Samstag, 10. Februar 2024
Spoiler 17 - nichts für Kinder
1990
Der gefühlt hundertste Pornoabend bei Rüdi fand diesmal in weiblicher Begleitung statt.Alle waren über16 bis auf vielleicht das eine oder andere Mädchen, aber so genau mochte niemand nachfragen, dafür waren sie zu süß. Filmnacht hatte es geheißen. Zu trinken gab es Bier, Kurze und "Sanfter Engel", eine Bowle aus Vanilleeis, Orangensaft, Wodka und Sekt, als Zugeständnis an die Mädchen. Zuerst präsentierte der Gastgeber einen Actionfilm, zum Warmlaufen und Vorglühen, danach eine Romanze, um die Mädchen emotional einzustimmen und weiter abzufüllen, danach einen Softporno, denn Hardcore war nicht verfügbar und überdies wären die Mädchen dann sogar im betrunkenen Zustand getürmt, da waren die Jungen sich einig.
Bereits während des Herzkinos wurden die potentiellen Partnerinnen aufgeteilt. Die schärfsten Bräute gingen natürlich an die Alphatiere, die ließen sich nicht die Butter vom Brot nehmen. Immerhin waren die Reste an diesem Abend deutlich attraktiver als auf den üblichen Partys, sie hatten ja eine gründliche Vorauswahl getroffen. Raimund landete bei einer Cousine von Rüdis Nachbarin, die würde er so bald nicht wieder sehen, sie war nur zu Besuch und lebte in Schleswig-Holstein. Als der Herzschmerzfilm auf die Tränendrüsen drückte, legte er ihr ungelenk den Arm um die Schultern, das hatte er von Eckhard so erklärt bekommen und setzte es nun lehrbuchartig um. Sie ließ ihn gewähren.
Als das Herzkino die erwartete Wirkung entfaltete, Schluchzer und kullernde Tränen, reichte Raimund seiner Beute ein Taschentuch, strich mit der Rückseite seiner Finger sanft über ihre Wange und gab ihr einen zaghaften, nahezu geschwisterlichen Kuss. Die ließ sich ein auf das Spiel, schien es im Grunde auch spannend und aufregend zu finden, ließ sich noch mehr Likör einflößen, klagte über Hitze, streifte den Pullover ab, sodass sie nur noch im Top dasaß unter dem sich vom Push-up-BH in perfekte Barbie-Form gepresste Brüste abzeichneten. Alles lief nach Plan. Als ihr wieder kalt wurde, ignorierte sie die thermischen Eigenschaften ihres Pullovers und drängte sich an Raimunds massiven und von wachsender Erregung aufgeheizten Männerkörper.
Als der Pornofilm lief, brauchte es nur ein paar Szenen und sie ließ es zu, dass seine Hände unter ihre Kleidung glitten. Raimund hatte Glück. Die Cousine hatte keinen Ruf zu wahren, ihre Heimat lag in weiter Ferne. Sie verschwanden einfach in die "Gute Stube", fielen aufs Sofa und brachten die Sache zu Ende. Eine denkbar kurze Angelegenheit. Die anderen dachten, sie seine nur kurz auf dem Klo gewesen. Raimund war zufrieden. Die Cousine sah er nie wieder.

Im Sommer brachte er endlich seine quälende Schulzeit hinter sich und begann eine Lehre in dem landwirtschaftlichen Ausbildungsbetrieb, in dem er sein Schülerpraktikum absolviert hatte. So langsam wurde alles immer besser für ihn.

Als Raimund 1989 zum ersten Mal in seinem Leben groß, laut und feuchtfröhlich seinen Geburtstag feierte - den 18. - blickte er auf ein Drei-Viertel-Jahr Ausbildungszeit und mehr sexuelle Erfahrungen zurück, als er an einer Hand abzählen konnte. Mit Liebe hatte das natürlich nichts zu tun. Die Mädchen waren Trophäen in seiner Sammlung, Für ihn stellten sie seelenlose Objekte dar, Weiber, denen er es gezeigt hatte, die dank seiner Männlichkeit von Lust überwältigt schrien oder ohnmächtig wurden. Dass das in den meisten Fällen nur Theater war, fiel ihm nicht auf. Er interessierte sich ja schließlich nicht für seine Sexualpartnerinnen. Er benutzte sie. So wie er benutzt worden war.

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Freitag, 2. Februar 2024
Spoiler 16 - nichts für Kinder
1989

Mittlerweile war Raimund zur Landjugend dazugestoßen. Jens Grankemeier lud ein, den Jahreswechsel mit einer rauschenden Silvesterparty einzuläuten. Am 30. Dezember halfen alle mit, die Scheune leer zu räumen und die Getränke heran zu karren, am 31. halfen ein paar wenige beim Einrichten und Schmücken und um 20.00 Uhr ging es los, mit Bratwurst, Salaten und dem ersten Bier.
Eigentlich schmeckte Raimund der bittere Gerstensaft überhaupt nicht, ebenso wenig wie die hastig gerauchten Zigaretten, die diesen Druck auf der Brust verursachten und eine leichte Übelkeit, die sich aber legte, sobald man eine Kleinigkeit gegessen hatte. Bei den Kurzen – so wurden allgemein alle Schnäpse tituliert – verlegte er sich auf Apfelkorn, da war ein vertrauter, positiv besetzter Geschmack, an den er andocken konnte. Korn oder Wacholder bekam er nicht hinunter. Aber trinken und rauchen musste man, wenn man ein Kerl sein und dazu gehören wollte. Zu Weihnachten hatte er ein bisschen Geld bekommen, sodass er sich den Kostenbeitrag zur Party leisten konnte. Die zwanzig Zigaretten, die er in dieser Nacht rauchte, waren hingegen von älteren Jungs zusammengeschnorrt. Wenn er so weitermachte, würde er irgendwann eigene kaufen müssen und da würde das Weihnachtsgeld nicht lange reichen. An die Konfirmationsgaben ließ Ingrid ihn nicht heran, das Sparbuch verwahrte sie. Er hatte sich eine günstige Stereoanlage kaufen dürfen und dann war Schluss gewesen.
1989 begann für Raimund mit kurzfristig zehn Bier und ungezählten Kurzen im Magen, unterlegt von einer fettigen Mischung aus Mettbrötchen, Bratwurst, Kartoffel- und Nudelsalat. Gegen 1.00 Uhr bahnte das alles sich den Weg in die Freiheit und zwar auf dem gleichen Gleis, in das es eingefahren worden war. Die Party war für ihn gelaufen, nach einer Viertelstunde tiefen Durchatmens war er nach Hause geschlichen, hatte sich ins Bett gelegt und bis weit in den Vormittag hinein geschlafen.
Im Februar traf man sich bei Rüdi in Rothenhagen. Rüdis Eltern waren mit dem Sportverein zu einem feuchtfröhlichen Wochenende in die Lüneburger Heide aufgebrochen und Videorekorder hatten keine Kindersicherung. Rüdis Eltern hatten ein reichhaltiges Angebot an pornographischem Filmmaterial, über das Rüdi während ihrer Abwesenheit frei verfügen konnte. Raimund war begeistert von den echten Kerlen, die den Weibern zeigten, wo es langging und ihnen das Maul stopften, wenn sie zu viel quasselten. Hier drängte sich keine sexuell frustrierte Mutter ihrem heranwachsenden Sohn auf. Hier waren die Männer die Akteure und die Frauen das Material. Es wurde viel gelacht, derbe Sprüche geklopft und reichlich Cola-Weinbrand gebechert. Zu fortgeschrittener Stunde wurden dann auch schon mal die Latten verglichen, erst mit Augenmaß, schließlich mit Zollstock. Raimund war sehr zufrieden, denn er lag im oberen Drittel.
„Eigentlich“, meinte Raimund, „könnte man mit so was doch echt Kohle machen.“
„Wie willst du das denn anstellen?“, fragte Rüdi. „Wir haben doch noch nicht mal einen Camcorder.“
„Man kann ja auch geile Fotos machen. So Sachen nachstellen, Fotografieren und die Abzüge in der Schule verkaufen.“
„Viel zu viel Risiko.“, meinte Eckhard. „Wenn Du so‘n 36er Film voll knippst, lass 30 Abzüge was werden, die müsstest du ja als Ansichtsmaterial behalten, bevor du nachbestellst, da musst Du erst mal mindestens 20 Mark ausgeben. Selbst wenn Du den Abzug für ‚nen Fünfer verkaufst, wer sagt denn, dass die überhaupt einer haben will? Und vor allem will ja keiner eine Woche warten, bis die Ware kommt. Dann bestellst du das und die haben sich das schon wieder anders überlegt. Dann bleibst du auf dem Zeug sitzen. Und dann gibt es vielleicht noch Ärger, weil die im Fotoladen sehen, was wir da fotografiert haben.“
Raimund räumte ein, dass es wohl ein Schnapsidee gewesen war. Aber der Gedanke ließ ihn nicht mehr los. Frauen sexuell ausbeuten und dabei auch noch vorführen. Das gefiel ihm. Das musste sich doch irgendwie umsetzen lassen.
Im April kam ihm der zündenden Gedanke. Live-Shows mit Eintritt. Zu Hause, auf dem Heuboden, Sonntag Nachmittags, wenn dort niemand zu tun hatte, reihum auf den Höfen. Er hatte sich lange den Kopf zerbrochen, wie er an Darstellerinnen kam. Die Mädchen in ihrem Alter würden sich kaum zu so etwas überreden lassen. Dann hatte er eine Idee. Kinder würden die Frauen spielen. Man lockte sie mit Süßigkeiten als Gage. Für Schokoriegel, Gummibärchen und Lollis machten Kinder alles. Das hielt die Kosten gering. Und wenn sie anfingen rumzuzicken, konnte man sie immer noch mit körperlicher Gewalt zwingen oder mit unliebsamen Konsequenzen drohen.
Als er seine Geschäftsidee bei der nächsten Pornorunde präsentierte, fand er keine Mitstreiter. „Du kannst doch nicht live Kinder poppen!“, wies Rüdi ihn zurecht. „Das ist nicht nur ekelhaft, das will sich auch keiner angucken. Da zeigt dich eher einer an.“
Raimund war enttäuscht. Er hatte kein Geld mehr für Zigaretten. Er brauchte dringend einen Job.
Den bekam er dann auch. Lisbeth hatte das für ihn aufgetan. Er musste alle zwei Wochen das Kirchenblatt verteilen. Es gefiel ihm überhaupt nicht, bei jedem Wetter durch die Dörfer zu radeln und den Frömmlern ihre Bravo für Verstrahlte zu bringen, aber wenigstens hatte er so eine regelmäßige Einkommensquelle; überschaubar, aber verlässlich.
Dann kam der Juli mit seinen scheinbar endlosen Sommerferien. Bei der Arbeit auf dem Hof musste er zwar mit anpacken – Oma Lisbeth bestand darauf, Ingrid hätte ihm erholsame Ferien gegönnt – aber die Aufgaben füllten keine ganzen Tage aus und während seine Kumpels entweder im Urlaub waren oder auf den elterlichen Höfen wesentlich härter eingespannt waren, lag Raimund auf dem Bett und hörte seine geliebten Heavy Metall-Platten und stellte sich dabei vor, wie er es den Frauen oben im Heu besorgte. Die Pornos in seinem Kopfkino gefielen ihm weitaus besser als die immer gleichen Rammelfilme auf dem Videorekorder von Rüdis Alten. Die Sache mit den Live-Shows konnte er natürlich vergessen. Das hatte er verstanden. Aber einfach so, für das eigene Vergnügen wäre es doch immerhin vorstellbar.
Er freute sich auf einen aufregenden Sommer. Mit Süßigkeiten lockte er die Kinder aus der weitläufigen Nachbarschaft auf den heimischen Strohboden.
„Wenn ihr einen großen Lolli haben wollt, müsst ihr euch ganz nackig ausziehen und den Ententanz tanzen.“
Die Kinder waren scharf auf die Lollis und legten ab. Tanzen wollten sie aber nicht.
„Keine halben Sachen!“ befahl Raimund mit der ganzen Autorität, die er in seine vom Stimmbruch nur noch gelegentlich gebrochene Stimme legen konnte. Er stürzte sich auf die Kinder, um sie wie lebende Gliederpuppen in die passenden Posen zu zwingen. Sie flohen schreiend und nackt und ließen ihn mit ihren Kleidern auf dem Strohboden zurück. Schlagartig wurde ihm klar, welche Folgen das für ihn haben könnte. Natürlich würde er alles abstreiten, das würde ihm aber nichts helfen, wenn die Beweismittel bei ihm gefunden oder er damit gesehen wurde. Er besorgte sich eine Plastiktüte, stopfte die Kindersachen hinein und radelte nach Werther. Dort gab es einen Altkleider-Container. Hier würde niemand nach den Klamotten suchen und gleichzeitig verschaffte er sich ein Alibi. Er setzte sich vor die Eisdiele und als Hildegard Bierhoff ihn ansprach: „Mensch Raimund, was sitzt du hier ohne ein Eis? Soll ich Dir eins kaufen?“, antwortete er: „Nee, danke. Ich hatte schon. Sitze hier schon seit einer Stunde. Ist so schön in der Sonne.“

Die Vorwürfe erreichten ihn trotzdem. Er stritt alles eisern ab. Niemand konnte ihm etwas nachweisen, aber ein Schatten blieb und wollte nicht mehr weichen. Der Sommer ging zu Ende und Raimund merkte, dass er, wo auch immer er hinkam, düstere Blicke erntete. Egal, wie er sich verhielt, die Leute hielten Abstand, waren einsilbig, begegneten ihm wenn nicht mit Abscheu, mindestens mit Argwohn. Das machte ihn wütend. Niemand durfte ihn verurteilen, in diesem Land galt die Unschuldsvermutung, doch sie bestraften ihn trotzdem, einfach so, auch ohne Beweise. Er würde es allen zeigen. Sie würden Dreck fressen und er würde lachen. Schade, dass er dem Pfarrer keine Abreibung mehr verpassen konnte, das hatte er immer verschoben und dann war der Hund einfach verschwunden, hatte die Gemeinde verlassen und Raimund hatte keine Ahnung, wohin er sich hatte versetzen lassen.
Am Ende fehlte ihm – dem Himmel sei Dank – die Phantasie für geeignete Rachefeldzüge. Man konnte es den Leuten auch zeigen, indem man etwas schaffte. Das Betriebspraktikum stand an und er absolvierte es in einem landwirtschaftlichen Großbetrieb. Auf einmal lief alles hervorragend und am Ende der zwei Wochen eröffnete ihm der Chef, dass er offene Türen einrenne, wenn er sich hier um einen Ausbildungsplatz bewerben würde. Wenn doch die leidige Schulzeit zu Ende wäre, dachte Raimund, er hätte am liebsten sofort angefangen.

Am 9. November fiel die Mauer in Berlin. An Raimund ging dieses historische Ereignis vorbei, wie der berühmte Sack Reis. Er konzentrierte sich auf die Schule. Er wollte auf keinen Fall noch einmal sitzen bleiben. Noch ein halbes Jahr in der Lernfabrik, dann war es geschafft.

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Freitag, 26. Januar 2024
Spoiler 15
1988

Am 17. April stand trotz des noch jungen Trauerjahres ein Fest auf dem Hof Vollweiter-Rahmöller an. Raimund feierte seine Konfirmation und Ingrid hatte alle Verwandten dazu eingeladen. Lisbeth hatte beim Putzen, Backen und Kochen geholfen, alles andere wäre gegen ihre Landfrauenehre gegangen.
Die Konfirmandengruppe war so groß, dass in der kleinen Johanneskirche in Häger nicht alle Angehörigen Platz gefunden hätte, darum fand der Festgottesdienst in der größeren und auch schmuckreicheren Jacobi-Kirche in Werther statt. Raimund fühlte sich unwohl in dem dunklen Herrenanzug mit den blank polierten Spießerschuhen. Die Krawatte schnürte ihm die Kehle zu und der gestärkte Hemdkragen kratzte am Hals. Lisbeth hatte darauf bestanden, damit ihr Enkel einen ordentlichen Eindruck hinterließ. "Kleider machen Leute.", hatte sie gesagt und keinen Widerspruch geduldet. Auch das Stofftaschentuch, das er mitzuführen hatte, musste weiß und gestärkt sein. Er wollte diesen Tag einfach nur möglichst unbeschadet hiter sich bringen, reichlich Geldgeschenke kassieren und sich dann endlich eine anständige Stereoanlage kaufen.

Den Einzug hatten sie ausführlich geübt und so schritt er mitten in der Zweierreihe an der Seite von Stefan Horstmann die reihen mit den sich erhebenden Gemeindegliedern ab. Vor ihnen waren Sigrid Husemann und Christiane Walter an der Reihe. Er hatte noch immer Sympathien für Sigrid, wusste aber nichts damit anzufangen. Menschen waren ein unbekanntes, fernes Land für ihn, Mädchen ganz besonders.

Raimund saß seine Zeit ab, tat, was alle taten, ließ die Predigt an sich vorbei rauschen, litt an dem kratzenden Kragen, fror trotz des wärmenden Jacketts in der düster-klammen Luft, die von den dicken, alten Sandsteinmauern der alten Kirche eingeschlossen wurde. Das war hier nicht seine Welt, vor allem nicht, als er und Stefan aufgerufen wurden, um den Segen zu empfangen. Und dann gab der Pfarrer Raimund auch noch einen eigenartigen Konfirmationsspruch mit auf den Weg: "Erforsche mich Gott und erkenne mein Herz, prüfe mich und erkenne, wie ich's meine. Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege." Psalm 139, 23f
Was für eine Unverschämtheit!! Da ließ der Pfaffe ihn öffentlich dastehen wie einen, den man einnorden musste. Das würde er ihm büßen. Raimund wusste noch nicht wie, aber er würde dem Paffen einen Denkzettel verpassen, einen, bei dem er wusste, von wem er kam, ohne irgendetwas beweisen zu können.

Nach dem Gottesdienst suchten viele seiner Altersgenossen mit ihren Angehörigen ein Restaurant in der näheren Umgebung auf. Dass es in seinem Fall weniger elegant zuging, machte ihm nichts aus, im Gegenteil. So konnte er sich leichter unbemerkt der todlangweiligen Gesellschaft entziehen und bekam nicht stundenlang enervierende Erwachsenengespräche aufgezwungen. Man lebte ja schließlich nicht mehr in den Vierzigern, wo mit der Konfirmation auch die Schulzeit und die Kindheit endeten, wo man in die Lehre ging und Teil der Erwachsenenwelt wurde. Raimund musste noch mindestens zwei Jahre zur Hauptschule und danach im Rahmen welcher Ausbildung auch immer drei weitere Jahre zur Berufsschule gehen. Erst dann würde er verstehen, worum genau die Gespräche an der Festtafel sich drehten. Den elterlichen Hof zu übernehmen, war eine sichere Variante, aber auch eine langweilige. Kohle wollte er machen, schnelles Geld mit wenig Aufwand. Er brauchte nur eine zündende Idee, einen Betrug, bei dem man todsicher nicht erwischt wurde, eine neue Geschäftsidee oder eine geniale Gang, mit der man sich nahm, was man wollte und die Beute brüderlich teilte. Allesamt diffuse Pläne, deren Verwirklichung er mit den Erwachsenen kaum erörtern konnte. Aber aus ihm würde ein Gewinner werden, das nahm er sich ganz fest vor, ihn würde niemand mehr zusammenfalten, demütigen, ausbremsen. Er würde sich nichts befehlen und gar nichts gefallen lassen.
Entschlossen und grimmig blickte er aus dem Fenster und fixierte den Horizont, während die Gäste um ihn herum alle gut gelaunt durcheinander schnatterten. Sie amüsierten sich prächtig, nur mit ihm sprach niemand. Ingrids Herz zog sich zusammen, als sie beim Abräumen der Suppenteller die finstere Miene ihres Sohnes bemerkte. Sie eilte zu ihm und drückte sein Gesicht an ihren Busen. "Ich bin so stolz auf dich, mein Großer.", säuselte sie.
"Lass das! Ich bin doch kein Baby mehr!", blaffte Raimund sie an und stieß sie grob zurück. Entsetzte Stille breitete sich aus. Sein Onkel Gerd sprang auf, griff sein linkes Ohr und zog ihn daran hoch.
"Du entschuldigst dich jetzt bei deiner Mutter, aber sofort!", brüllte er.
"Nun lass ihn doch, er hat ja Recht.", versuchte eine freundliche Nachbarin zu vermitteln.
"Der hat noch keine Rechte.", erwiderte Gerd. "Also, was is'?", wandte er sich wieder herausfordernd an Raimund. Der sprang plötzlich auf, befreite sich mit einer Drehbewegung aus dem Klammergriff des brutalen Onkels und konterte: "Du hast mir überhaupt nix zu sagen! Bist doch nicht mein Vatter!"
Dann rannte er weg von der Deele, auf dem schnellsten Weg in sein Zimmer, schloss sich ein und riss sich die unbequeme Kleidung vom Leib. Sie konnten ihn alle mal. Vielleicht würde er doch Landwirt, aber ein richtig guter. Gerd wäre der Erste, den er vom Markt drängte, sein ganzes Land würde er aufkaufen und wenn er dann eines Tages winselnd vor der Tür stände, würde er ihn vom Hof jagen. Spielte der sich hier als Beschützer seiner Schwester auf, dabei hatte er nie etwas für sie getan, auch jetzt nicht, wo sie es als Witwe besonders schwer hatte.

Als Raimund sich ein wenig beruhigt hatte, klopfte Ingrid sachte an seine Tür: "Komm doch Junge. Es ist doch vor allem dein Fest. Alle fragen nach dir. Und es gibt Welfenspeise zum Nachtisch."
"Ich zieh' aber nicht mehr diese Spießerklamotten an. Das kratzt alles."
"Musst du auch nicht. Nimm einfach eine saubere, schwarze Jeans und ein ordentliches T-Shirt."
Ein wenig tat es Raimund nun leid, dass er so eine Szene hingelegt hatte. Das war ja vor allem für ihn selbst ziemlich peinlich. Und es stand zu befürchten, dass einige Gäste unter diesen besonderen Umständen ihre Geldgeschenke zurückzogen. Es würde nicht leicht, aber wenn er es eines Tages allen zeigen wollte, musste er jetzt damit anfangen. Er zog an, was seine Mutter ihm geraten hatte und darüber die verkratzte, speckige Motorradjacke vom Flohmarkt, schließlich war es April und für langes Sitzen war es im T-Shirt zu kalt. Außerdem half ihm die Jacke dabei, sein Gedicht nicht zu verlieren. Stolz und ungebrochen trat er ihnen entgegen.

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Sonntag, 21. Januar 2024
Spoiler 14 - nichts für Kinder
1988

Die Kopfschmerzen, mit denen Horst an einem trüben Märzmorgen aufwachte, waren nicht stark, aber penetrant. Er hatte am Vorabend ein paar Gedecke zu viel versenkt. Mürrisch setzte er sich an den Frühstückstisch und versuchte mit Kaffee und Schinkenbroten den Schmerz zu vertreiben, doch er hielt sich beharrlich.
Ingrid fragte Raimund, ob sie am Mittwoch in die Stadt fahren könnten, um sich nach einem Konfirmationsanzug und Schuhen umzusehen.
"Hört auf zu quatschen!", blaffte Horst. "Ich hab' Kopfschmerzen!"
"Dann solltest du nicht regelmäßig mehr trinken als du verträgst.", wies Ingrid ihn zurecht.
Horst schlug ihr unvermittelt ins Gesicht und brüllte: "Und jetzt halt' die Klappe, sonst gibt's mehr davon!"
Für den Rest des Frühstücks duckten die anderen Familienmitglieder sich weg. Dann ging er in den Stall, um die Tiere zu versorgen.

Als er sich nach zwei-ein-halb Stunden zum zweiten Frühstück setzte und die Post durchsah, fiel ihm ein offizielles Schreiben der Schule seines Sohnes in die Hände: da stand etwas von mangelhaften Leistungen in Englisch und Deutsch und von Gefährdung der Versetzung.
"Verdammt!", fluchte Horst. "Der Junge ist doch schon einmal sitzen geblieben. Kann der sich nicht mal ein bisschen mehr anstrengen?"
"Sprache kann er nicht so gut.", entschuldigte Ingrid ihn. "Vielleicht braucht er ein paar Nachhilfestunden.
"So ein Tinnef!", schnaubte Horst. "Das kostet nur mein Geld, das sich irgendein pickliger Student in die Tasche steckt und bringt am Ende trotzdem nichts. Nur Zeitverschwendung und Ärger hat man mit dem Jungen. Das Einzige, was da hilft, ist eine anständige Tracht Prügel, damit der seine Schularbeiten ordentlich macht. Dem zeige ich schon, wo der Hammer hängt, wenn der heute Mittag nach Hause kommt."

Ingrid machte sich berechtigte Sorgen. Sie wollte nicht erneut die Blutergüsse und Schürfwunden kühlen müssen, die Horst dem Jungen mit dem Ledergürtel beibrachte. Und wer konnte schon mit Gewissheit sagen, dass er nicht eines Tages bleibende körperliche Schäden davontrug? Von den seelischen ganz zu schweigen. Beim Kartoffeln Schälen grübelte sie verzweifelt, wie sie Horst davon abhalten konnte, Raimund zu verdreschen.

Etwa zehn Minuten, bevor das Mittagessen fertig war, ging Ingrid in den Stall, um Horst Bescheid zu geben. Zum Mittagessen wusch er sich und zog sich gründlich um, um anschließend ein Nickerchen auf dem Sofa zu halten. Raimund war noch nicht aus der Schule zurück und Lisbeth deckte den Tisch. Ingrid konnte ihren Mann nirgends finden, weder beim Vieh, noch auf dem Plumpsklo, noch in der Scheune. Auf den Feldern gab es in dieser Woche nichts zu tun, da fiel ihr Blick auf das Getreidesilo. Die Abdeckung war zur Seite gezogen, so dass es nach oben offen stand. Richtig, er hatte beim zweiten Frühstück davon gesprochen, das im Silo irgendetwas nicht in Ordnung sei und er das reparieren müsse. Sie rief ihn, aber er antwortete nicht. Hatte das Problem mit den drohenden Prügeln für Raimund sich am Ende von selbst erledigt? War Horst schlecht geworden oder war er abgerutscht und ins Korn geraten? Darin versank man ja wie in Treibsand und musste jämmerlich ersticken.
Ingrid kletterte an den Außensprossen hoch, um sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Sie war regelrecht enttäuscht, als sie Horst im Inneren des Silos entdeckte: quicklebendig auf den inneren Sprossen, mit einem Eimer und einer Maurerkelle.
"Essen ist gleich fertig.", rief sie zu ihm hinunter.
"ich auch.", antwortete er. "Die Löcher sind geflickt, muss nur noch trocknen. Den Deckel mach' ich heute Abend wieder drauf."
Er stieg an den Eisenbügeln nach oben. Als er angekommen war, wandte er noch einmal den Blick aufs Getreide und sagte: "Is' noch alles schön trocken, scheint nichts passiert zu sein."
In diesem Moment gab Ingrid einem Impuls nach, einer inneren Stimme, die ihr sagte, dass sich diese Gelegenheit sicher nie wieder böte. Sie versetzte Horst einen kräftigen Tritt, der stürzte schreiend in die losen Weizenkörner und versank. Noch guckte der Kopf heraus und er rief: "Hol die Feuerwehr, du dumme Nuss, aber schnell!"
"Mach ich.", sagte Ingrid und kletterte nach unten. Doch sie tat nichts dergleichen. Die Zeit würde für sie arbeiten. Und zwar schnell. Als sie in die Küche kam, war Raimund schon zu Hause. Die Speisen standen dampfend in heißen Schüsseln auf dem Tisch. Ingrid schob Raimund Kartoffeln und Gulasch hin.
"Wo bleibt denn Horst?", fragte Lisbeth ärgerlich.
"Sagt, er kommt gleich.", erwiderte Ingrid und nahm sich von den Butterbohnen. Wenn sie das nächste Mal nach ihm sah, würde sich das Problem erledigt haben.

Eine halbe Stunde später war die Feuerwehr auf dem Hof, dann die Polizei, dann der Leichenwagen. Ingrids Rechnung war aufgegangen und alle kondolierten ihr wegen des schrecklichen Verlustes durch einen tragischen Arbeitsunfall. Nicht einmal Lisbeth hegte einen Verdacht.

Sie brachten die Beerdigung hinter sich, wie es sich gehörte und danach organisierte Ingrid Nachhilfe für Raimund. Er würde es schaffen, dafür würde sie sorgen, mit echter Unterstützung anstelle von Einschüchterung und Gewalt.

Zum Glück zahlte die Versicherung eine ordentliche Summe, sodass Ingrid landwirtschaftliche Helfer bezahlen konnte, die die schweren Arbeiten übernahmen. Mehr als die Hälfte der Acker- und Weideflächen verpachtete sie. Die konnte Raimund übernehmen, wenn er soweit war. Sie verkaufte auch einen Großteil des Viehs, behielt nur ein paar Schweine, vier Kühe und die Hühner.

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