Freitag, 5. Januar 2024
Spoiler 12 - nichts für Kinder
1985
Auch wenn Raimund noch in die sechste Klasse der Hauptschule im benachbarten Halle ging, schickten seine Eltern ihn bereits mit zwölf Jahren zum kirchlichen Unterricht. Die meisten Jungen und Mädchen aus Häger besuchten ohnehin andere Schulen, seine Klassenkameraden wohnten überwiegend in Halle und Brockhagen, auf der anderen Seite des Teutoburger Waldes.
Die meisten Katechumenen trafen sich eine halbe Stunde vor dem Unterricht auf dem Hof der ehemaligen Dorfschule, auch um dort heimlich das eine oder andere Zigarettchen zu rauchen. Raimund brauchte ein paar Wochen, um davon etwas mitzubekommen, denn er stand ja mit niemandem von den Gleichaltrigen in Kontakt. Als er dann auch einmal zwanzig Minuten vor dem Unterricht auf dem Schulhof auftauchte, taten alle so, als sei er nicht vorhanden; teils aus Unsicherheit, teils aus Desinteresse, teils aus Verachtung - wer blieb schon in der Grundschule sitzen?
Raimund hätte gern dazu gehört, wenigstens einen Freund gefunden, aber da war nichts zu machen. Die treffen vor dem Unterricht gab er schnell wieder auf, kam einfach pünktlich oder ein paar Minuten zu spät, wodurch ihm zwar viel Aufmerksamkeit zuteil wurde, hingegen noch weniger Wohlwollen - nun stand er auch auf dem Sympathie-Punkte-Konto des Pfarrers in den roten Zahlen.

Schon bald wurde er zur beliebten Zielscheibe gemeiner Streiche, erbarmungsloser Hänseleien und heimlicher Angriffe. Täter waren die Jungen, aber die Mädchen kicherten beifällig. Niemand war auf seiner Seite, ergriff Partei oder schützte ihn. Nicht einmal der Pfarrer sorgte für Gerechtigkeit, weil er selbstvergessen gefangen in seinen religionspädagogischen Vorträgen nichts von dem mitbekam, was sich unter den Heranwachsenden abspielte.
Raimund wusste sich nicht anders zu helfen: Als er von Carsten zum dritten Mal mit Krampen beschossen wurde, brüllte er: "Lass das, du Sackarsch!"
Die Miene des Pfarrers versteinerte. "Raimund, du bleibst nach dem Unterricht noch hier und bis dahin will ich nichts mehr von dir hören!"
Raimund schwieg erbost, während seine Peiniger feixten. Als alle gegangen waren, sagte der Pfarrer: "Solche Ausdrücke will ich hier nicht hören, das ist hier ein christliches Gemeindehaus, ein Ort des Friedens und der Nächstenliebe. Hier beleidigen wir uns nicht gegenseitig."
"Aber..."
"Ich will auch deine Ausreden nicht hören.", unterbrach der Pfarrer seinen Erklärungsversuch. "Ich erwarte einfach von dir, dass du dich künftig an die Regeln hältst. Und jetzt geh bitte. Ich habe noch viel zu tun heute."

Eine helle Flamme des Zorns brannte fauchend in Raimunds Magen. Demütigungen waren an sich schon schlimm genug, aber Ignoranz und Ungerechtigkeit wirkten wie Brandbeschleuniger. Doch wie sollte er seinem Herzen Luft machen? Vor seinen Eltern wollte er nicht dastehen als der dumme Junge, der von den anderen verführt und zum Dank als Einziger ermahnt wird. Jeden Abend vor dem Einschlafen grübelte er darüber nach, wie er dieser unrühmlichen Rolle entkommen könnte.

In der darauffolgenden Woche versuchte er es mit Ignorieren. Das nützte gar nichts. Und als ihm schließliche ein Krampe mitten im Gesicht traf, war es mit seinem Gleichmut zu Ende. Er sprang auf und verpasste dem Übeltäter eine Ohrfeige. Der schlug zurück und gleich darauf wälzten die beiden Jungen sich auf dem Boden. Der Pfarrer trennte die beiden Kampfhähne energisch. Und als alle beteuerten, Raimund habe angefangen, war das urteil gefällt. Der Pfarrer trug Raimund auf, seinen Eltern mitzuteilen, er wolle sie dringend sprechen. Raimund sagte nichts. Sollte der blöde Pappe doch selbst in die Gänge kommen. Vielleicht vergaß er es ja einfach wieder. Tatsächlich geschah nichts und in raimund reifte der Entschluss, direkt in die Offensive zu gehen. Nur so hatte er eine Chance, sich Respekt zu verschaffen.

Zum nächsten Unterricht baute er ein Blasrohr aus einem alten Filzstift. Dann zerriss er Blätter eines sauberen Schreibblocks in säuberliche Schnipsel, die er mitsamt dem Plastikröhrchen in seiner Federmappe verstaute. In der Unterrichtsstunde wartete er einen günstigen Moment ab, um unbemerkt einen Schnipsel in den Mund zu schieben, gründlich durchzukauen und mit der Zunge eine kleine, feste Kugel zu formen. Er hatte das zu Hause gründlich geübt. Im nächsten günstigen Moment setzte er das Röhrchen an die Lippen, zielte und feuerte auf Rolf Horstmann. Er traf ihn in der Ohrmuschel. Das war Rolf unangenehm, aber er wusste nicht, was eigentlich geschehen war. Raimund fand, dass er schon wissen sollte, woher es kam, er sollte es nur nicht beweisen können. Es brauchte ein wenig Zeit für den passenden Augenblick. Der war gekommen, als Rolf ihn direkt ansah und der Pfarrer abgelenkt war. Die eingespeichelte Papierkugel traf Rolf direkt im Auge. Es gab einen Riesenaufstand, auch wenn er nicht ernsthaft verletzt war, aber es tat weh und das Sehen war für eine kleine Weile stark beeinträchtigt. Natürlich hatten die meisten Konfirmanden und Konfirmandinnen genau beobachtet, was geschehen war. Da nützte es Raimund gar nichts, dass der Pfarrer nichts gesehen hatte. Es herrschte kollektive Entrüstung. Man mutmaßte, dass Rolf möglicherweise auf dem verletzten Auge erblinden könne. Und wenn ein Außenseiter eine Grenze überschreitet, selbst wenn es nicht in voller Absicht geschieht, ist die darauf folgende Ablehnung um ein Vielfaches unerbittlicher und emotionsgeladener, als wenn eine Person aus dem vertrauten inneren Kreis der Peergroup einen Fehltritt begeht.

Der Pfarrer suchte noch am gleichen Tag Raimunds Eltern auf und schilderte den Vorfall. Er müsse ihn vorläufig vom kirchlichen Unterricht zurückstellen, erklärte er, der Junge besitze offensichtlich noch nicht die erforderliche Reife.
Horst war außer sich. Er fand es natürlich nicht schlimm, dass sein Sohn sich als Rabauke entpuppte, aber dass er deswegen Ärger hatte, die Schmach der Zurückstellung vom Konfirmanden-Unterricht, das Gerede im Dorf, das nun alles auf ihn zurückfiel, das machte ihn wütend. "Dir werde ich beibringen, dich anständig zu benehmen!", brüllte er, als der Pfarrer außer Hörweite war. Er zog den Gürtel aus der Hose und prügelte damit auf seinen Jungen ein, der sich duckte, um sich zu schützen, der aber später am ganzen Rücken mit roten und blauen Striemen gezeichnet war.
Als Horst sich abreagiert hatte und mit einer Flasche Bier in den Garten ging, kümmerte sich die bis dahin paralysierte Ingrid um ihren verletzten Sohn.
"Komm, Raimund.", flüsterte sie. "Wir gehen in dein Zimmer, du legst dich aufs Bett und ich mache dir feuchte Umschläge, dann wird es schnell wieder besser."
Raimund gehorchte schluchzend, schleppte sich ins Schlafzimmer und ließ sich von der Mutter vorsichtig Pullover und Hemd vom Körper streifen. Die kühlen Tücher, die Ingrid auflegte, taten wirklich gut und er begann, sich zu entspannen.
Ingrid weinte. Sie litt mit ihrem Kind, das sie doch über alles liebte. Wie konnte ein Vater seinem eigenen Sohn solche Gewalt antun?
"Wenn er das noch einmal macht", seufzte sie, "prügele ich ihn windelweich."
Sie strich vorsichtig über Raimunds Rücken, nur über die unverletzten Stellen. Seine Haut war so zart und warm und makellos.
"Rück mal.", hauchte sie. Raimund machte etwas Platz und sie legte sich neben ihn. Ihre Hand glitt über die vollendete Rundung seiner Gesäßbacken.
"Hat er dich da auch gehauen?", flüsterte sie mitfühlend. Raimund fand, dass sich diese Berührung falsch anfühlte. "Nein.", log er und drehte sich vom Bauch auf die Seite, sodass er seiner Mutter direkt ins Gesicht sehen konnte. Ihr Ausdruck war eigenartig. Sie strich mit den Fingerkuppen über seine nackte Brust, über den Bauch bis zum Bündchen des Schlüpfers. Dann drückte sie ihre feuchten Lippen auf seinen Bauch und produzierte ein Furzgeräusch. "Das habe ich immer gemacht, als du klein warst.", kicherte sie. "Dann hast du immer gelacht und gar nicht mehr aufgehört."
Raimund lachte nicht. Er lag da wie erstarrt.
"Aber es gefällt dir immer noch.", meinte Ingrid. "Das seh' ich."
Dann legte sie ihre Hand auf sein Genital, das etwas größer und fester war als im Normalzustand. Das kam in letzter Zeit öfter vor und Raimund fühlte sich immer unwohler. Er wollte seine Mutter nicht vor den Kopf stoßen, schließlich war sie die Einzige, die zu ihm hielt, aber sie tat seltsame Dinge mit ihm, die ihm überhaupt keinen Spaß machten.

"Ich muss aufs Klo.", sagte er und sprang auf, um der bedrohlichen Situation zu entkommen.
Er entkam diesmal. Aber dies sollte nicht die letzte Grenzverletzung gewesen sein.

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Freitag, 29. Dezember 2023
Spoiler 11
1981
Im ersten Schuljahr blieb niemand sitzen. Aber zum Ende des zweiten Schuljahres hatte der Klassenlehrer entschieden, dass Raimund besser dran wäre, wenn er die zweite Klasse wiederholte. Das war grundsätzlich eine kluge und angemessene Entscheidung, in Raimunds Fall hingegen ein großes Unglück, weil es ihm erstens Schläge von seinem Vater einbrachte, der die Schmach eines sitzen gebliebenen Sohnes als persönlichen Affront empfand und weil zweitens ein Lehrkraft-Wechsel damit verbunden war, von dem aufgeschlossenen, fortschrittlichen und empathischen Herrn Kowalski zu der strengen, erbarmungslosen Frau Heinrich. Ihre uneingeschränkte Verachtung bekam der kleine Raimund vom ersten Tag an zu spüren. Sie hatte nicht viel übrig für die kleinen Trampel vom Bauernhof, die man ständig in ihre Schranken weisen musste und denen alle Feinheiten des Lebens fremd waren. Hier half nur eine harte Hand, klare Ansagen, feste Regeln, konsequente Sanktionen bei Verstößen, damit sie wenigstens das Wichtigste lernten und einem nicht auf dem Kopf herumtanzten. Rechnen, Schreiben, Lesen, Stillsitzen und Gehorchen - wenn sie das gelernt hatten, war Frau Heinrich mit sich zufrieden. Sie war die erste Frau, vor der Raimund sich fürchtete - und die ihn wütend machte. Ein wenig fürchtete er sich zwar auch vor Oma Lisbeth, aber die beachtete ihn meistens kaum, sodass sie keine ernsthafte Bedrohung für ihn darstellte.

Einen Vorteil konnte Raimund hingegen für sich verbuchen: in der neuen Klasse saß er neben Sigrid Husemann aus dem Gasthof Bierhoff - die war besonders nett und die beste Spielkameradin auf dem Pausenhof. Sigrid war nicht so eine Ziege wie die anderen Mädchen, hatte Spaß am Klettern, gab nicht viel darauf, ob sie sich schmutzig machte und kannte die besten Witze, weil sie die alle im Gasthof aufgeschnappt hatte.
Nach ein paar Tagen schlug Sigrid spontan vor: "Komm doch nach der Schule mit zu uns - meine Mama macht heute Reibeplätzchen, die werden nie alle, da kannst du welche mitessen und die sind echt lecker. Und bis die fertig sind, können wir noch ein bisschen spielen und danach auch."
"Au ja!", jubelte Raimund. "Reibeplätzchen sind mein Lieblingsessen."

Eigentlich wusste Raimund überhaupt nicht, was er sich unter dem Namen dieses Gerichtes vorstellen sollte, aber die Aussicht, gleich nach der Schule eine unendlich lange Zeit mit Sigrid zu verbringen und dazu auch noch ein leckeres Mittagessen serviert zu bekommen - denn lecker war es allemal, wenn Sigrid es pries und zudem von Plätzchen die Rede war - diese Aussicht ließ die Sommersonne in seinem kleinen Bauch aufgehen.

Sie hatten es nicht weit, denn direkt gegenüber der Bushaltestelle befand sich der Gasthof, in dem Sigrid wohnte. Sie betraten das Gebäude durch den Nebeneingang. Sigrid warf ihren Ranzen unter die Flurgarderobe und rief laut: "Oma, ich hab' Raimund mitgebracht, damit die Reibeplätzchen alle werden und es morgen gutes Wetter gibt."
"Oh, wie schön!", hörte Raimund eine Stimme aus der Küche antworten. "Dann mache ich ein paar mehr. In einer halben Stunde sind sie fertig."
"Komm", forderte Sigrid ihren Spielkameraden auf. "Wir gehen auf die Apfelwiese."

Die Äpfel waren noch nicht reif, aber die Bäume waren voller Früchte, die schon bald gepflückt werden oder sanft ins dichte, weiche Gras fallen würden, um dann schleunigst zu Apfelmus oder Schweinefutter verarbeitet zu werden. Nur die Klaräpfel waren bereits zur Hälfte abgeerntet und einige von ihnen kochten gerade in der Gasthofküche zu köstlichem, heißem Obstbrei ein.
Sigrid besaß ein stabiles Schaukelbrett, das mit festen Hanfseilen am kräftigsten Ast eines stattlichen Obstbaums befestigt war. Sie ließ Raimund großzügig den Vortritt und gab ihm mit kräftigem Schubsen ordentlich Schwung, sodass er mit den Zehenspitzen einige Blätter des Baumes berühren konnte. Beim Herabfallen spürte er ein deutliches Kitzeln in seinem Bauch.

Kurz darauf saß Raimund selig an Bierhoffs Küchentisch und verschlang genüsslich die knusprigen Reibeplätzchen, dazu ein bisschen Apfelmus, aber die meisten, genau wie Sigrid, mit weißem Zucker bestreut: warm, süß, fettig und leicht gesalzen - er konnte erst aufhören zu essen, als sein kleiner Bauch so spannte, dass wirklich nichts mehr hineinging.

Plötzlich stand Ingrid in der Küche. Die Mischung aus ängstlicher Sorge, Erleichterung und Zorn, die ihr ins Gesicht geschrieben stand, konnte Raimund nicht lesen. Nur dass irgendetwas nicht stimmte, das spürte er deutlich und die Glücksgefühle in seinem Bauch machten einem undefinierbaren Grummeln Platz, das sein Körper dadurch abzustoßen versuchte, dass er sich in hohem Bogen erbrach: mitten auf den Wohnzimmer-Teppich. Das brachte ihm nicht nur Schläge von Horst ein, sondern auch den schweigenden Liebesentzug seiner Mutter. Sie hatte ihm zwar erklärt, dass er immer direkt von der Schule nach Hause zu kommen hatte, worin nun aber die Ungeheuerlichkeit seines Fehltrittes gelegen hatte, vermochte ihm niemand zu erklären. Und so wurde der Beginn einer wunderbaren Kinderfreundschaft bereits im Keim erstickt.

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Donnerstag, 21. Dezember 2023
Spoiler 10
1979
Voller Stolz fuhr Ingrid ihrem einzigen Sohn ein letztes Mal mit dem Kamm durch die goldenen Locken. Die hatte er von seinem Großvater väterlicherseits. Sie beugte sich hinab und drückte seinen kleinen Kopf gegen ihren mächtigen Busen.
Horst hatte am Wochenende sogar den Mercedes auf Hochglanz poliert, weniger zu Ehren seines Sohnes, als um selbst eine gute Figur abzugeben. Auf seinen Sohn war er ohnehin nicht gut zu sprechen. Erst diente die Brut als Dauerausrede, wenn er an seine Frau ran wollte und als er aus dem Gröbsten raus war, verbrachte Ingrid jede freie Minute mit dem Kind und in der Nacht war sie todmüde.
Natürlich war Horst bei der Einschulung seines Sohnes dabei, er wollte ja nicht als ungehobelt gelten, aber es widerstrebte ihm zutiefst, dass sich alles um den Jungen drehte.

Raimund hatte noch gar nicht begriffen, welche Bedeutung dem heutigen Tag zukam. Er war noch nie ohne seine Mutter von zu Hause fort gewesen, denn vom Kindergarten hatte Ingrid gar nichts gehalten. Er vermisste die anderen Kinder nicht, auf dem Hof gab es täglich viel Spannendes zu entdecken und die Mama erzählte ihm Geschichten, sang Lieder mit ihm, gab ihm Süßigkeiten und tausend Küsse. Sie war immer für ihn da, egal ob er sich weh getan hatte, vor Angst zitterte, traurig war oder sich einfach nur langweilte.
Der Papa dagegen war ihm fremd. Auch wenn er es liebte, ihn bei der Arbeit zu beobachten und ihn im Spiel zu imitieren, fühlte er sich ihm nicht nah. Seine unbändige Kraft war bewundernswert und furchteinflößend zugleich. Nur manchmal sah der Papa ihn anders an und dann entfernte sich sein Blick und sein Gesicht wurde kurz weich, bevor es sich wieder verhärtete.
Wenn Raimund bei den Hausaufgaben saß, die ersten Buchstaben übte, Zeichnungen von Obststücken ausmalte, um ein Gefühl für Zahlen zu entwickeln, waren alle zufrieden. Wenn er aber Hilfe brauchte, weil ihm eine Aufgabe nicht gelingen wollte, eilte Ingrid nur allzu bereitwillig zur Hilfe, während Horst jedes Mal missmutiger darauf reagierte.
"Wenn du deine Schularbeiten nicht alleine schaffst, musst du zur Hilfsschule.", fuhr er seinen Sohn an. Seiner Ansicht nach mussten Kinder nebenbei aufwachsen, sie hatten einfach mitzulaufen, man hielt sich nicht mit ihnen auf. Die Drohung mit der Sonderschule hörte Raimund nicht zum ersten Mal. Sein Vater hatte ihm mehrfach in den düstersten Farben die zukünftige Karriere seines Scheiterns ausgemalt: die ständige Gesellschaft von Kindern, die allesamt genauso dumm waren wie er, drakonische Strafen bei Nichterreichen des ohnehin viel zu niederschwelligen Klassenziels und eine berufliche Perspektive jenseits von sinnstiftender Erfüllung, gesellschaftlicher Anerkennung und existenzsichernden Verdienstmöglichkeiten - oder um es in einer für den kleinen, verunsicherten Raimund verständlichen Sprache auszudrücken: "langweilige, schwere Arbeit, alle lachen dich aus und du hast nie genug Geld, um dir zu kaufen, was du brauchst."
Raimund begann zu greinen. "Ich muss gar nicht zur Hilfsschule!", stieß er schluchzend hervor. "Ich bin nicht doof. Die andern Kinder werden auch geholfen!"
Der kleine grammatikalische Lapsus entzog sich der väterlichen Wahrnehmung. Auch Horsts Gehirnwindungen waren nicht die kurvenreichste Strecke in der Galaxis - nicht einmal im von wenigen Erhebungen durchzogenen Häger.
"Ich helfe dir ja.", beruhigte Ingrid ihn.
"Du solltest dich mal lieber ums Abendbrot kümmern!", fuhr Horst sie an. "Ich komme um vor Hunger!"
"Bis du verhungert bist, das dauert aber ein paar Wochen.", murmelte Ingrid leise, abgewandt, aber unüberhörbar.
Ein Knall zerschnitt die Luft. Ingrid hatte eine Ohrfeige kassiert.
"Komm, Raimund.", sagte sie. "Wir beide gehen jetzt zu Brünings und holen dir ein Eis. Danach kannst du besser denken und ich kann Abendbrot machen. Papa schmiert sich am besten ein Leberwurstbrot und wäscht sich erstmal."
Raimund freute sich über die aussichtsreiche Wendung, vor allem aber darüber, der bedrückenden häuslichen Atmosphäre zu entkommen.

Lisbeth stand in der Tür. Der säuerliche Ausdruck in ihrem verhärmten Gesicht grub sich von Jahr zu Jahr tiefer in die erschlafften Muskeln. "So kurz vor dem Abendessen noch ein Eis.", schnarrte sie. "Das ist doch wohl nicht nötig. Wie soll denn aus dem Jungen was werden, wenn du ihn so verwöhnst?"
"Ein Eis hat noch keinem geschadet.", erwiderte Ingrid und rauschte eilig mit Raimund davon.

Wenn sie mit ihrem Sohn allein war, war für Ingrid die Welt in Ordnung, dann war da niemand, der sie bedrohte, beschimpfte, abwertete oder ihr Gewalt antat. Stattdessen verwöhnte sie den Kleinen, überhäufte ihn mit Gefälligkeiten und Zärtlichkeiten und bekam dafür so unendlich viel Liebe, Bewunderung und wohltuende körperliche Nähe zurück, dass sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben vollständig, heil, stark, schön und nahezu unverwundbar fühlte. Raimund war ihr Schatz, ihre Zuflucht, ihre Kraftquelle. Sie ernährte sich von seiner bedingungslosen Liebe.

"Einmal brauner Bär", bestellte sie bei Brünings Edeltraut, sie kannte die Vorlieben ihres kleinen Jungen ganz genau und Raimund bebte vor Vorfreude auf das süße, kalte Geschmackserlebnis mit dem warm auf der Zunge explodierenden Feuerwerk aus körnig zerfallendem Karamell.
Ingrid zog das Papier von der Süßigkeit, reichte Raimund den Stiel und beobachtete mit Hingabe, wie die kleinen, roten, weichen Kinderlippen die Spitze des Eises umschlossen so wie vor wenigen Jahren ihre Brustwarzen. Ein Jammer, dass diese Zeit so kurz gewesen war, dass alles Schöne so schnell vorbei ging und das nächste Ungemach gleich um die Ecke auf der Lauer lag.

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Samstag, 16. Dezember 2023
Spoiler 9 - nichts für Kinder
1971
Das Trauerjahr war um, das nette, zweiteilige Tanzkleid vom letzten Jahr passte noch und Ingrid schwor sich, im Falle eines weiteren verwandtschaftlichen Spontanablebens die starren Formen der hiesigen Trauerkultur zu durchbrechen.
Aber die Sterne - oder welche Götter auch immer
- meinten es gut mit ihr und ersparten ihr diesmal jedwede Fallstricke und Hindernisse. Und so machte Ingrid sich zurecht für das große Schützenfest im nahegelegenen Lenzinghausen.
Sie stand noch gar nicht lange am Rand der Tanzfläche, da forderte sie auch schon der erste Kandidat zum Tanzen auf. Sie hatte nie wirklich tanzen gelernt, aber hier auf dem Land beherrschten die meisten nur den einfachen Schieber, und in diese gleichförmige Bewegung fand sie sich schnell ein. Viele konnten auch einen Walzer tanzen, aber dafür lief am Samstag Abend ohnehin nicht die richtige Musik.
Ihr Tanzpartner war ein Autoschlosser aus Spenge, sein Gesicht hatte sie schon nach ein paar Stunden vergessen, aber nicht die Trauerränder unter den Fingernägeln. Sicher hatte er seine Hände gründlich geschrubbt und schließlich konnte es nichts für die Hartnäckigkeit des Motoröls, aber der Dreck aus der Landwirtschaft ließ sich mit Bürste und ordentlicher Seife entfernen, und warum sollte sie sich einen Arbeiter anlachen, der hatte weder Geld noch Unterstützung zu bieten.
Ein paar Tänze und ein paar alkoholische Getränke später kam ein Schrank von einem Kerl auf sie zu. Sie hatte gar keine Gelegenheit, darüber nachzudenken, ob sie mit ihm tanzen wollte oder nicht. Er packte sie, zog sie an sich und bewegte sich zügig mit ihr auf die Tanzfläche. Sein kräftiger linker Unterarm umschlang ihre Taille, mit der rechten Bauernpranke umfasste er ihre linke Hand und stob mit ihr über den Tanzboden, als gäbe es kein Morgen. Sie kannte ihn flüchtig - Ramöllers Horst - ein fleißiger Kerl, der zwar keinen Hof an den Hacken hatte, den aber ein stattlicher Geldsegen erwartete, wenn er einmal heiratete, eine durch und durch gute Partie. Dass er noch zu haben war, weil ihm die latente Gewaltbereitschaft offenkundig aus allen Poren strömte, entzog sich Ingrids Wahrnehmung, denn erstens verfügte sie aufgrund ihrer jahrelangen, sozialen Isolation über keinerlei Menschenkenntnis und außerdem empfand sie unterschwellige Aggressivität als vollkommen normal - sie kannte ja nichts Anderes.

Sie genoss es, dass er sie nicht mehr von der Leine ließ, und obwohl sie statt des viel zu bitteren Biers nur Alsterwasser trank, war sie erheblich schneller betrunken als Horst Ramöller, denn erstens vertrug sie als Frau ohnehin nicht so viel und zweitens war sie kaum an Alkohol gewöhnt, zu Hause hatte nur der Vater getrunken.
Mit dem Voranschreiten des Abends wurde die Musik wilder und die Stimmung ausgelassener - anstelle von Schlagern erklangen Lieder der Rolling Stones und zwischen den wilden Beats spielte die Kapelle den einen oder anderen Klammerblues, von denen Horst nicht einen ausließ.
Ingrid wurde abwechselnd heiß und kalt. Es war ein großes Glück, einen so fetten Goldfisch an der Angel zu haben, aber das Potpourri aus Männerschweiß, Rasierwasser, Bier und Zigarettenrauch überflutete ihr limbisches System und löste eine innere Panik aus, deren Unterdrückung ihr nur dank ihres eisernen Willens gelang, dieser Wille, sich mit einem passenden Mann aus ihrem Elend zu befreien. Irgendwann wollte Horst dann auch mehr als nur eng tanzen. Er zog sie hinter das Festzelt und drängte sie in den Schatten eines Baumes, wo er sich an sie drückte und seine feuchten Lippen wüst auf die ihren presste. Seine glitschige Zunge fuhr wie ein Feudel durch ihre Mundhöhle, und sie musste sich darauf konzentrieren, dem aufkommenden Würgereiz nicht nachzugeben. Dann griff er mit einer Hand besitzergreifend nach einer ihrer Pobacken, die andere fuhr unter die Bluse und landete auf ihrer Brust. Er begann zu stöhnen und Ingrid fragte sich, ob es genauso furchtbar werden würde wie mit ihrem Vater. Sie hatte mitbekommen, dass es die Aussichten auf eine Heirat verdarb, sich gleich bei der ersten Gelegenheit hinzugeben und so sagte sie irgendwann: "So. Jetzt ist es erstmal genug. Ich muss jetzt nach Hause. Schließlich muss ich morgen früh füttern und melken."
"Ja, ich auch.", lallte Horst. "Ich bring dich nach Hause, dass dir nix passiert."

In der kommenden Woche stand Horst auf der Matte und fragte, ob sie nicht Lust habe, mit ihm zur Landjugend zu gehen. Lisbeth witterte fette Beute und ließ ihre Tochter gewähren, es blieb ihr ja auch nichts Anderes mehr übrig, denn Ingrid war volljährig. Auch wenn sie kaum ein selbstständiges Leben führen konnte - sie besaß nichts und hatte keinerlei Ausbildung vorzuweisen - so war Lisbeth doch mittlerweile abhängig vom Wohlwollen ihrer Tochter, die genauso gut mit wem auch immer durchbrennen und sich in irgendeiner Fabrik oder Gaststätte ihren Lebensunterhalt verdienen konnte. Wer würde dann den Hof weiterführen? Denn eines war klar: Lisbeth würde keinen neuen Mann mehr finden und sie wollte auch keinen. Heilfroh war sie mittlerweile, dass der brutale, rücksichtslose Säufer an ihrer Seite das Zeitliche gesegnet hatte.

Und so erschien Horst als der starke Retter, auf den Ingrid schon so lange gewartet hatte. Sie war wild entschlossen, die Zähne zusammenzubeißen und alles an körperlicher Nähe zu ertragen, was nötig war, um diesen Mann einzufangen und zu halten. Darum dauerte es auch nur wenige Wochen, bis sie sich bereitwillig in sein Bett legte, gewappnet mit Verhütungsmitteln, die eigentlich keine waren. Aber da weniger Ingrids Lust, als vielmehr Horsts Begehrlichkeiten im Vordergrund standen, blieb das eigentlich Unvermeidliche zunächst aus.
Mit der Zeit gewöhnte sie sich daran, es dauerte meistens auch nicht besonders lange und sie wurde mit einem Leben entschädigt, das so abwechslungsreich war wie nie zuvor. Nach gut einem Jahr verfehlten die Schaumzäpfchen dann doch ihre Wirkung, und als die Regel seit fünf Wochen überfällig war, musste sogar Ingrid erkennen, dass nun die Entscheidung fallen würde: Entweder sie würde als alleinerziehende Mutter den Rest ihres Lebens in Schande verbringen oder Horst würde sich als halbwegs anständig erweisen und sie endlich heiraten.

Horst hatte ohnehin nichts Anderes vorgehabt und drei Monate später feierten sie eine ordentliche Bauernhochzeit, mit Standesamt und Kostüm, Kirche und weißem Kleid, Brautstrauß und Kutsche und im großen Saal ereignete sich ein rauschendes Fest mit Sektempfang, Vier-Gänge-Menü, zünftigem Tanz, Mitternachtsbuffet und achtzig Gästen. Dafür hatte Lisbeth genug Geld auf die hohe Kante gelegt. Und dann wurde alles anders.

Horst zog ein. Das Schlafzimmer, in dem früher Ingrids Brüder geschlafen hatten, erhielt eine Ausstattung mit Ehebett und sechstürigem Kleiderschrank. Ingrids altes Schlafzimmer wurde vorsorglich als Kinderzimmer eingerichtet und Horst stellte sofort klar, dass er einen zügigen Ausbau des alten Heubodens in Angriff nehmen wollte. Noch vor der Geburt des Kindes begannen die Vorarbeiten.

Knapp fünf Monate nach der Hochzeit - im Februar 1973 - kam der gemeinsame Sohn Raimund zur Welt. Und endlich hatte Ingrid etwas, dass sie lieben konnte, das sie beschützen wollte, das ihr ganz allein gehörte.

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