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Freitag, 31. Mai 2024
Spoiler 26
c. fabry, 15:38h
2008
Für Viola war der 12. August 2008 ein denkwürdiges Datum. Auch für ihre Mutter war es etwas Besonderes, bei der Einschulung ihres erstgeborenen Kindes dabei zu sein.
Raimund hingegen überließ die Angelegenheit seiner Frau, steckte er doch mitten im Erntestress. Und Ingrid war nur geringfügig an den besonderen Meilensteinen, die die Lebensabschnitte ihrer Enkelin markierten, interessiert, seit es auch ein männliches Exemplar gab. Sie kümmerte sich hingebungsvoll um den kleinen Louis, für den die Veranstaltung nach ihrem Dafürhalten eine Tortur bedeutet hätte. Die Schwiegertochter war aus der Schusslinie und sie konnte das Ebenbild ihres Sohnes so oft an ihren Busen drücken und mit Küssen bedecken, wie es ihr gefiel.
Die Feierlichkeiten zur Einschulung waren bunt und lebendig, Viola war begeistert, dass neben den vielen bekannten Gesichtern aus der Kindergartenzeit auch so viele neue Erstklässler dort waren, dass sie Kinder wieder erblickte, die vor einem Jahr den Kindergarten verlassen hatten, dass es so viel zu entdecken gab und dass ihre Klassenlehrerin so nett war.
Astrid hatte sich nach reiflicher Überlegung entschlossen, mit Violas Schulstart wieder ihre berufliche Tätigkeit aufzunehmen und Louis für ein halbes Jahr der Obhut seiner Großmutter zu überlassen. Danach hatte sie einen Platz für ihn in einer Kindertagesstätte in Werther, bevor er als Dreijähriger ebenfalls im Kindergarten vor Ort unterkommen konnte. Darum hatte sie ihre Tochter für den offenen Ganztag angemeldet und hoffte, dass sie sich dort gut zurechtfand.
Tatsächlich war Viola in der Grundschule hoch zufrieden. In den Pausen und in der Betreuung erlebte sie herrliche neue und alte Spiele, traf viele Verabredungen und lernte ein bekanntes Gesicht aus dem Kindergarten näher kennen: Paula Husemann aus dem Gasthof Bierhoff, die Tochter von Raimunds alter Schulkameradin Sigrid Husemann. In der Kita hatten sie aneinander vorbeigesehen, doch hier in der OGS stellten sie plötzlich fest, dass sie an den gleichen Spielen und Bastelaktionen Freude hatten, über dieselben Dinge lachen konnten und meistens übereinstimmten, wenn es um Sympathie oder Antipathie gegenüber Mitschülerinnen und Mitschülern ging. Gemeinsam träumten sie sich in eine bessere Welt, denn bei beiden war es zu Hause von Zeit zu Zeit schwierig und belastend. Ihre Freundschaft half ihnen, dem Druck für eine Weile zu entkommen und Kräfte zu sammeln.
Viola überließ den größten Teil der mütterlichen Fürsorge ihrem kleinen Bruder. Ihrem Vater ging sie möglichst aus dem Weg, der Großmutter zu Hause ebenso. Die Großeltern in Halle waren weit weg, die Oma, schwer an Krebs erkrankt, starb bald und der Opa zog sich in seine Trauer zurück.
Raimund erfreute sich ebenso wie seine Mutter wesentlich mehr an seinem "Stammhalter" als an seiner Tochter und so blieb das Mädchen fürs Erste weitestgehend sich selbst überlassen.
Für Viola war der 12. August 2008 ein denkwürdiges Datum. Auch für ihre Mutter war es etwas Besonderes, bei der Einschulung ihres erstgeborenen Kindes dabei zu sein.
Raimund hingegen überließ die Angelegenheit seiner Frau, steckte er doch mitten im Erntestress. Und Ingrid war nur geringfügig an den besonderen Meilensteinen, die die Lebensabschnitte ihrer Enkelin markierten, interessiert, seit es auch ein männliches Exemplar gab. Sie kümmerte sich hingebungsvoll um den kleinen Louis, für den die Veranstaltung nach ihrem Dafürhalten eine Tortur bedeutet hätte. Die Schwiegertochter war aus der Schusslinie und sie konnte das Ebenbild ihres Sohnes so oft an ihren Busen drücken und mit Küssen bedecken, wie es ihr gefiel.
Die Feierlichkeiten zur Einschulung waren bunt und lebendig, Viola war begeistert, dass neben den vielen bekannten Gesichtern aus der Kindergartenzeit auch so viele neue Erstklässler dort waren, dass sie Kinder wieder erblickte, die vor einem Jahr den Kindergarten verlassen hatten, dass es so viel zu entdecken gab und dass ihre Klassenlehrerin so nett war.
Astrid hatte sich nach reiflicher Überlegung entschlossen, mit Violas Schulstart wieder ihre berufliche Tätigkeit aufzunehmen und Louis für ein halbes Jahr der Obhut seiner Großmutter zu überlassen. Danach hatte sie einen Platz für ihn in einer Kindertagesstätte in Werther, bevor er als Dreijähriger ebenfalls im Kindergarten vor Ort unterkommen konnte. Darum hatte sie ihre Tochter für den offenen Ganztag angemeldet und hoffte, dass sie sich dort gut zurechtfand.
Tatsächlich war Viola in der Grundschule hoch zufrieden. In den Pausen und in der Betreuung erlebte sie herrliche neue und alte Spiele, traf viele Verabredungen und lernte ein bekanntes Gesicht aus dem Kindergarten näher kennen: Paula Husemann aus dem Gasthof Bierhoff, die Tochter von Raimunds alter Schulkameradin Sigrid Husemann. In der Kita hatten sie aneinander vorbeigesehen, doch hier in der OGS stellten sie plötzlich fest, dass sie an den gleichen Spielen und Bastelaktionen Freude hatten, über dieselben Dinge lachen konnten und meistens übereinstimmten, wenn es um Sympathie oder Antipathie gegenüber Mitschülerinnen und Mitschülern ging. Gemeinsam träumten sie sich in eine bessere Welt, denn bei beiden war es zu Hause von Zeit zu Zeit schwierig und belastend. Ihre Freundschaft half ihnen, dem Druck für eine Weile zu entkommen und Kräfte zu sammeln.
Viola überließ den größten Teil der mütterlichen Fürsorge ihrem kleinen Bruder. Ihrem Vater ging sie möglichst aus dem Weg, der Großmutter zu Hause ebenso. Die Großeltern in Halle waren weit weg, die Oma, schwer an Krebs erkrankt, starb bald und der Opa zog sich in seine Trauer zurück.
Raimund erfreute sich ebenso wie seine Mutter wesentlich mehr an seinem "Stammhalter" als an seiner Tochter und so blieb das Mädchen fürs Erste weitestgehend sich selbst überlassen.
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Freitag, 17. Mai 2024
Spoiler 25
c. fabry, 09:42h
2006
Seit dem Sommer 2005 war Astrid mit einer halben Stelle in die Arbeitswelt zurückgekehrt und Viola besuchte den Kindergarten in Häger. Nur an Astrids Dienstwochenenden wurde Ingrids Unterstützung bei Violas Betreuung benötigt und das war Astrid eigentlich schon zu viel. Ihre eigenen Eltern konnte sie leider nicht mehr einspannen, denn ihre Mutter war an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt, sodass sie eher Astrids Fürsorge benötigte, ebenso wie der mit der Situation überforderte Vater.
Für Raimund änderte sich nicht viel. Vorher war seine Frau ganztägig in der Kinderbetreuung aufgegangen, jetzt schaffte sie halbtags Kohle ran und parkte die Kleine so lange im Kindergarten.
Ingrid war hingegen enttäuscht, dass die Kita die Erwerbszeiten der Mutter nahezu vollständig ausglich. Sie durfte ihr Enkelkind hin und wieder von der Kita abholen, wenn ihre Schwiegertochter sich verspätete und es war ihr gestattet einmal im Monat am Wochenende für ein paar Stunden ihren Platz einnehmen.
Im Februar wurde Astrid erneut schwanger, so konnte sie sich mit mehr als einem Jahr zwischen den Erziehungsurlauben ihre Stelle sichern.
Der Sommer 2006 war heiß und trocken, in ganz Deutschland waren alle aus dem Häuschen wegen der Fußballweltmeisterschaft. Wie in der letzten Schwangerschaft war Astrid reichlich mitgenommen von den Begleiterscheinungen der Hormonumstellung und benötigte viel Ruhe. Ingrid reagiert ungehalten auf Astrids Entschlossenheit, dennoch bis zum Beginn des Mutterschutzes zu arbeiten. So blieben nun viele unangenehme Aufgaben an ihr hängen, bei der Betreuung der Enkelin blieb sie dennoch meistens außen vor, was den Groll gegenüber ihrer Schwiegertochter stetig wachsen ließ. Wäre das Verhältnis zwischen den beiden Frauen weniger angespannt gewesen, hätten die Ereignisse womöglich einen gänzlich anderen Verlauf genommen.
Es war am frühen Abend, wenige Wochen vor Violas viertem Geburtstag. Sie war müde und aufgedreht, hatte noch nicht zu Abend gegessen, weil Astrid sich vor Erschöpfung zurückgezogen hatte und eingeschlafen war. Ingrid war noch nicht von einer Einladung zurückgekehrt und Raimund lag nach einem harten Arbeitstag auf dem Sofa und verfolgte mit Spannung ein Länderspiel. Er war auch hungrig, überbrückte dies aber mit Bier und Chips. Viola war verunsichert, lief im Wohnzimmer auf und ab und plapperte aufgeregt. Raimund wollte in Ruhe das Sportprogramm verfolgen.
"Jetzt halt endlich den Rand!", brüllte er seine kleine Tochter an.
Die zuckte zusammen, lief kurz aus dem Zimmer, aber nur, um ihre Lieblingspuppe und deren Essgeschirr zu holen. Dann demonstrierte sie an der Puppe genau das Abendritual, auf das sie schon seit etwa einer Stunde vergeblich wartete. "Ja, Lilli", beruhigte sie das Püppchen, "der Tee ist gleicht durchgezogen. Iss doch schon ein paar Gurkenscheiben. Willst du Leberwurst oder Frischkäse auf dein Brot?"
Dabei klapperte sie mit dem Puppengeschirr und lief geschäftig hin und her.
Da sein Gebrüll offenbar nicht gefruchtet hatte, platzte Raimund der Kragen. Er sprang vom Sofa auf und verpasste seiner Tochter einen Fußballer-Tritt in die Rippen, sodass sie quer durchs Zimmer geschleudert wurde. "Jetzt sei endlich still!", brüllte er hinterher.
Als das kleine Mädchen verängstigt und leise wimmernd liegen blieb, bekam er plötzlich Angst. Nicht etwa davor, dass er ihr innere Verletzungen zugefügt haben könne, vielmehr vor der Ächtung seines Ausbruchs durch seine Frau.
"Jetzt hör auf rum zu heulen!", blaffte er Viola an. "Das war noch gar nichts. Wenn du Mama das erzählst, dann passiert was, dann hast du Grund zu heulen. Erzähl Mama, dass du gefallen bist, beim Rumklettern auf dem Sessel."
Sein Plan ging auf. Violas Angst reichte so tief, dass sie sich in der gegenwärtigen Situation vollkommen still verhielt. Sie wagte nicht, irgendjemandem davon zu erzählen. Als Astrid sich in den kommenden Tagen schockiert erkundigte, wie sie zu dem riesigen blauen Fleck an ihrer Seite gekommen sei, erklärte sie: "Ich bin gefallen, beim Klettern, auf dem Sessel."
"Warum bist du nicht gleich zu mir gekommen?", fragte Astrid. "Das sieht ja schlimm aus."
"Ist nicht schlimm.", sagte Viola schnell und streckte die Arme nach oben, damit ihr die Mutter das Sommerkleid überstreifen konnte.
Astrid wurde nicht argwöhnisch. Eine derartige Brutalität, wie sie sich in ihrem Haus ereignet hatte, konnte sie sich nicht vorstellen. Und es wieder holte sich vorerst nicht. Viola ging Raimund aus dem Weg und war still in seiner Gegenwart. Er war zufrieden und fühlte sich in seinem Vorgehen bestätigt.
Im November brachte Astrid ihr zweites Kind zur Welt: Louis. Raimund war mächtig stolz und Ingrid freute sich über den männlichen Enkel, in dem sie von Anfang an ihren Sohn wiederzuerkennen meinte. Dieses Mal würde sie sich als Großmutter nicht derartig beiseite schieben lassen.
Violas Angst wuchs von Tag zu Tag. Durch die Geburt ihres Bruders fühlte sie sich wie ein abgenutztes Spielzeug. Alles drehte sich nur noch um das Baby. Ihre Mutter und engste Vertraute brauchte ihre ganze Kraft für den Säugling und bei Vater und Oma war sie ebenfalls abgeschrieben. Sie konnte sich nicht wirklich vorstellen, was ihr drohte, aber sie fürchtete sich vor unbekannten Schrecken, die hinter jeder Tür lauern konnten, vor Gewalt und vor dem Vergessenwerden.
Seit dem Sommer 2005 war Astrid mit einer halben Stelle in die Arbeitswelt zurückgekehrt und Viola besuchte den Kindergarten in Häger. Nur an Astrids Dienstwochenenden wurde Ingrids Unterstützung bei Violas Betreuung benötigt und das war Astrid eigentlich schon zu viel. Ihre eigenen Eltern konnte sie leider nicht mehr einspannen, denn ihre Mutter war an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt, sodass sie eher Astrids Fürsorge benötigte, ebenso wie der mit der Situation überforderte Vater.
Für Raimund änderte sich nicht viel. Vorher war seine Frau ganztägig in der Kinderbetreuung aufgegangen, jetzt schaffte sie halbtags Kohle ran und parkte die Kleine so lange im Kindergarten.
Ingrid war hingegen enttäuscht, dass die Kita die Erwerbszeiten der Mutter nahezu vollständig ausglich. Sie durfte ihr Enkelkind hin und wieder von der Kita abholen, wenn ihre Schwiegertochter sich verspätete und es war ihr gestattet einmal im Monat am Wochenende für ein paar Stunden ihren Platz einnehmen.
Im Februar wurde Astrid erneut schwanger, so konnte sie sich mit mehr als einem Jahr zwischen den Erziehungsurlauben ihre Stelle sichern.
Der Sommer 2006 war heiß und trocken, in ganz Deutschland waren alle aus dem Häuschen wegen der Fußballweltmeisterschaft. Wie in der letzten Schwangerschaft war Astrid reichlich mitgenommen von den Begleiterscheinungen der Hormonumstellung und benötigte viel Ruhe. Ingrid reagiert ungehalten auf Astrids Entschlossenheit, dennoch bis zum Beginn des Mutterschutzes zu arbeiten. So blieben nun viele unangenehme Aufgaben an ihr hängen, bei der Betreuung der Enkelin blieb sie dennoch meistens außen vor, was den Groll gegenüber ihrer Schwiegertochter stetig wachsen ließ. Wäre das Verhältnis zwischen den beiden Frauen weniger angespannt gewesen, hätten die Ereignisse womöglich einen gänzlich anderen Verlauf genommen.
Es war am frühen Abend, wenige Wochen vor Violas viertem Geburtstag. Sie war müde und aufgedreht, hatte noch nicht zu Abend gegessen, weil Astrid sich vor Erschöpfung zurückgezogen hatte und eingeschlafen war. Ingrid war noch nicht von einer Einladung zurückgekehrt und Raimund lag nach einem harten Arbeitstag auf dem Sofa und verfolgte mit Spannung ein Länderspiel. Er war auch hungrig, überbrückte dies aber mit Bier und Chips. Viola war verunsichert, lief im Wohnzimmer auf und ab und plapperte aufgeregt. Raimund wollte in Ruhe das Sportprogramm verfolgen.
"Jetzt halt endlich den Rand!", brüllte er seine kleine Tochter an.
Die zuckte zusammen, lief kurz aus dem Zimmer, aber nur, um ihre Lieblingspuppe und deren Essgeschirr zu holen. Dann demonstrierte sie an der Puppe genau das Abendritual, auf das sie schon seit etwa einer Stunde vergeblich wartete. "Ja, Lilli", beruhigte sie das Püppchen, "der Tee ist gleicht durchgezogen. Iss doch schon ein paar Gurkenscheiben. Willst du Leberwurst oder Frischkäse auf dein Brot?"
Dabei klapperte sie mit dem Puppengeschirr und lief geschäftig hin und her.
Da sein Gebrüll offenbar nicht gefruchtet hatte, platzte Raimund der Kragen. Er sprang vom Sofa auf und verpasste seiner Tochter einen Fußballer-Tritt in die Rippen, sodass sie quer durchs Zimmer geschleudert wurde. "Jetzt sei endlich still!", brüllte er hinterher.
Als das kleine Mädchen verängstigt und leise wimmernd liegen blieb, bekam er plötzlich Angst. Nicht etwa davor, dass er ihr innere Verletzungen zugefügt haben könne, vielmehr vor der Ächtung seines Ausbruchs durch seine Frau.
"Jetzt hör auf rum zu heulen!", blaffte er Viola an. "Das war noch gar nichts. Wenn du Mama das erzählst, dann passiert was, dann hast du Grund zu heulen. Erzähl Mama, dass du gefallen bist, beim Rumklettern auf dem Sessel."
Sein Plan ging auf. Violas Angst reichte so tief, dass sie sich in der gegenwärtigen Situation vollkommen still verhielt. Sie wagte nicht, irgendjemandem davon zu erzählen. Als Astrid sich in den kommenden Tagen schockiert erkundigte, wie sie zu dem riesigen blauen Fleck an ihrer Seite gekommen sei, erklärte sie: "Ich bin gefallen, beim Klettern, auf dem Sessel."
"Warum bist du nicht gleich zu mir gekommen?", fragte Astrid. "Das sieht ja schlimm aus."
"Ist nicht schlimm.", sagte Viola schnell und streckte die Arme nach oben, damit ihr die Mutter das Sommerkleid überstreifen konnte.
Astrid wurde nicht argwöhnisch. Eine derartige Brutalität, wie sie sich in ihrem Haus ereignet hatte, konnte sie sich nicht vorstellen. Und es wieder holte sich vorerst nicht. Viola ging Raimund aus dem Weg und war still in seiner Gegenwart. Er war zufrieden und fühlte sich in seinem Vorgehen bestätigt.
Im November brachte Astrid ihr zweites Kind zur Welt: Louis. Raimund war mächtig stolz und Ingrid freute sich über den männlichen Enkel, in dem sie von Anfang an ihren Sohn wiederzuerkennen meinte. Dieses Mal würde sie sich als Großmutter nicht derartig beiseite schieben lassen.
Violas Angst wuchs von Tag zu Tag. Durch die Geburt ihres Bruders fühlte sie sich wie ein abgenutztes Spielzeug. Alles drehte sich nur noch um das Baby. Ihre Mutter und engste Vertraute brauchte ihre ganze Kraft für den Säugling und bei Vater und Oma war sie ebenfalls abgeschrieben. Sie konnte sich nicht wirklich vorstellen, was ihr drohte, aber sie fürchtete sich vor unbekannten Schrecken, die hinter jeder Tür lauern konnten, vor Gewalt und vor dem Vergessenwerden.
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Samstag, 11. Mai 2024
Spoiler 24
c. fabry, 20:33h
2002
Im Juli 2002 brachte Astrid ihr erstes Kind zur Welt. Viola. Sie hatte einen vollen Tag in den Wehen zugebracht und war äußerst erschöpft. Die Schwangerschaft war ebenfalls nicht leicht gewesen. Den ganzen Herbst hindurch hatte sie unter Übelkeit und Erbrechen gelitten und deutlich an Gewicht verloren. Im Winter war sie wieder ein wenig zu Kräften gekommen aber im letzten Drittel der Schwangerschaft hatte sie mit heftigen Wassereinlagerungen, Beckenproblemen, Sodbrennen und chronischer Erschöpfung zu kämpfen.
Als es endlich geschafft war, trat neben der Freude und Erleichterung auch bald neue Tatkraft an die Stelle des Leidensdrucks. Die Hormone machten sie belastbar und sie blühte förmlich auf durch die Mutterschaft.
Nicht einmal das chronische Naserümpfen der Schwiegermutter über alles und jedes brachte sie aus dem emotionalen Gleichgewicht, Ingrid war voller Neid auf das junge Lebensglück, das ihr ungerechterweise so perfekt erschien.
Die sogenannte Pinkelparty hatte Astrid hingegen zuriefst erschüttert. Kaum war sie nach der Entbindung mit dem Neugeborenen in das Familiennest zurückgekehrt, wurden Freunde und Bekannte eingeladen, um auf die neue Erdenbürgerin anzustoßen. Raimunds Kumpel von der Feuerwehr und aus der Zeit der Landjugend waren schnell vollgetankt und mit jedem Bier wurde deren Scherze zotiger und abstoßender. Astridt war entsetzt, stellte Raimund am nächsten Tag zur Rede und die Fortsetzung dieser Freundschaften infrage.
"Das war doch nur Spaß.", versuchte Raimund sie zu beschwichtigen. "Die waren besoffen und haben ein bisschen Scheiße gelabert."
"Der Spaß hört für mich da auf, wo man Witze macht, in denen es darum geht, sich an Kindern zu vergreifen.", entgegnete Astrid. "Die haben nicht ein bisschen Scheiße gelabert, die haben sich ausgemalt, wie es wäre, es mit einem kleinen Mädchen zu machen . Warum sonst hätten sie den Spruch abgelassen, dass bis zur Hochzeit alles wieder verheilt ist?"
"So war das bestimmt nicht gemeint.", verteidigte Raimund seine Freunde. "Ich kann' die schon ewig. Das sind doch keine Kinderficker!"
"Aber keiner von denen bleibt jemals mit Viola allein! Das musst du mir versprechen!"
"Versprochen. Das will ja auch keiner."
Als die Zeit des Mutterschutzes um war, setzte Astrid die Babypause fort. Drei Jahre Erziehungsurlaub in Anspruch zu nehmen, erschien ihr sinnvoll, danach würde sie in Teilzeit wieder einsteigen.
Raimund war nur mäßig zufrieden mit der neuen Lebenssituation: Einerseits erfüllte die Vaterschaft ihn mit Stolz und er war zufrieden, dass alles nach Plan lief. Andererseits empfand er es als herbe Enttäuschung, dass seine Frau, die nun den ganzen Tag lang zu Hause war, nicht sanft lächelnd und wegen des Verzichts auf Erwerbsarbeit entspannt und ausgeglichen darüber nachsann, mit welchen kulinarischen und zärtlichen Leckerbissen sie ihn überraschen und verwöhnen konnte, sondern gereizt und bisweilen überfordert mit der Versorgung des Säuglings und der Regeneration ihres eigenen Körpers nach der Schwangerschaft vollauf beschäftigt war. Es trübte seine Laune, doch er erfuhr in Männergesprächen, dass es anderen jungen Vätern ähnlich erging.
Astrid war angesichts von Stress und Arbeitsbelastung keineswegs verwundert; sie war sich im Vorfeld darüber im Klaren gewesen. Worauf sie nicht vorbereitet gewesen war, war die penetrante Einmischung ihrer Schwiegermutter. Statt sich in ihrer behaglichen Wohnung zu entspannen oder etwas Anregendes zu unternehmen, kaufte sie gesüßte Säuglingsnahrung, billige Babywäsche und minderwertige Windeln. Astrid sollte lieber auf Flaschennahrung umsteigen, dann könnte die Oma das Füttern übernehmen und sie habe mehr Zeit, ihren Mann zu verwöhnen.
Wenn Astrid die kleine Viola im schattigen Teil des Gartens auf einer Decke strampeln ließ, erklärte ihr Ingrid, man müsse die Kinder kurz in die Sonne legen, damit sie nicht an Rachitis erkrankten und dann fest eingepackt im Körbchen oder im Kinderwagen schlafen lassen.
Astrid verdrehte die Augen, erklärte, dass es neuere wissenschaftliche Erkenntnisse gebe und dass sie Viola weder der direkten Sonne aussetze noch gedenke, ihre Bewegungsfreiheit einzuschränken.
Bei jedem Interventionsversuch schlug Ingrid einen freundlichen, lockeren Ton an und lächelte gewinnend, so als wolle sie nur unterstützen, aber Astrid spürte nur allzu deutlich, dass es hier um nichts Anderes als Macht ging. Umso entschiedener richtete sie all ihre Bestrebungen darauf aus, bis zur Rückkehr in den Beruf einen verlässlichen Kita-Platz für ihre Tochter zu organisieren, um ihr Kind vor der wenig altersgerechten Behandlung durch die eigenwillige Großmutter zu beschützen.
Im Juli 2002 brachte Astrid ihr erstes Kind zur Welt. Viola. Sie hatte einen vollen Tag in den Wehen zugebracht und war äußerst erschöpft. Die Schwangerschaft war ebenfalls nicht leicht gewesen. Den ganzen Herbst hindurch hatte sie unter Übelkeit und Erbrechen gelitten und deutlich an Gewicht verloren. Im Winter war sie wieder ein wenig zu Kräften gekommen aber im letzten Drittel der Schwangerschaft hatte sie mit heftigen Wassereinlagerungen, Beckenproblemen, Sodbrennen und chronischer Erschöpfung zu kämpfen.
Als es endlich geschafft war, trat neben der Freude und Erleichterung auch bald neue Tatkraft an die Stelle des Leidensdrucks. Die Hormone machten sie belastbar und sie blühte förmlich auf durch die Mutterschaft.
Nicht einmal das chronische Naserümpfen der Schwiegermutter über alles und jedes brachte sie aus dem emotionalen Gleichgewicht, Ingrid war voller Neid auf das junge Lebensglück, das ihr ungerechterweise so perfekt erschien.
Die sogenannte Pinkelparty hatte Astrid hingegen zuriefst erschüttert. Kaum war sie nach der Entbindung mit dem Neugeborenen in das Familiennest zurückgekehrt, wurden Freunde und Bekannte eingeladen, um auf die neue Erdenbürgerin anzustoßen. Raimunds Kumpel von der Feuerwehr und aus der Zeit der Landjugend waren schnell vollgetankt und mit jedem Bier wurde deren Scherze zotiger und abstoßender. Astridt war entsetzt, stellte Raimund am nächsten Tag zur Rede und die Fortsetzung dieser Freundschaften infrage.
"Das war doch nur Spaß.", versuchte Raimund sie zu beschwichtigen. "Die waren besoffen und haben ein bisschen Scheiße gelabert."
"Der Spaß hört für mich da auf, wo man Witze macht, in denen es darum geht, sich an Kindern zu vergreifen.", entgegnete Astrid. "Die haben nicht ein bisschen Scheiße gelabert, die haben sich ausgemalt, wie es wäre, es mit einem kleinen Mädchen zu machen . Warum sonst hätten sie den Spruch abgelassen, dass bis zur Hochzeit alles wieder verheilt ist?"
"So war das bestimmt nicht gemeint.", verteidigte Raimund seine Freunde. "Ich kann' die schon ewig. Das sind doch keine Kinderficker!"
"Aber keiner von denen bleibt jemals mit Viola allein! Das musst du mir versprechen!"
"Versprochen. Das will ja auch keiner."
Als die Zeit des Mutterschutzes um war, setzte Astrid die Babypause fort. Drei Jahre Erziehungsurlaub in Anspruch zu nehmen, erschien ihr sinnvoll, danach würde sie in Teilzeit wieder einsteigen.
Raimund war nur mäßig zufrieden mit der neuen Lebenssituation: Einerseits erfüllte die Vaterschaft ihn mit Stolz und er war zufrieden, dass alles nach Plan lief. Andererseits empfand er es als herbe Enttäuschung, dass seine Frau, die nun den ganzen Tag lang zu Hause war, nicht sanft lächelnd und wegen des Verzichts auf Erwerbsarbeit entspannt und ausgeglichen darüber nachsann, mit welchen kulinarischen und zärtlichen Leckerbissen sie ihn überraschen und verwöhnen konnte, sondern gereizt und bisweilen überfordert mit der Versorgung des Säuglings und der Regeneration ihres eigenen Körpers nach der Schwangerschaft vollauf beschäftigt war. Es trübte seine Laune, doch er erfuhr in Männergesprächen, dass es anderen jungen Vätern ähnlich erging.
Astrid war angesichts von Stress und Arbeitsbelastung keineswegs verwundert; sie war sich im Vorfeld darüber im Klaren gewesen. Worauf sie nicht vorbereitet gewesen war, war die penetrante Einmischung ihrer Schwiegermutter. Statt sich in ihrer behaglichen Wohnung zu entspannen oder etwas Anregendes zu unternehmen, kaufte sie gesüßte Säuglingsnahrung, billige Babywäsche und minderwertige Windeln. Astrid sollte lieber auf Flaschennahrung umsteigen, dann könnte die Oma das Füttern übernehmen und sie habe mehr Zeit, ihren Mann zu verwöhnen.
Wenn Astrid die kleine Viola im schattigen Teil des Gartens auf einer Decke strampeln ließ, erklärte ihr Ingrid, man müsse die Kinder kurz in die Sonne legen, damit sie nicht an Rachitis erkrankten und dann fest eingepackt im Körbchen oder im Kinderwagen schlafen lassen.
Astrid verdrehte die Augen, erklärte, dass es neuere wissenschaftliche Erkenntnisse gebe und dass sie Viola weder der direkten Sonne aussetze noch gedenke, ihre Bewegungsfreiheit einzuschränken.
Bei jedem Interventionsversuch schlug Ingrid einen freundlichen, lockeren Ton an und lächelte gewinnend, so als wolle sie nur unterstützen, aber Astrid spürte nur allzu deutlich, dass es hier um nichts Anderes als Macht ging. Umso entschiedener richtete sie all ihre Bestrebungen darauf aus, bis zur Rückkehr in den Beruf einen verlässlichen Kita-Platz für ihre Tochter zu organisieren, um ihr Kind vor der wenig altersgerechten Behandlung durch die eigenwillige Großmutter zu beschützen.
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Sonntag, 5. Mai 2024
Spoiler 23
c. fabry, 18:39h
2000
Die rauschende Millenniumsfeier hatte in der leergeräumten Scheune stattgefunden, dies war eine willkommene Gelegenheit für Raimund gewesen, es allen zu zeigen, und sein neues Heim fand in der Tat viele Bewunderer. Sie hatten viel geschafft in den vergangenen drei Jahren. Die Bauarbeiten waren weitestgehend abgeschlossen, inklusive einer schönen neuen Wohnung für Ingrid in einem separaten Gebäudeteil. Im Haupthaus gab es ausreichend Platz für eine große Familie und an keiner Stelle war Improvisation vonnöten; Raimund hatte mithilfe von Astrids erlesenem Geschmack und einer gewissen Kenntnis der aktuellen Standards für eine moderne Ausstattung gesorgt. Ingrid erkannte ihr Elternhaus kaum wieder, was ihr keine nennenswerten Kopfschmerzen bereitete, denn ihr Zuhause hatte sie niemals als einen behaglichen Ort empfunden.
Jedoch nagte angesichts dieser eleganten, freundlichen Räume der Neid in ihr, dass ihr eine solche Verbesserung in ihrem Leben versagt geblieben war. Ihrem Sohn gönnte sie es von Herzen, nicht aber der angehenden Schwiegertochter, die sich ins gemachte Nest setzte. Dass diese ihre gesamten Ersparnisse in den Umbau investiert hatte, ließ sie nicht gelten, obwohl es sich dabei um eine ansehnliche Summe handelte. Es fiel ihr schwer, loszulassen: die vertraute Umgebung, die Vormachtstellung, die exklusive Beziehung zu ihrem Sohn. Groll machte sich breit in ihr, aber aus Furcht vor öffentlicher Ächtung fügte sie sich in ihr Los, zog in die neue Wohnung und gab sich Mühe, den Blick auf die Vorteile zu richten: es war auch hier alles frisch und hübsch, sie hatte die Ausstattung und Gestaltung selbst ausgesucht, sie musste viel weniger putzen und musste ihr Reich mit niemandem teilen.
Im Mai fand eine Landhochzeit nach allen Regeln des örtlichen Brauchtum statt: Ein Polterabend in der Scheune mit fast zweihundert Gästen, viel Bier, Bratwurst und Salaten, DJ und Polterpaket, laut, wild und bis zum Morgengrauen.
Beide Partner feierten einen Junggesell:innen-Abschied in der Großstadt, die Männer zum Teil auch an der Peripherie, das Brautkleid war sündhaft teuer, geheiratet wurde zuerst auf dem Standesamt im Schloss, danach in der Kirche in Häger und für die große Feier mit etwa Einhundert Gästen wurde ein Saal im nahegelegenen Spenge angemietet.
Dort gab es einen Sektempfang, ein mehrgängiges Menü, Tanz mit Kapelle, schlüpfrige Festreden, noch schlüpfrigere Tanzspiele, das Zerreißen des Schleiers, ein kaltes Buffet um Mitternacht und sehr viel zu trinken.
Eine weitere Tradition durfte nicht fehlen: Die Entführung der Braut, die vom Bräutigam mit einem Kasten Bier wieder ausgelöst werden musste. Drei Mitglieder der Landjugend entführten Astrid nach Häger in den Gasthof Bierhoff. Hier gab es ein großes Hallo, als die Braut an die Theke geführt wurde, bewundernde Blicke, Komplimente und neugierige Nachfragen der Berufstrinker. Astrid war bester Laune und fühlte sich in der Obhut ihrer Entführer bestens aufgehoben.
"Und du heiratest also den perversen Ramöller?", lallte einer der Betrunkenen. "Dassis aber mutig!"
"Wie kommst du darauf, dass Raimund pervers ist?", entgegnete Astrid konsterniert.
"Weiß doch jeder im Dorf.", erklärte der Betrunkene. "Der ist durch sämtliche Betten gerutscht, von denen, die ihn reingelassen haben, und hinterher haben die Bräute erzählt, dass er komische Sachen mit ihnen gemacht hat."
"Hat wohl zu viele Pornos geguckt.", meinte ein anderer.
"Das mit den Mädels machen doch alle in dem Alter.", sagte ein dritter. "Ausprobieren, was man in den Pornos gesehen hat, ist ja normal. Aber die Sache mit den Kindern, die war schon speziell."
"Welche Sache mit welchen Kindern?", fragte nun einer der Brautentführer deutlich verärgert.
"Machte doch damals die Runde.", erklärte der Betrunkene. "Der kleine Ramöller war noch keine achtzehn, aber schon 'ne ausgewachsene Drecksau. Hat Kinder auf‘m Strohboden gezwungen, sich auszuziehen und Schlimmeres verlangt. Die Kinder sind dann nackt abgehauen und die Kleider blieben unauffindbar. Keine Ahnung, was er damit gemacht hat."
"Unsere Angelika hat erzählt, dass er einmal morgens im Schlüpper aus Heikes Zimmer gekommen is' und und nich' mal gegrüßt hat. Und Heike soll danach total durcheinander gewesen sein."
Astrid schwieg betreten. Sie glaubte kein Wort von dem, was die Trinker zu wissen meinten, aber sie fühlte sich unwohl. Einer der Entführer hatte die Auslösung beschleunigt und schon bald kehrte Astrid auf die Feier zurück und wischte das ekelhafte Geschwätz beiseite wie eine lästige Fliege. Dies sollte der schönste Tag in ihrem Leben bleiben.
Das Abenteuer der Ehe begann. Die Hochzeitsreise verschoben sie auf den Spätsommer, zunächst richteten sie sich ein in ihrem gemeinsamen Heim, Raimund sorgte dafür, dass auf dem Hof alles zum Besten stand, Astrid arbeitete weiterhin in der Krankenpflege und Ingrid unterstützte beide bei ihren Aufgaben, so wie es dem allgemeinen Verhaltenskodex entsprach.
Im September ging es für das junge Paar nach Ibiza: Strandleben, gutes Essen, Cocktails, Tanz, Spaziergänge und leidenschaftliche Nächte im Hotelbett. Sie fühlten beide, dass sie angekommen waren.
Die rauschende Millenniumsfeier hatte in der leergeräumten Scheune stattgefunden, dies war eine willkommene Gelegenheit für Raimund gewesen, es allen zu zeigen, und sein neues Heim fand in der Tat viele Bewunderer. Sie hatten viel geschafft in den vergangenen drei Jahren. Die Bauarbeiten waren weitestgehend abgeschlossen, inklusive einer schönen neuen Wohnung für Ingrid in einem separaten Gebäudeteil. Im Haupthaus gab es ausreichend Platz für eine große Familie und an keiner Stelle war Improvisation vonnöten; Raimund hatte mithilfe von Astrids erlesenem Geschmack und einer gewissen Kenntnis der aktuellen Standards für eine moderne Ausstattung gesorgt. Ingrid erkannte ihr Elternhaus kaum wieder, was ihr keine nennenswerten Kopfschmerzen bereitete, denn ihr Zuhause hatte sie niemals als einen behaglichen Ort empfunden.
Jedoch nagte angesichts dieser eleganten, freundlichen Räume der Neid in ihr, dass ihr eine solche Verbesserung in ihrem Leben versagt geblieben war. Ihrem Sohn gönnte sie es von Herzen, nicht aber der angehenden Schwiegertochter, die sich ins gemachte Nest setzte. Dass diese ihre gesamten Ersparnisse in den Umbau investiert hatte, ließ sie nicht gelten, obwohl es sich dabei um eine ansehnliche Summe handelte. Es fiel ihr schwer, loszulassen: die vertraute Umgebung, die Vormachtstellung, die exklusive Beziehung zu ihrem Sohn. Groll machte sich breit in ihr, aber aus Furcht vor öffentlicher Ächtung fügte sie sich in ihr Los, zog in die neue Wohnung und gab sich Mühe, den Blick auf die Vorteile zu richten: es war auch hier alles frisch und hübsch, sie hatte die Ausstattung und Gestaltung selbst ausgesucht, sie musste viel weniger putzen und musste ihr Reich mit niemandem teilen.
Im Mai fand eine Landhochzeit nach allen Regeln des örtlichen Brauchtum statt: Ein Polterabend in der Scheune mit fast zweihundert Gästen, viel Bier, Bratwurst und Salaten, DJ und Polterpaket, laut, wild und bis zum Morgengrauen.
Beide Partner feierten einen Junggesell:innen-Abschied in der Großstadt, die Männer zum Teil auch an der Peripherie, das Brautkleid war sündhaft teuer, geheiratet wurde zuerst auf dem Standesamt im Schloss, danach in der Kirche in Häger und für die große Feier mit etwa Einhundert Gästen wurde ein Saal im nahegelegenen Spenge angemietet.
Dort gab es einen Sektempfang, ein mehrgängiges Menü, Tanz mit Kapelle, schlüpfrige Festreden, noch schlüpfrigere Tanzspiele, das Zerreißen des Schleiers, ein kaltes Buffet um Mitternacht und sehr viel zu trinken.
Eine weitere Tradition durfte nicht fehlen: Die Entführung der Braut, die vom Bräutigam mit einem Kasten Bier wieder ausgelöst werden musste. Drei Mitglieder der Landjugend entführten Astrid nach Häger in den Gasthof Bierhoff. Hier gab es ein großes Hallo, als die Braut an die Theke geführt wurde, bewundernde Blicke, Komplimente und neugierige Nachfragen der Berufstrinker. Astrid war bester Laune und fühlte sich in der Obhut ihrer Entführer bestens aufgehoben.
"Und du heiratest also den perversen Ramöller?", lallte einer der Betrunkenen. "Dassis aber mutig!"
"Wie kommst du darauf, dass Raimund pervers ist?", entgegnete Astrid konsterniert.
"Weiß doch jeder im Dorf.", erklärte der Betrunkene. "Der ist durch sämtliche Betten gerutscht, von denen, die ihn reingelassen haben, und hinterher haben die Bräute erzählt, dass er komische Sachen mit ihnen gemacht hat."
"Hat wohl zu viele Pornos geguckt.", meinte ein anderer.
"Das mit den Mädels machen doch alle in dem Alter.", sagte ein dritter. "Ausprobieren, was man in den Pornos gesehen hat, ist ja normal. Aber die Sache mit den Kindern, die war schon speziell."
"Welche Sache mit welchen Kindern?", fragte nun einer der Brautentführer deutlich verärgert.
"Machte doch damals die Runde.", erklärte der Betrunkene. "Der kleine Ramöller war noch keine achtzehn, aber schon 'ne ausgewachsene Drecksau. Hat Kinder auf‘m Strohboden gezwungen, sich auszuziehen und Schlimmeres verlangt. Die Kinder sind dann nackt abgehauen und die Kleider blieben unauffindbar. Keine Ahnung, was er damit gemacht hat."
"Unsere Angelika hat erzählt, dass er einmal morgens im Schlüpper aus Heikes Zimmer gekommen is' und und nich' mal gegrüßt hat. Und Heike soll danach total durcheinander gewesen sein."
Astrid schwieg betreten. Sie glaubte kein Wort von dem, was die Trinker zu wissen meinten, aber sie fühlte sich unwohl. Einer der Entführer hatte die Auslösung beschleunigt und schon bald kehrte Astrid auf die Feier zurück und wischte das ekelhafte Geschwätz beiseite wie eine lästige Fliege. Dies sollte der schönste Tag in ihrem Leben bleiben.
Das Abenteuer der Ehe begann. Die Hochzeitsreise verschoben sie auf den Spätsommer, zunächst richteten sie sich ein in ihrem gemeinsamen Heim, Raimund sorgte dafür, dass auf dem Hof alles zum Besten stand, Astrid arbeitete weiterhin in der Krankenpflege und Ingrid unterstützte beide bei ihren Aufgaben, so wie es dem allgemeinen Verhaltenskodex entsprach.
Im September ging es für das junge Paar nach Ibiza: Strandleben, gutes Essen, Cocktails, Tanz, Spaziergänge und leidenschaftliche Nächte im Hotelbett. Sie fühlten beide, dass sie angekommen waren.
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