Donnerstag, 21. Dezember 2023
Spoiler 10
1979
Voller Stolz fuhr Ingrid ihrem einzigen Sohn ein letztes Mal mit dem Kamm durch die goldenen Locken. Die hatte er von seinem Großvater väterlicherseits. Sie beugte sich hinab und drückte seinen kleinen Kopf gegen ihren mächtigen Busen.
Horst hatte am Wochenende sogar den Mercedes auf Hochglanz poliert, weniger zu Ehren seines Sohnes, als um selbst eine gute Figur abzugeben. Auf seinen Sohn war er ohnehin nicht gut zu sprechen. Erst diente die Brut als Dauerausrede, wenn er an seine Frau ran wollte und als er aus dem Gröbsten raus war, verbrachte Ingrid jede freie Minute mit dem Kind und in der Nacht war sie todmüde.
Natürlich war Horst bei der Einschulung seines Sohnes dabei, er wollte ja nicht als ungehobelt gelten, aber es widerstrebte ihm zutiefst, dass sich alles um den Jungen drehte.

Raimund hatte noch gar nicht begriffen, welche Bedeutung dem heutigen Tag zukam. Er war noch nie ohne seine Mutter von zu Hause fort gewesen, denn vom Kindergarten hatte Ingrid gar nichts gehalten. Er vermisste die anderen Kinder nicht, auf dem Hof gab es täglich viel Spannendes zu entdecken und die Mama erzählte ihm Geschichten, sang Lieder mit ihm, gab ihm Süßigkeiten und tausend Küsse. Sie war immer für ihn da, egal ob er sich weh getan hatte, vor Angst zitterte, traurig war oder sich einfach nur langweilte.
Der Papa dagegen war ihm fremd. Auch wenn er es liebte, ihn bei der Arbeit zu beobachten und ihn im Spiel zu imitieren, fühlte er sich ihm nicht nah. Seine unbändige Kraft war bewundernswert und furchteinflößend zugleich. Nur manchmal sah der Papa ihn anders an und dann entfernte sich sein Blick und sein Gesicht wurde kurz weich, bevor es sich wieder verhärtete.
Wenn Raimund bei den Hausaufgaben saß, die ersten Buchstaben übte, Zeichnungen von Obststücken ausmalte, um ein Gefühl für Zahlen zu entwickeln, waren alle zufrieden. Wenn er aber Hilfe brauchte, weil ihm eine Aufgabe nicht gelingen wollte, eilte Ingrid nur allzu bereitwillig zur Hilfe, während Horst jedes Mal missmutiger darauf reagierte.
"Wenn du deine Schularbeiten nicht alleine schaffst, musst du zur Hilfsschule.", fuhr er seinen Sohn an. Seiner Ansicht nach mussten Kinder nebenbei aufwachsen, sie hatten einfach mitzulaufen, man hielt sich nicht mit ihnen auf. Die Drohung mit der Sonderschule hörte Raimund nicht zum ersten Mal. Sein Vater hatte ihm mehrfach in den düstersten Farben die zukünftige Karriere seines Scheiterns ausgemalt: die ständige Gesellschaft von Kindern, die allesamt genauso dumm waren wie er, drakonische Strafen bei Nichterreichen des ohnehin viel zu niederschwelligen Klassenziels und eine berufliche Perspektive jenseits von sinnstiftender Erfüllung, gesellschaftlicher Anerkennung und existenzsichernden Verdienstmöglichkeiten - oder um es in einer für den kleinen, verunsicherten Raimund verständlichen Sprache auszudrücken: "langweilige, schwere Arbeit, alle lachen dich aus und du hast nie genug Geld, um dir zu kaufen, was du brauchst."
Raimund begann zu greinen. "Ich muss gar nicht zur Hilfsschule!", stieß er schluchzend hervor. "Ich bin nicht doof. Die andern Kinder werden auch geholfen!"
Der kleine grammatikalische Lapsus entzog sich der väterlichen Wahrnehmung. Auch Horsts Gehirnwindungen waren nicht die kurvenreichste Strecke in der Galaxis - nicht einmal im von wenigen Erhebungen durchzogenen Häger.
"Ich helfe dir ja.", beruhigte Ingrid ihn.
"Du solltest dich mal lieber ums Abendbrot kümmern!", fuhr Horst sie an. "Ich komme um vor Hunger!"
"Bis du verhungert bist, das dauert aber ein paar Wochen.", murmelte Ingrid leise, abgewandt, aber unüberhörbar.
Ein Knall zerschnitt die Luft. Ingrid hatte eine Ohrfeige kassiert.
"Komm, Raimund.", sagte sie. "Wir beide gehen jetzt zu Brünings und holen dir ein Eis. Danach kannst du besser denken und ich kann Abendbrot machen. Papa schmiert sich am besten ein Leberwurstbrot und wäscht sich erstmal."
Raimund freute sich über die aussichtsreiche Wendung, vor allem aber darüber, der bedrückenden häuslichen Atmosphäre zu entkommen.

Lisbeth stand in der Tür. Der säuerliche Ausdruck in ihrem verhärmten Gesicht grub sich von Jahr zu Jahr tiefer in die erschlafften Muskeln. "So kurz vor dem Abendessen noch ein Eis.", schnarrte sie. "Das ist doch wohl nicht nötig. Wie soll denn aus dem Jungen was werden, wenn du ihn so verwöhnst?"
"Ein Eis hat noch keinem geschadet.", erwiderte Ingrid und rauschte eilig mit Raimund davon.

Wenn sie mit ihrem Sohn allein war, war für Ingrid die Welt in Ordnung, dann war da niemand, der sie bedrohte, beschimpfte, abwertete oder ihr Gewalt antat. Stattdessen verwöhnte sie den Kleinen, überhäufte ihn mit Gefälligkeiten und Zärtlichkeiten und bekam dafür so unendlich viel Liebe, Bewunderung und wohltuende körperliche Nähe zurück, dass sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben vollständig, heil, stark, schön und nahezu unverwundbar fühlte. Raimund war ihr Schatz, ihre Zuflucht, ihre Kraftquelle. Sie ernährte sich von seiner bedingungslosen Liebe.

"Einmal brauner Bär", bestellte sie bei Brünings Edeltraut, sie kannte die Vorlieben ihres kleinen Jungen ganz genau und Raimund bebte vor Vorfreude auf das süße, kalte Geschmackserlebnis mit dem warm auf der Zunge explodierenden Feuerwerk aus körnig zerfallendem Karamell.
Ingrid zog das Papier von der Süßigkeit, reichte Raimund den Stiel und beobachtete mit Hingabe, wie die kleinen, roten, weichen Kinderlippen die Spitze des Eises umschlossen so wie vor wenigen Jahren ihre Brustwarzen. Ein Jammer, dass diese Zeit so kurz gewesen war, dass alles Schöne so schnell vorbei ging und das nächste Ungemach gleich um die Ecke auf der Lauer lag.

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Samstag, 16. Dezember 2023
Spoiler 9 - nichts für Kinder
1971
Das Trauerjahr war um, das nette, zweiteilige Tanzkleid vom letzten Jahr passte noch und Ingrid schwor sich, im Falle eines weiteren verwandtschaftlichen Spontanablebens die starren Formen der hiesigen Trauerkultur zu durchbrechen.
Aber die Sterne - oder welche Götter auch immer
- meinten es gut mit ihr und ersparten ihr diesmal jedwede Fallstricke und Hindernisse. Und so machte Ingrid sich zurecht für das große Schützenfest im nahegelegenen Lenzinghausen.
Sie stand noch gar nicht lange am Rand der Tanzfläche, da forderte sie auch schon der erste Kandidat zum Tanzen auf. Sie hatte nie wirklich tanzen gelernt, aber hier auf dem Land beherrschten die meisten nur den einfachen Schieber, und in diese gleichförmige Bewegung fand sie sich schnell ein. Viele konnten auch einen Walzer tanzen, aber dafür lief am Samstag Abend ohnehin nicht die richtige Musik.
Ihr Tanzpartner war ein Autoschlosser aus Spenge, sein Gesicht hatte sie schon nach ein paar Stunden vergessen, aber nicht die Trauerränder unter den Fingernägeln. Sicher hatte er seine Hände gründlich geschrubbt und schließlich konnte es nichts für die Hartnäckigkeit des Motoröls, aber der Dreck aus der Landwirtschaft ließ sich mit Bürste und ordentlicher Seife entfernen, und warum sollte sie sich einen Arbeiter anlachen, der hatte weder Geld noch Unterstützung zu bieten.
Ein paar Tänze und ein paar alkoholische Getränke später kam ein Schrank von einem Kerl auf sie zu. Sie hatte gar keine Gelegenheit, darüber nachzudenken, ob sie mit ihm tanzen wollte oder nicht. Er packte sie, zog sie an sich und bewegte sich zügig mit ihr auf die Tanzfläche. Sein kräftiger linker Unterarm umschlang ihre Taille, mit der rechten Bauernpranke umfasste er ihre linke Hand und stob mit ihr über den Tanzboden, als gäbe es kein Morgen. Sie kannte ihn flüchtig - Ramöllers Horst - ein fleißiger Kerl, der zwar keinen Hof an den Hacken hatte, den aber ein stattlicher Geldsegen erwartete, wenn er einmal heiratete, eine durch und durch gute Partie. Dass er noch zu haben war, weil ihm die latente Gewaltbereitschaft offenkundig aus allen Poren strömte, entzog sich Ingrids Wahrnehmung, denn erstens verfügte sie aufgrund ihrer jahrelangen, sozialen Isolation über keinerlei Menschenkenntnis und außerdem empfand sie unterschwellige Aggressivität als vollkommen normal - sie kannte ja nichts Anderes.

Sie genoss es, dass er sie nicht mehr von der Leine ließ, und obwohl sie statt des viel zu bitteren Biers nur Alsterwasser trank, war sie erheblich schneller betrunken als Horst Ramöller, denn erstens vertrug sie als Frau ohnehin nicht so viel und zweitens war sie kaum an Alkohol gewöhnt, zu Hause hatte nur der Vater getrunken.
Mit dem Voranschreiten des Abends wurde die Musik wilder und die Stimmung ausgelassener - anstelle von Schlagern erklangen Lieder der Rolling Stones und zwischen den wilden Beats spielte die Kapelle den einen oder anderen Klammerblues, von denen Horst nicht einen ausließ.
Ingrid wurde abwechselnd heiß und kalt. Es war ein großes Glück, einen so fetten Goldfisch an der Angel zu haben, aber das Potpourri aus Männerschweiß, Rasierwasser, Bier und Zigarettenrauch überflutete ihr limbisches System und löste eine innere Panik aus, deren Unterdrückung ihr nur dank ihres eisernen Willens gelang, dieser Wille, sich mit einem passenden Mann aus ihrem Elend zu befreien. Irgendwann wollte Horst dann auch mehr als nur eng tanzen. Er zog sie hinter das Festzelt und drängte sie in den Schatten eines Baumes, wo er sich an sie drückte und seine feuchten Lippen wüst auf die ihren presste. Seine glitschige Zunge fuhr wie ein Feudel durch ihre Mundhöhle, und sie musste sich darauf konzentrieren, dem aufkommenden Würgereiz nicht nachzugeben. Dann griff er mit einer Hand besitzergreifend nach einer ihrer Pobacken, die andere fuhr unter die Bluse und landete auf ihrer Brust. Er begann zu stöhnen und Ingrid fragte sich, ob es genauso furchtbar werden würde wie mit ihrem Vater. Sie hatte mitbekommen, dass es die Aussichten auf eine Heirat verdarb, sich gleich bei der ersten Gelegenheit hinzugeben und so sagte sie irgendwann: "So. Jetzt ist es erstmal genug. Ich muss jetzt nach Hause. Schließlich muss ich morgen früh füttern und melken."
"Ja, ich auch.", lallte Horst. "Ich bring dich nach Hause, dass dir nix passiert."

In der kommenden Woche stand Horst auf der Matte und fragte, ob sie nicht Lust habe, mit ihm zur Landjugend zu gehen. Lisbeth witterte fette Beute und ließ ihre Tochter gewähren, es blieb ihr ja auch nichts Anderes mehr übrig, denn Ingrid war volljährig. Auch wenn sie kaum ein selbstständiges Leben führen konnte - sie besaß nichts und hatte keinerlei Ausbildung vorzuweisen - so war Lisbeth doch mittlerweile abhängig vom Wohlwollen ihrer Tochter, die genauso gut mit wem auch immer durchbrennen und sich in irgendeiner Fabrik oder Gaststätte ihren Lebensunterhalt verdienen konnte. Wer würde dann den Hof weiterführen? Denn eines war klar: Lisbeth würde keinen neuen Mann mehr finden und sie wollte auch keinen. Heilfroh war sie mittlerweile, dass der brutale, rücksichtslose Säufer an ihrer Seite das Zeitliche gesegnet hatte.

Und so erschien Horst als der starke Retter, auf den Ingrid schon so lange gewartet hatte. Sie war wild entschlossen, die Zähne zusammenzubeißen und alles an körperlicher Nähe zu ertragen, was nötig war, um diesen Mann einzufangen und zu halten. Darum dauerte es auch nur wenige Wochen, bis sie sich bereitwillig in sein Bett legte, gewappnet mit Verhütungsmitteln, die eigentlich keine waren. Aber da weniger Ingrids Lust, als vielmehr Horsts Begehrlichkeiten im Vordergrund standen, blieb das eigentlich Unvermeidliche zunächst aus.
Mit der Zeit gewöhnte sie sich daran, es dauerte meistens auch nicht besonders lange und sie wurde mit einem Leben entschädigt, das so abwechslungsreich war wie nie zuvor. Nach gut einem Jahr verfehlten die Schaumzäpfchen dann doch ihre Wirkung, und als die Regel seit fünf Wochen überfällig war, musste sogar Ingrid erkennen, dass nun die Entscheidung fallen würde: Entweder sie würde als alleinerziehende Mutter den Rest ihres Lebens in Schande verbringen oder Horst würde sich als halbwegs anständig erweisen und sie endlich heiraten.

Horst hatte ohnehin nichts Anderes vorgehabt und drei Monate später feierten sie eine ordentliche Bauernhochzeit, mit Standesamt und Kostüm, Kirche und weißem Kleid, Brautstrauß und Kutsche und im großen Saal ereignete sich ein rauschendes Fest mit Sektempfang, Vier-Gänge-Menü, zünftigem Tanz, Mitternachtsbuffet und achtzig Gästen. Dafür hatte Lisbeth genug Geld auf die hohe Kante gelegt. Und dann wurde alles anders.

Horst zog ein. Das Schlafzimmer, in dem früher Ingrids Brüder geschlafen hatten, erhielt eine Ausstattung mit Ehebett und sechstürigem Kleiderschrank. Ingrids altes Schlafzimmer wurde vorsorglich als Kinderzimmer eingerichtet und Horst stellte sofort klar, dass er einen zügigen Ausbau des alten Heubodens in Angriff nehmen wollte. Noch vor der Geburt des Kindes begannen die Vorarbeiten.

Knapp fünf Monate nach der Hochzeit - im Februar 1973 - kam der gemeinsame Sohn Raimund zur Welt. Und endlich hatte Ingrid etwas, dass sie lieben konnte, das sie beschützen wollte, das ihr ganz allein gehörte.

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Freitag, 8. Dezember 2023
Spoiler 8
1970
Ingrid nahm ihren 21. Geburtstag zur Kenntnis. Gefeiert wurde nicht.
"Wenn du feiern willst, kümmere dich selbst darum.", hatte die Mutter gesagt. Aber wen hätte Ingrid schon einladen sollen? Sie hatte keine Freundinnen und Freunde erst recht nicht. Sie war jetzt volljährig, sie konnte tun, was sie wollte, aufbrechen, zu welchem Ort auch immer sie wollte, aber wohin hätte sie schon gehen können? Sie war nicht ausgebildet, besaß kein eigenes Geld und hatte - wie gesagt - keine Freunde, die sie hätten beherbergen und unterstützen können. Ihre einzige Chance auf etwas Würde bestand in der baldigen Heirat eines anständigen Mannes - die Besten waren bereits in festen Händen, so viele in Ingrids Alter waren bereits verlobt.
Bis zur nächsten Tanzveranstaltung in der Umgebung war es noch acht Wochen hin, dann begann die Saison und bis dahin wollte sie gut aussehen. Die Feld- und Gartenarbeit verrichtete sie jetzt, so oft es ging leicht bekleidet, damit sie Farbe bekam. Sie aß nicht so viel von allem, was fettig war und süßte Kaffee und Tee nur noch mit Süßstoff. Tatsächlich verlor sie ein paar Pfunde und fühlte sich gleich attraktiver, da konnten auch die spitzen und abwertenden Bemerkungen ihrer missgünstigen Mutter nichts ausrichten. Lisbeths Beleidigungen machten keinen Eindruck mehr auf sie, denn mit den hohlen Wangen, den dunklen Ringen unter den Augen, den Krähenfüßen und den gekräuselten Lippen und dem viel zu dünnen aschblond-grauen Haar wirkte ihre Mutter mehr wie ein Gespenst als wie eine gestandene Bäuerin. Ingrid hatte ihre Statur mehr vom Vater geerbt; stämmige Beine und einen kräftigen Rücken, dazu war sie mit üppigen Brüsten und einer vollendeten Hüftrundung gesegnet. Sie war ein richtiges Vollweib, das durchaus das Potential besaß, die Blicke der Männer auf sich zu ziehen, wenn sie nur nicht immer so mürrisch dreingeblickt hätte. Aber aus ihrem vollen, langen Haar ließ sich Einiges machen und das neue Tanzkleid hing schon auf dem Bügel - nichts Großartiges, aber fesch und für die üblichen Zeltfeste mehr als ausreichend. Dieses Jahr würde es klappen, da war sie sich sicher, jetzt war sie endlich auch einmal dran. Gerds Frau erwartete nämlich bereits das zweite Kind und ließ keine Gelegenheit aus, darauf hinzuweisen, dass Ingrids Enkel-Lieferungen jawohl noch in weiter Ferne lägen, zumal sie sich noch nicht einmal einen geeigneten Vater für die Kinder angelacht habe. Ingrid wollte es allen zeigen.

So versank sie gerade in ihren Gedanken an einem Mittwoch im Mai, durchgeschwitzt und erschöpft von der Arbeit, die Schweine lärmten in Erwartung der Fütterung und Ingrid gab sich dem fast schon kontemplativen Rhythmus des Handgemelks hin, als sie sich wunderte, warum die Schweine nicht allmählich Ruhe gaben. Sie molk die Kuh noch zu Ende, dann schlurfte sie in Richtung der Schweineboxen, um nachzusehen, was da nicht nach Plan lief.
Die Sauen gingen gierig schreiend und quiekend die Wände hoch und Ingrid stellte sofort fest, dass sie noch kein Futter bekommen hatten. Nur ganz hinten war es ruhig. Warum war Fritz einfach weggegangen und hatte die Tiere nicht komplett versorgt? Sie rief ihn, erhielt aber keine Antwort und weil sie ihn nirgends erblickte, erbarmte sie sich der Tiere und setzte die Fütterung fort. Als alle zufrieden grunzten, schrubbte sie ihre Hände, tauschte die Holzpantinen gegen Hausschuhe aus und ging in die Küche, wo die Mutter bereits den Tisch fürs Abendessen deckte.
"Is' Vatter immer noch nich' fertig mit füttern?", fragte Lisbeth angespannt.
"Ich habe gefüttert.", antwortete Ingrid. "Wo unser Vatter is' weiß ich auch nich'. Wahrscheinlich im Gasthof."
"So was macht der nicht.", antwortete Lisbeth. "Der läuft doch nicht mitten bei der Arbeit weg."
"Wer weiß.", erwiderte Ingrid. "Je oller, je doller."
"Jetzt geh unsern Vatter suchen.", wies die Mutter sie scharf zurecht. "Gibt gleich Abendbrot."
Widerwillig schlurfte Ingrid in den Stall zurück. Wo sollte sie den Alten denn suchen? Seufzend schlüpfte sie in ihre Pantinen. Sie würde wohl auf dem ganzen Hof herumstöbern müssen, eher gäbe Lisbeth keine Ruhe. Sie spürte einen leichten Harndrang und entschloss sich, den Toilettengang auf einem Weg zu erledigen. Das Plumpsklo im Stall war jetzt schön ruhig, wo die Tiere versorgt waren.
Als sie die Tür öffnete, starrte sie verwundert auf ihren Vater und wollte ihn gerade anfauchen, weil er stundenlang auf dem Klo saß und nicht antwortete, wenn man ihn rief, doch dann dämmerte ihr, dass Fritz weder antworten noch irgendetwas hören konnte. Seine halb geöffneten Augen blickten starr ins Nichts, der Oberkörper war zur Seite gekippt und lehnte schlaff in einer Mauerecke, die Lippen schimmerten bläulich, die Gesichtsfarbe erschien blass und wächsern. Und auch wenn sie viele Jahre lang diesen Moment herbeigesehnt hatte, schrie sie aus Leibeskräften und konnte gar nicht mehr aufhören, auch nicht, als Lisbeth dazu kam und mit einfiel in die vermeintliche Totenklage.

Mit der Tanzboden-Bekanntschaft wurde es auch in diesem Jahr nichts, das Trauerjahr war einzuhalten, auch wenn es für Ingrid nichts zu betrauern gab.

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Freitag, 1. Dezember 2023
Spoiler 7 - nichts für Kinder
1967
Ostern war gerade vorbei. Am Montag war Gerd mit seiner Frau zum Kaffeetrinken da gewesen. Waltraud war ein ziemlicher Besen, das gönnte Ingrid ihrem Bruder. Die würde ihn sein Leben lang in Schach halten. Besonders nett war sie allerdings nicht. Sie ging mit Ingrid um wie mit einer Magd und nicht wie mit einer Schwägerin. In ihrem Dorf nannte man sie die Warmenau-Prinzessin, aber nicht etwa wegen ihrer bezaubernden Schönheit und Grazie oder wegen eines feinsinnigen und kultivierten Wesens, nein, sie führte sich auf wie eine Herrscherin, die es als verwöhntes Einzelkind schlichtweg erwartete, dass sie stets erhielt, wonach sie verlangte.
Ingrid spürte nicht die geringste Lust, dem jungen Paar einen Gegenbesuch abzustatten. Und jetzt hatte sie der Alltag längst wieder - Fritz war mit der Getreideaussaat beschäftigt und Lisbeth und Ingrid hatten es im Stall umso eiliger.
Ach wenn sie doch einen Mann fände, der mit seinem Vermögen den elterlichen Hof einfach in die Tasche stecken könnte, jeder würde verstehen, wenn sie zu ihrem reichen Bräutigam ziehen würde, und der könnte großzügig Knechte und Mägde abstellen und alle wären zufrieden. Dann könnte Fritz sich ja zur Abwechslung mal mit der Magd vergnügen.

Aber dann erreichte sie eine Nachricht, mit der niemand gerechnet hatte: Ihr Bruder Rainer war plötzlich verstorben. Und als die Eltern nicht locker ließen, nachzufragen, wie jemand bei der Marine umkommen könne, wenn die Bundeswehr sich doch gar nicht im Krieg befände, wurden sie mit der grausamen Wahrheit konfrontiert, dass Rainer selbstständig seinem Leben ein Ende gesetzt hatte. Erhängt hatte er sich, weil er die rüden Umgangsformen bei der Marine nicht länger ertragen hatte. Und statt seine Vorgesetzten mit klagen zu überziehen wegen der Vernachlässigung ihrer Fürsorgepflicht, schämten sich Lisbeth und Fritz für ihren Sohn, der so kläglich versagt hatte und nicht einmal den Grundwehrdienst in Friedenszeiten ertragen hatte. Sie sprachen nicht mehr von ihm, stellten auch keine Bilder auf und die Beerdigung fand im engsten Familienkreis statt. Nur Ingrid trauerte um ihren Bruder, doch auch sie schwieg, denn es wollte ja sonst niemand über ihn reden und so dachte sie viel zu selten an ihn und die Erinnerungen begannen bereits zu verblassen.

Sie hatte wieder einen besonders harten Tag im Stall hinter sich, denn Lisbeth hatte sich nach dem Mittagessen mit Fieber ins Bett gelegt, was Fritz zum Anlass genommen hatte, schon am Nachmittag den Gasthof aufzusuchen, um in bierseliger Gesellschaft das häusliche Elend eine Zeitlang auszublenden. Als er betrunken zurückkehrte, lag Ingrid schon im Bett, war völlig ermattet eingeschlafen und schreckte hoch, weil Fritz durch seine alkoholisch eingeschränkte Feinmotorik und Koordinationsfähigkeit mehrere Gegenstände auf der Deele umstieß und dabei ein ohrenbetäubendes Spektakel veranstaltete. Ingrid zog sich die Decke über den Kopf, bis Poltern und Fluchen verstummt waren und schlief dann bald wieder ein.

Als sie wieder erwachte, fröstelte sie, weil der Alte ihre Decke zurückgeschlagen hatte und sich an ihrem Nachthemd zu schaffen machte. Sich selbst hatte er unten herum schon entblößt und sein gieriges Keuchen roch nach Schnaps, Bier, Zigaretten und einem deutlich übersäuerten Magen, vom bestialischen Gestank der Ausscheidungen seiner zahlreichen Kariesbakterien einmal ganz zu schweigen. Das alles mischte sich mit dem süßlich ungesunden Gestank seines ungewaschenen, alternden Männerkörpers.
Diesmal war Ingrids Abscheu und Ekel stärker als ihre Angst. Sie begann zu schreien und auf die haarige, verschwitzte Brust ihres Vaters einzuschlagen. Er wollte ihr den Mund zuhalten, aber er musste auch ihre Schläge abwehren, und er war viel zu betrunken, um derartig koordinierte Bewegungen zu vollziehen. Ingrid schrie immer weiter, schrill und laut, als ginge es ums nackte Überleben und sie trommelte immer weiter auf den betrunkenen Sack über ihr ein, bis schließlich Lisbeth in der Tür stand. Die ging auf das Bett zu, bekam ihren Mann am Hemd zu fassen und zerrte ihn von der gemeinsamen Tochter. Er fiel zu Boden. Ingrid schrie noch immer. Lisbeth verpasste ihr eine schallende Ohrfeige und zischte: " Bist du still! Was sollen denn die Nachbarn denken?"
"Welche Nachbarn?", dachte Ingrid, ohne es auszusprechen.
Fritz kam wieder auf die Beine und zog seine Schlafanzughose hoch. Er wankte in Richtung Schlafzimmer und Lisbeth folgte ihm auf den Fersen. Sie blickte sich nicht einmal zu ihrer Tochter um.

Ingrid erfuhr niemals, was sich danach zwischen ihren Eltern abspielte. Es war ihr auch egal. Auf jeden Fall war es das letzte Mal, dass ihr Vater ihr Schlafzimmer betreten hatte.

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