Rosenkohl und Fritten und tranken dazu Trappistenbier, auch wenn es das ebenso in Holland gab. Dann schlenderten sie noch ein wenig durch die Gassen, bis sie schließlich in ihrer Unterkunft das Fenster aufrissen und unfreiwillig die Mücken hereinließen. Sie schlossen das Fenster wieder, Corrie duschte und Kees jagte Mücken, nachdem er kurz vor der Tür eine ganze halbe Zigarette geraucht hatte. Schließlich war er im Urlaub. Danach nötigte Corrie ihn , ebenfalls zu duschen: „Ich will keinen alten Kerl neben mir im Bett, der nach Kohlfürzen, Schweiß und kaltem Rauch riecht.“ Das war eine Ansage.
Die Nacht war unruhig, nicht wegen irgendwelcher Geräusche, es war angenehm still hier, viel ruhiger als in Goedereede, wo bis in den späten Abend Musik und lautes Gelächter durch die denkmalgeschützten, einfach verglasten Fenster drang. Aber die stickige Wärme verursachte wirre Träume und häufiges Aufwachen. Am Morgen waren beide wie gerädert. Eine kalte Dusche brachte sie auf Trab, dazu ein Kaffee und ein Käsebrot in der AirBNB-Küche und auf ging es.

Zunächst musste Kees Corrie in das Kantcentrum begleiten, wo in früheren Zeiten traditionelle belgische Spitze geklöppelt wurde. Dort nahm er sich mehrere Auszeiten im Garten, für diverse Zigarettchen.
Danach stand eine Kutschfahrt auf dem Programm, denn Corrie wollte sich einmal im Leben fühlen wie eine Königin.
Nach einem einfachen Mittagessen löste Corrie Tickets für den Belfort, gegen 16.00 Uhr. Perfekt, um vorher noch Kaffee mit Waffeln zu genießen. Kees mopperte über den exorbitanten Eintrittspreis und dass sie sich zudem noch Herz und Knie ruinieren würden, aber Corrie blieb unbeugsam.
Gestärkt durch Kaffee und Butterwaffeln machten sie sich an den Aufstieg. Es war mühsam. Beide wurden schnell kurzatmig und klagten über schmerzende Kniegelenke, doch es gab kein zurück.
Oben angekommen mussten sie sich erst einmal setzen, um den Ausblick anschließend genießen zu können. Man sah bis über die Stadtgrenze hinaus ins Umland; früher konnte man so das Anrücken feindlicher Truppen rechtzeitig voraussagen.
Kees sollte ruhig noch einmal in alle Richtungen schauen, dann hielt Corrie Ausschau nach einer Gelegenheit. Alles war bestens gesichert hier oben und sie erinnerte sich, dass der Mann in dem Film freiwillig gesprungen war. Dazu würde sie Kees wohl kaum bewegen können. Enttäuscht machte sie sich an den Abstieg. Kees dagegen war bester Laune, überwältigt von der grandiosen Aussicht und der Menge von spektakulären Fotos auf seinem Mobiltelefon. Sie beehrten mehrere gastronomische Betriebe und machten sich schließlich angetrunken auf den Weg in ihre Unterkunft.

Kees wollte vor dem Schlafengehen noch eine rauchen. „Meinetwegen“, sagte Corrie, „wenn du dir danach die Zähne putzt.“
Als sie die steilen Treppen zur stickigen Schlafkammer hochstieg, kam ihr plötzlich ein Gedanke. In der Putzkammer auf dem Treppenabsatz wurde sie fündig.
Sie lüftete das Zimmer, ohne das Licht einzuschalten. Dann positionierte sie den Besenstiel an geeigneter Stelle und nahm im Wohnzimmer Platz.
Als Kees die Treppe emporstieg, rief sie: „Ich bin hier im Wohnzimmer. Ich lasse oben Luft rein, ohne das Licht anzumachen. Ich hab meine Brille auf dem Bett liegen lassen. Kannst du mir die eben holen?“
Versöhnlich gestimmt durch eine angemessene Dosis Nikotin stapfte Kees nach oben, um seiner Frau den Gefallen zu tun. Corrie löschte das ohnehin funzelige Licht im Treppenhaus und schob den Besenstiel durch das Treppengeländer. Kees stolperte wie geplant und stürzte krachend beide Stockwerke hinunter. Das Knacken des fünften Halswirbels war nicht zu überhören. Blitzschnell verstaute Corrie den Besen in der Abstellkammer, schaltete das Licht ein, lief zu Kees und schlug Alarm.

Der Arzt konnte nur noch seinen Tod feststellen. Für die Polizei lag hier ein eindeutiger Fall von alters- und alkoholbedingtem Sturz vor.
Beileidsbekundungen, ein paar Unterschriften, eine letzte Nacht in der stickigen Dachkammer und Corrie packte ihre Sachen. Auf dem braunen Teppich waren immerhin keine Blutspuren zu sehen. Auch die schmutzigen, weißen Laken, die in Körben im Eingangsbereich herumstanden, leuchteten unschuldig und wiesen keinerlei Spuren auf die Ereignisse auf. Das kleine historische Häuschen würdigte sie keines Blickes mehr. Sie wollte nur noch nach Hause, die Beisetzung organisieren und ihr Erbe antreten.

In Goedereede schien sich nichts verändert zu haben. Sie grüßte die Bronzestatue mit dem Pecheimer am Ortsrand, ein Denkmal für die Goedereeder Frauen, die im 15. Jahrhundert erfolgreich eine Horde Angreifer abwehrten, während ihre Männer allesamt auf See waren.
Als sie die Haustür hinter sich schloss, atmete sie tief durch. „Erstmal ein Bakje Troost“, murmelte sie, kochte einen kräftigen Kaffee und nahm im Wohnzimmer Platz. Danach packte sie noch in Ruhe aus und fütterte die Waschmaschine. Dann begann eine turbulente Zeit: Telefonate, Besuche beim Bestatter, Gäste, mitleidige, aber auch skeptische und missgünstige Blicke. Sie sagte sich täglich, dass sie dies nur für eine sehr begrenzte Zeit zu überstehen hatte.

Nach der Beisetzung, einem letzten Kopje Koffie mit angereisten Verwandten, dem tagelangen Aufräumen und Ausmisten und zahlreichen Besuchen bei Behörden, Anwälten und Notaren war das Leben mit Kees Geschichte. Es war ein sonniger Herbstmorgen, als sie vor die Tür trat, Menschen tummelten sich auf dem Wochenmarkt und die Carillons spielten „Land Of Hope And Glory“.
Corries neues Leben begann genau jetzt.

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Donnerstag, 15. August 2024
Hätte
Er hatte großen Durst. Er konnte sich zwar frei bewegen, doch das nützte ihm gar nichts. Der Raum war stockdunkel, stickig, heiß und verschlossen. Es gab kein Bett, keinen Stuhl, gar nichts.
Vor ein paar Tagen war es ihm noch gut gegangen. Morgens Fitness im Sportraum, zum Abschluss ein paar Bahnen im kühlen Pool. Mittags auf der Dachterrasse, gebackene Scholle, frischer Spargel, Chardonnay, zum Nachtisch Erdbeeren, danach ein Nachmittag im Liegestuhl, geeistes Limettenwasser und ein Roman zum Abtauchen. Abends war er ausgegangen mit Freunden: Tapas-Bar, Taverne, Nachtclub – alles im bewachten Viertel, wo man sich sorglos bewegen konnte.

Nach einem faulen Sonntag hatte am Montag die Arbeit wieder angefangen, zahlreiche Meetings, das Geld verdiente sich nicht von allein, auch nicht, wenn einem ein Haufen davon gehörte. Im Gegenteil, es bedeutete einen ewigen Kampf, sich auf dem Markt zu behaupten und es wurde immer teurer, sich das Gesindel vom Hals zu halten. Bewegen konnte man sich nur noch in bewachten Arealen, die Sicherheitstechnik für das eigene Zuhause musstet ständig nachgerüstet werden, das verschlang Unsummen, genauso wie all der technische Aufwand, den man betreiben musste, um den Wetterlaunen etwas entgegenzusetzen, sei es nun Hitze-, Sturm-, Hochwasser- oder Frostschutz.

Und dann hatten die Sicherheitssysteme doch versagt. Sie hatten sein Auto gestoppt durch einen gefällten Mast, an dem früher einmal eine Telefonleitung gehangen hatte. Das Ding war plötzlich direkt vor ihm auf die Straße gekracht. Vor Schreck hatte er es versäumt, die Verriegelung zu aktivieren, sie waren von hinten ins Auto gestürmt, er hatte nicht die Spur einer Chance gehabt. Er erinnerte sich noch an einen stinkenden, feuchten Lappen vor seinem Gesicht, dann war es dunkel geworden. Sein Erwachen hatte daran nichts geändert, nur brennender Durst und rasende Kopfschmerzen hatten sich zu der Dunkelheit gesellt.

„Hätte ich doch ein Taxi genommen! Oder hätte ich doch das Meeting bei mir abgehalten!“, dachte er, um diese Gedanken sofort wieder zu verwerfen. Sie hatten es auf ihn abgesehen, wenn nicht heute, dann hätte es ihn in den nächsten Tagen erwischt. Niemand wollte unter einer Glasglocke leben.
Was wollten sie? Rache? Lösegeld? Betriebswirtschaftliche oder politische Entscheidungen? Auslösung politischer Gefangener? Er wusste es nicht.

Aber da war eine Erinnerung, die er nicht beiseite wischen konnte. Diese Party bei Julie, vor fünfzehn oder zwanzig Jahren, so genau wusste er das nicht mehr. Da war diese ungewöhnliche Frau, die so gesund und durchtrainiert war. Schlicht gekleidet, ungeschminkt und dennoch hatte sie gefunkelt wie ein Diamant. Anderenfalls hätte er ihr wohl auch nicht zugehört. Er war es gewohnt, für sich immer nur das Beste in Anspruch zu nehmen.
„In welcher Welt willst du leben?“, hatte sie ihn gefragt. „In einer Welt, in der überwiegend gesunde Menschen friedlich ihre Angelegenheiten regeln, in der so etwas wie Neid und Missgunst praktisch nicht existieren, in der Probleme gründlich analysiert und umgehend gelöst werden, weil man sie da angeht, wo sie entstehen und zwar direkt und ohne Verzögerungen. Wo du nicht in ständiger Angst leben musst vor Verlust, Terror, Entführung, Demütigung und so weiter, weil niemand es mehr nötig hat, sich etwas mit Gewalt anzueignen, bis auf ein paar in die Irre gegangene Ausnahmen vielleicht, für die es dann aber auch Konsequenzen gäbe, weil natürlich Regeln und Gesetze existierten, deren Einhaltung von einer funktionierenden Polizei durchgesetzt würden und die von einer integeren Justiz umgesetzt würden.
Oder wärst du lieber Teil einer Welt, in der du in ständiger Angst vor Raubüberfällen und Anschlägen leben müsstest, du alles was du besitzt hundertfach absichern müsstest, deine Gedanken ständig um deine eigene Sicherheit und den Schutz deines Vermögens kreisten, du dich nicht mehr frei in der Öffentlichkeit bewegen könntest, weil überall Gefahren lauerten, dazu Wetterextreme, Lieferengpässe, Unsicherheit durch Aufstände, Kriege und unfähige Regierungen?“
„Natürlich in der ersten Version.“, hatte er schmunzelnd geantwortet. „Aber was soll die Frage?“
„Dann hör auf, den Ast abzusägen, auf dem du sitzt.“, hatte sie geantwortet. „Verzichte auf einen Teil deines Reichtums und deiner Privilegien, um am Ende mehr zu gewinnen, als du dir vielleicht erträumt hast. Um in einer besseren Welt aufzuwachen. Sieh es als Investition in die Zukunft.“
Dann hatte sie ihn stehen lassen und er hatte sie belächelt und mit den Schultern gezuckt. Er hatte gespürt, dass sie nicht an ihm interessiert gewesen war, sondern an seinem Status. Also hatte er nicht weiter über ihre Worte nachgedacht. Aktivistinnen-Gerede, realitätsfern und lustfeindlich.

Wo er wohl heute wäre, wenn er auf sie gehört hätte? Das dachte er, als ein plötzlicher Lichtstrahl ihn blendete.

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Freitag, 9. August 2024
Gegenolympiade*
*der Titel stammt im Original von Dietmar Wischmeyer, als er vor etwa 30 Jahren die im Folgenden beschriebene Veranstaltung im Frühstyxradio auf FFN so betitelte. Ich hoffe, er verzeiht mir mein kleines Plagiat.


Er musste sich ein Bild machen, bevor er am kommenden Sonntag den besonderen Gottesdienst im Festzelt gestalten würde. Ihm waren derlei Volksfeste fremd, aufgewachsen am Stadtrand einer westfälischen Provinzmetropole, kannte er nur Innenstadt-Kirmes, Weihnachtsmarkt und private Feierlichkeiten in Wohnzimmern, Partykellern oder Gärten.
Sportwerbewoche nannte sich die Veranstaltung. Es war ein unfassbares Ereignis für die Einheimischen. Vom ersten Freitag bis zum zweiten Sonntag in der Folgewoche wurde durchgefeiert, viele nahmen sich dafür extra eine Woche Urlaub, vordergründig ging es um Sport, vorzugsweise um Handball-Turniere, aber eigentlich setzten die Besucher:innen wie bei jedem Volksfest die üblichen Schwerpunkte: Alkoholkonsum, laute Musik, fettiges, eiweißreiches Essen, sowie Paarungsrituale von der Balz über die Schlägerei bis zur Vollendung zahlreicher Geschlechtsakte. Die Gescheiterten urinierten an Bäume und erbrachen sich in dunklen Winkeln, die am Tage fatalerweise wieder hell ausgeleuchtet waren.

In Nordhemmern war das Sportfest, wie es um Volksmund genannt wurde, aber viel mehr als das. Es handelte sich um ein gesellschaftliches Ereignis mit gleich mehreren Höhepunkten: Dem Heimatabend zum Auftakt, dem Grillabend mit lustiger Fahrradrallye und Laser-Show in der Mitte und einem bunten, familienfreundlichen Sonntag zum Abschluss, mit Gottesdienst, Kuchen, Kinderflohmarkt Turnierfinale und breitem kulinarischem Angebot.
Er meldete sich auch zur Fahrradrallye an. Da er noch weitestgehend unbekannt im Dorf war, schloss er sich einer Gruppe mittelalter Männer an, die ihn großzügig aufnahmen. „Patrick Gottwald“, stellte er sich vor, „seit ein paar Wochen Gemeindepfarrer in der Region Hille, zuständig auch für Nordhemmern.“
Das sei hinlänglich bekannt, entgegnete man mit fröhlichem Lachen und hieß ihn der Gruppe willkommen. Man radelte gemächlich und ohne Eile von Station zu Station, verließ bald die Grenzen des Dorfes, um gleich wieder zurückzukehren, vollführte Turnübungen oder maß sich in phantasierten olympischen Disziplinen wie Teebeutelweitwurf, Kirschkern-weit-Spucken oder kooperativem Sommer-Skilauf. Es war ein bisschen albern, aber auch sehr gesellig, kurzweilig und gemütlich. Dass einige Herren während der Rallye bereits mit Bier vorglühten, empfand er als leicht verstörend, aber nicht weiter tragisch.

Beim Apfel-Dart traf er auf ein bekanntes Gesicht. Ein Mitglied des örtlichen Presbyteriums gehörte zu jenen, die die Station betreuten. Rainer Lürmann, ein kluger, bodenständiger und gesprächsbereiter Typ. Er sammelte gerade ein paar am Boden liegende Pfeile ein, als er plötzlich im Gras zusammenbrach. Man eilte ihm sofort zur Hilfe, jemand rief einen Rettungswagen und es dauerte eine Weile, bis man feststellte, dass in seiner Schläfe ein Dartpfeil steckte und der Rettungswagens sich vergeblich auf den Weg gemacht hatte. Ein schrecklicher Unfall, dessen Schatten Patrick annehmen ließ, das Fest sei nun zu Ende. Aber mitnichten. Schließlich hatten mehr als einhundert Menschen an der Vorbereitung und Ausgestaltung mitgewirkt, es war viel Geld in die Veranstaltung geflossen und das musste zu einem großen Teil wieder herein kommen, außerdem, so versicherte man es ihm, sei das nun wahrhaft nicht das erste Mal, dass jemand während des Festes versterbe. Es seien schon vor Kraft strotzende Familienväter vor dem Handballtor leblos zusammengebrochen, Alkoholvergiftungen und eine Schlägerei mit Todesfolge seien ebenfalls dabei gewesen. Es wäre aber eine nette Geste von dem Herrn Pfarrer den tragischen Todesfall im Schluss-Gottesdienst am Sonntag nicht unerwähnt zu lassen. Rainer Lürmann sei ja praktisch für den Sportverein gestorben.

Er radelte dennoch auf dem schnellsten Weg zurück zum Platz. Auch hier stand ein bekanntes Gesicht aus dem Presbyterium, mit eingezogenem Kopf, hängenden Schultern und einem Körper, dem man nicht ansah, dass er durch exzessives Radeln gestählt wurde. Zu jeder Sitzung erschien er demonstrativ mit dem Rad in entsprechend eindeutiger Kleidung, heute dagegen stand er da im blütenweißen Hemd und frischer Jeans. Ein zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht sagte ihm, dass Stefan Glaser noch nichts von dem tragischen Vorfall wusste. Er trat widerwillig an ihn heran und erklärte: „Zu meinem großen Bedauern muss ich Ihnen mitteilen, dass ein Mitglied ihres Presbyteriums gerade eben ums Leben gekommen ist. Rainer Lürmann wurde tödlich von einem Dartpfeil getroffen.“
Stefan Glaser machte ein überraschtes Gesicht, das eigenartigerweise überhaupt nicht echt wirkte. Stattdessen schweifte sein Blick kurz unruhig über den Platz, verharrte für einen Augenblick an einem Punkt und wurde dann stiller. Patrick sah in dieselbe Richtung und bemerkte einen weiteren Presbyter, Herwig Schmitz, dem die Unruhe in der zur Schau gestellten Gelassenheit ebenfalls anzusehen war. Er trug noch den Fahrradhelm. Er wandte sich erneut Stefan Glaser zu: „Das wird sicher eine große Herausforderung für Ihr ohnehin schon unvollständig besetztes Presbyterium.“
„Vielleicht.“, erwiderte Glaser. „Auf jeden Fall ändert es die Situation grundlegend. Wir haben nun kein Patt mehr, sondern eine Mehrheit für unsere Unabhängigkeit. Die Großgemeinde darf sich ohne uns zugrunde richten. Wir geben dann gerne Ratschläge beim Neuanfang.“ Glaser grinste breit und ging auf wackligen Beinen auf Schmitz zu. Es sollte würdig und gemessen wirken, was ihm ebenso wenig gelang, wie ihm die Umsetzung seiner Pläne für eine unabhängige, viel zu kleine Kirchengemeinde gelingen würde

Patrick wusste später nicht, warum er es getan hatte, auf jeden Fall zog er sein Mobiltelefon aus der Tasche und rief die Webseite der Kirchengemeinde auf. Das Presbyterium stellte sich dort vor, jeder für sich mit Name, Foto, Zielen für die Kirchengemeinde und persönlichen Hobbys. Schmitz liebte Radfahren, gute Krimis, gutgeschriebene Bibelkommentare und Darts.

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Freitag, 2. August 2024
Spoiler 33 - nichts für Kinder
2018
In der ersten Jahreshälfte verbrachte Astrid mehr Zeit bei Ärztinnen und Ärzten als in den vergangenen fünf Jahren. Für Louis standen immer wieder neue Untersuchungen und Anordnungen wegen seines Asthmas an, das sich auch im zwölften Lebensjahr nicht wie erhofft ausgewachsen hatte. Annalena erwischte im Winter ein Infekt nach dem anderen und Astrid selbst kämpfte mit diversen Symptomen, die laut hausärztlicher Beurteilung alle auf dieselbe Ursache zurückzuführen waren: Überlastung. Der Arzt überredete Astrid, eine Mutter-Kind-Kur zu beantragen, an der See, um Louis Asthma etwas entgegenzusetzen, Annalena eine anregende Umgebung zu bieten und Astrid nachhaltige Erholung zu verschaffen. Drei Wochen Auszeit in den Sommerferien. Die 16-jährige Tochter konnte sie getrost beim Vater lassen und die Großmutter war schließlich auch noch da.

Viola war sich nicht sicher, ob sie sich auf die Atempause freuen sollte oder ob nun eine Zeit schlimmster Übergriffe auf sie zukam, weil niemand etwas mitbekam. Für die ersten Nächte organisierte sie sich gleich mehrere Übernachtungen bei Paula mit der Begründung, sie helfe ihr bei der Renovierung ihres Zimmers und sie wollten vor allem nachts arbeiten, weil es tagsüber in der Dachkammer viel zu heiß sei.
Raimund schluckte die Begründung. Drei Wochen waren eine lange Zeit. Er würde noch hinreichend Gelegenheiten finden, seiner Tochter seine Nähe aufzuzwingen.
Mit dem Beginn der Sommerferien kam der Tag der Abreise. Ein Taxi brachte Astrid und ihre Kinder morgens zum Bahnhof. Raimund, Ingrid und Viola nahmen Abschied und wünschten eine gute Reise. Raimund gab seinem Sohn High Five und der kleinen Tochter einen Kuss auf den Mund, dann strich er ihr noch einmal liebevoll über den Po. Viola bemerkte seinen Blick, der auf dem kleinen Mädchen ruhte, das im rosa Kleidchen mit Spaghetti-Trägern in das Taxi kletterte. Viola ahnte, dass Annalena bald die nächste sein würde, spätestens, wenn Viola das Elternhaus verließ. Sie spürte einen Kloß im Hals, der stetig anschwoll.

Am Nachmittag packte Viola ihre Tasche und floh zu Paula. Paula renovierte mitnichten ihr Zimmer. Viola hatte um Asyl gebeten, weil ihr Vater einfach unmöglich sei und sie es nicht allein mit ihm aushalte. Paula spielte bereitwillig mit und sogar ihre Eltern hatten Verständnis.
Die zweite Nacht verbrachte Viola in Wirklichkeit bei ihrem Freund Lasse und manchmal unternahmen sie auch etwas zu dritt.
Die Aussicht, in ein paar Tagen an den Ort des Grauens zurückkehren zu müssen, bereitete Viola zunehmend Sorge. In ihrer Verzweiflung vertraute sie sich ihrem Freund an: „Wenn es irgendeine Möglichkeit gäbe, sofort zu Hause auszuziehen, würde ich das sofort machen.“
„Ist es so schlimm?“, fragte Lasse.
„Schlimmer als schlimm.“
„Macht deine Mutter dir Stress?“
„Nein, meine Mutter ist ganz in Ordnung. Die kriegt nur nichts mit.“
„Wie meinst du das?“
„Mein Vater ist das Problem.“
„Weil er so streng ist?“
„Weil er ekelhaft ist. Und pervers.“
Lasse schwieg betroffen. Er wusste nicht, ob er wissen wollte, was Viola ihm da offenbarte. Nach einer Weile fragte er dann doch weiter: „Was macht er denn?“
„Er macht Sachen mit mir, die man nicht mit seiner Tochter macht.“
Lasse riss die Augen auf: „Willst du damit sagen, dass er ein verdammter Kinderficker ist?“
Viola nickte stumm und starrte finster ins Leere.
Lasse war erschüttert. Dann sagte er: „Du musst ihn anzeigen. Und du musst da sofort raus.“
„Das geht nicht.“, sagte Viola. „Das dauert alles viel zu lange. Außerdem komme ich dann für die nächsten zwei Jahre in ein Heim. Bei dir übernachten darf ich dann auch nicht mehr. Und bis sie ihn drankriegen, hat er auch meine kleine Schwester kaputt gemacht. Du hättest mal sehen sollen, wie er sie angefasst und angeguckt hat, als sie mit Mama und Louis in die Kur gefahren ist. Wenn die wieder nach Hause kommen...ohr Scheiße, ich will mir das gar nicht vorstellen.“
„Aber wenn du ihn jetzt anzeigst...“
„Ist er noch nicht in zwei-ein-halb Wochen weg. Und was glaubst du, was der in der Zwischenzeit mit mir anstellt? Der bringt mich um. Ich muss nachdenken. Vielleicht fällt mir was ein.“

In den frühen Morgenstunden lag Viola wach. Nach langem Grübeln fiel ihr etwas ein. Ihr Vater war starker Raucher. Jetzt, wo Astrid längere Zeit nicht zu Hause war, würde er sicher auch im Bett rauchen. So etwas konnte lebensgefährlich sein. Und schließlich hatte sie einen Plan. Sie stahl eine Schlaftablette aus dem Medizinschränkchen von Lasses Eltern. Bei Husemanns bettelte sie am folgenden Abend ebenfalls um eine Schlaftablette, weil sie zur Zeit so unter Einschlafstörungen leide. Als Schlafenszeit bei Husemanns war, rührte sie Paula eine halbe Tablette in die Limo. Sie sollte nichts mitbekommen, nichts wissen, nicht mit hineingezogen werden.
Als Paula fest schlief, zog Viola sich an, schlich aus dem Gasthof und radelte im Schutz der Dunkelheit zum elterlichen Hof. Raimund saß vor dem Fernseher und trank Bier. Er war müde und angetrunken. Sie briet sich zur Tarnung in der Küche ein paar Eier, behauptete, Paula sei etwas erkältet und habe laut geschnarcht. Sie setzte auf den Harndrang ihres Vaters, der schon bald auf der Toilette verschwand. Sein Bier war noch halb voll. Die Ein-ein-halb Schlaftabletten hatte sie schon in der Küche zerstoßen, sie ließen sich mit Hilfe eines gefalteten Papiers fix in die Bierflasche rieseln. Dann stellte sie ihrem Vater auch eine Portion Rührei hin, die er bereitwillig verschlang und mit dem eigenartig schmeckenden Bier hinunter spülte.
„Wo du schon mal da bist, kannst du mal mein Bett aufschütteln. Ich muss noch duschen und ich bin so kaputt von der Arbeit.“
Viola biss die Zähne zusammen. Es wäre ja das letzte Mal, sagte sie sich. Während er duschte schüttelte sie Kissen und Decke auf und zog sein fleckiges Laken glatt. Sie trug Hot Pants und ein eng anliegendes Top. Er würde sie nicht in Ruhe lassen. Zum Glück war er zu müde, um sich besondere Absonderlichkeiten auszudenken. Sie tat, was er wollte und ließ es über sich ergehen. Danach ging sie unter die Dusche, um jedes Molekül, das ihr Vater an und in ihr hinterlassen hatte, weg zu waschen. Als sie ins Schlafzimmer zurückkehrte, schlief er tief und fest. Sie verteilte Nagellack-Entferner auf seiner Decke; ein lässliches Opfer. Wie erwartet lagen seine Zigaretten auf dem Nachttisch. Sie nahm eine, zündete sie hustend an und schob die glühende Kippe zwischen seine Finger. Doch wollte sie sich nicht auf die Zigaretten verlassen. Was wäre, wenn sie verlosch und Raimund am nächsten Morgen den Geruch des Nagellack-Entferners wahrnahm? Sie hielt das Feuerzeug an die Decke. Die fing Feuer, doch die zarten Flammen züngelten einsam vor sich hin und erstarben so schnell wie sie empor gelodert waren. Sie dachte schnell nach. Der Nagellack-Entferner ihrer Mutter war noch voll und dann stand da eine Flasche Haarspray. Sie verteilte das Lösungsmittel erneut auf der Decke, hielt das brennende Feuerzeug in der linken Hand und in der rechten das Haarspray. Sie sprühte kurz in die kleine Flamme des Feuerzeugs und entzündete mit der so entstandenen Stichflamme die Bettdecke. Sie legte das Feuerzeug auf den Nachttisch und stellte das Haarspray zurück ins Bad. Das Bett stand in Flammen und Raimund schlief fest. Viola verließ das Haus, radelte zurück zum Gasthof, wo sie durch die offen gelassene Kellertür in Paulas Zimmer zurück schlich und sich leise in das Gästebett legte. Paula schlief noch immer tief und fest. Und Viola flehte das Universum an, dass ihr Plan aufging.

Ende Spoiler Ramöller. - Demnächst Spoiler Husemann

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