Mittwoch, 8. November 2023
Spoiler 4 - nichts für Kinder
1960

Es war ein strahlender Sonntagmorgen im Mai. Fritz Vollweiter war guter Dinge, denn er hatte am Samstag fröhlich gefeiert beim Tanzboden der Löschgruppe Häger und nun plante er nach getaner Stallarbeit frisch rasiert mit geschrubbten Fingernägeln einen Kirchgang in Ausgehuniform. Anschließend ging es zum Frühschoppen ins Festzelt gegenüber der Kirche und nach zünftiger Erbsensuppe und starkem Kaffee waren alle wieder so klar im Kopf, dass der Umzug durchs Dorf nicht in Schlangenlinien vonstatten ging. Fritz besaß zwei Oberhemden, die zur Uniform gehörten - das eine hatte gestern Nacht gefühlte zwei Liter Achselschweiß und ein halbes Bier aufgenommen. Das zweite konnte er nicht finden. In der Wäsche konnte es unmöglich sein, denn der letzte Auftritt in Uniform lag sechs Wochen zurück.
"Lisbeth!", rief er. "Wo ist denn wohl mein sauberes Uniformhemd?"
"Keine Ahnung.", tönte es gelangweilt aus der Küche. "Im Kleiderschrank, nehme ich an."
"Nee, da isses nicht! Wo kann das denn sonst sein? Jetzt komm doch mal her!"
Lisbeth ließ verärgert die angefangene Arbeit liegen und traf in der Stube auf ihren nur mit Unterwäsche bekleideten Mann.
"Die Hemden hängen alle nebeneinander auf den Bügeln.", sagte sie, rauschte an ihm vorbei und begann, im Kleiderschrank die Haken quietschend auf der Stange hin- und her zu schieben. Sie konnte das gewünschte Hemd ebenfalls nicht finden. Also sagte sie: "Ist wohl noch nicht gebügelt."
"Wie kann das denn sein?", fragte Fritz. "Das hatte ich doch zum letzten Mal vor sechs Wochen an."
"Bin ich eben noch nicht zu gekommen."
"Ja, und jetzt?"
"Mein Gott, jetzt stell dich nicht so an und zieh eins von den weißen Oberhemden an. Damit siehst du feiner aus als alle anderen."
"Ich will aber nicht feiner aussehen als alle anderen.", zischte Fritz und geriet allmählich in Fahrt.
"Das Uniformhemd ist hellblau und nicht weiß. Das fällt doch sofort auf. Warum kannst du auf sowas nicht achten? Du weißt doch, dass ich beim Feuerwehrfest zwei Hemden brauche."
"Hättest ja selber drauf achten können."
"Jetzt werd' nicht frech, sondern sieh zu, dass Du mein Hemd bügelst. Ist der Kaffee wenigstens fertig?"
"Ich kann dein Hemd jetzt nicht bügeln. Ich mache gerade den Braten und für so ein Hemd brauche ich eine halbe Stunde. Hättest du dich beim letzten Mal am Hals ordentlich gewaschen, hätte ich den Kragen nicht mehrmals mit Schmierseife bearbeiten müssen, wäre es eher gewaschen gewesen und auch gebügelt. Zieh ein weißes an oder hol dir das Knittrige aus der Bügelwäsche!"
"Du gottverdammtes Weibsbild!", brüllte Fritz und holte zum Schlag aus. Seine flache, raue Pranke landete hart auf Lisbeths linker Wange und der Schlag ließ sie diesmal zu Boden gehen. In seiner blinden Wut bemerkte Fritz nicht einmal, dass mittlerweile seine Söhne - dreizehn und fünfzehn Jahre alt - in der Tür standen und die Szene aus sicherer Entfernung beobachteten.
"Jetzt steh' auf und zack zack ans Bügelbrett mit Dir!", brüllte Fritz und trat kraftvoll gegen die Rippen seiner Frau. Die gab einen kieksenden Laut von sich und augenblicklich brannten dem dreizehnjährigen Rainer die Sicherungen durch. Er stellte sich schützend vor seine verletzte Mutter und sah dem Vater herausfordernd in das blaurot gefärbte Gesicht.
"Pack sie noch einmal an.", presste er mit vor Wut halb erstickter Stimme hervor, "und ich bring dich um."
"Dir werd' ich helfen, du Rotzbengel!", brüllte Fritz und schlug mit geballten Fäusten so lange auf Rainer ein, bis auch er wimmernd zu Boden ging.
Lisbeth riss sich zusammen, zog schließlich das verletzte Kind aus der Schusslinie und versprach: "Ich bügle das Hemd schnell über. Kaffee steht auf dem Herd. Brot ist auch schon geschnitten."
"Na also.", schnaubte Fritz. "Geht doch."
Er machte kehrt, um in die Küche zu gehen. Im Türrahmen stand der fünfzehnjährige Gerd. Sein ungerührter Blick ließ sogar Fritz das Blut in den Adern gefrieren.

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Donnerstag, 2. November 2023
Spoiler 3 - nichts für Kinder
1959
Sie hatte schon wieder von dem Tier geträumt. Es war längst dazu übergegangen, nicht mehr in ihre Hand zu spucken, sondern an ihr Bein, die Hüfte oder den Po. Diesmal war aber alles trocken, nirgendwo Schleim, der nach alten Pilzen roch. Vielleicht - dachte sie - gewöhne ich mich langsam an den Alptraum und mache mir nicht mehr in die Hose und schmiere alles voll. Denn eines war ihr klar mit ihren immerhin schon neun Jahren: ein Tier, von dem man träumte, hinterließ keine Spucke im eigenen Bett. Das musste schon von ihr selbst stammen, wo auch immer das schleimige, stinkende Zeug heraus kam.
Sie versuchte gerade, wieder einzuschlafen, da öffnete jemand ihre Schlafzimmertür. Sie wollte fragen, wer das sei, aber eine entsetzliche Angst bewirkte, dass ihre Stimme versagte. Sie konnte sich nicht einmal bewegen. Sie lag nur atemlos da und bangte um ihr Leben. Das fahle Mondlicht schien durchs Fenster und sie erkannte die vertrauten Züge ihres Vaters. Doch er erschien so unwirklich, als hätte ein fremder Geist sich seiner bemächtigt. Er schlug ihre Decke zurück und legte sich zu ihr ins Bett. Warum tat er das? Als er begann, sich an ihrem Nachthemd zu schaffen zu machen, als sie ihn stöhnen hörte und seinen Atem roch, wusste sie es. Aber sie verstand es nicht. Es gab also kein Tier, es war kein Traum, es passierte wirklich und das Ungeheuer war ein Mensch, Fritz Vollweiter, ihr Vater. Doch sie begriff noch immer nicht, was er da tat. Sie blieb nur still liegen und wartete, dass es vorbei ging. Er brauchte nicht lange. Und als er ging, rann seine Monsterspucke ihren Schenkel hinunter. Sie nahm ihr Taschentuch und wischte sich damit sauber. Doch was sollte sie ihrer Mutter erzählen, wenn die beim nächsten Mal über die Flecken im Laken schmipfte?

Fortsetzung folgt

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Donnerstag, 26. Oktober 2023
Spoiler 2
1956
Die Stallarbeit war erledigt, Fritz schrubbte seine Hände mit Schmierseife und ging danach mit einem Waschlappen durchs Gesicht, dann schlüpfte er wieder in seine Sonntagskleidung. Die Manchester-Hosen, das dicke Hemd, den alten Pullunder und den Baumwollkittel hängte er zum Lüften an den Kleiderhaken in der Viehküche, die Holzpantinen stellte er neben die leeren Milchkannen und in den neuen Cordschlappen kehrte er in den Wohnbereich zurück.
In der Stube hatte Lisbeth den Ofen ausgehen lassen, sogar die Schütte mit den Eierkohlen war leer.
"Gerd!", brüllte er seinen Ältesten herbei. "Hol mal neue Kohlen!"
Wenn auch unwillig gehorchte Gerd. Der jüngere Rainer linste neugierig um die Ecke.
"Hol mal 'n Bier aus'm Keller!", fuhr Fritz ihn an. Er verschwand sofort, kehrte aber kurz darauf unverrichteter Dinge zurück. "Is alle.", erklärte er einsilbig.
"Wie alle?", fragte Fritz. "Ich hab deiner Mutter doch gesagt, dass sie ne neue Kiste kaufen soll. - Lisbeth! Warum hast du kein Bier gekauft? Wo steckst du überhaupt?"
Lisbeth kam aus dem Schlafzimmer geschlichen mit dunklen Ringen unter den Augen.
"Ich hab Kopfschmerzen.", stöhnte sie. "Was ist denn los?"
"Bier is' alle. Wieso hast du kein neues gekauft? Hatte ich dir doch gesagt."
"Hab' ich vergessen."
"Wie kann man so was vergessen?", ereiferte Fritz sich.
"Meine Güte!", stöhnte Lisbeth. "Als wenn es nichts Wichtigeres gäbe. Wirst schon nicht tot umfallen, wenn es mal kein Bier gibt. Säufst sowieso viel zu viel."
"Was tu ich?", brüllte Fritz. "Wenn ich den ganzen Tag im Stall malocht habe, dann hab' ich auch ein Recht auf ein bisschen Entspannung. Andere liegen Sonntags auf der faulen Haut und meine Frau liegt faul im Bett rum und vergisst alles."
"Ich hab Kopfschmerzen.", verteidigte Lisbeth sich.
"Ich geb dir gleich Kopfschmerzen!", brüllte Fritz und schlug mit der Rückhand gegen Lisbeths Jochbein. Der Schlag traf sie so unvermittelt, dass sie beinahe zu Boden ging. Sie schrie laut auf.
"Hör auf rumzubölken!", brüllte Fritz und trat sie ins Gesäß. Rainer stand in der Tür und starrte fassungslos seine Eltern an. Gerd kam mit dem Kohlenkasten und sein Vater wies ihn barsch an: "Stell den einfach da hin. Geheizt wird später. Eure Mutter geht ins Bett, ihr Jungs könnt Fußball spielen und Ingrid kann Seilspringen oder Hinkeln gehen. Ich gehe ins Dorf, ich kriege mein Bier schon und morgen schicke ich eure Mutter ne neue Kiste kaufen. Und jetzt ab mit euch."

Im dunkelsten Winkel unter der Treppe kauerte Ingrid und betete, dass der Vater nicht nach ihr suchte.
Im dunkelsten Winkel seines Herzens malte Rainer sich aus, wie er den ganzen Saft aus seinem Vater heraus prügelte, bis er sich nicht mehr rührte.
Und die dunkelsten Winkel in Gerds Seele waren längst verschlossene Räume.

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Freitag, 20. Oktober 2023
Spoiler 1 - nichts für Kinder!
Liebe, wenige Lesende,
im Moment klappt es mit den Kurzkrimis nicht so, dafür gibt es in der nächsten Zeit häppchenweise aus der "Recherche" für den nächsten Buchkrimi. Was davon am Ende tatsächlich in der Endfassung landet, ist noch nicht klar. Hier nun also das erste Häppchen:

1955

Es war ein harter Tag gewesen; einer von denen, an denen man sich nur noch den Bauch vollschlagen wollte, sich in der Stube ein Bier, einen Wachholder und eine Zigarre genehmigen und dann ins Bett fallen wollte. Fritz fühlte sich an diesem Abend um zwanzig Jahre gealtert, doch nach der ersten Runde des Schlafs der Gerechten zwischen den gestärkten Laken spürte er wieder, dass er erst 35 Jahre alt war. Er hatte wieder vom Krieg geträumt, wie das Geschoss in seine Schulter geschlagen war und dann die wochenlangen Schmerzen, das Stöhnen der Sterbenden im Lazarett, das Gewimmer der Verstümmelten. Am Ende war ihm das alles nur noch auf die Nerven gegangen, für Mitgefühl war da kein Platz mehr gewesen.
Er spürte noch den Schmerz in der Schulter, doch auch, wie seine Männlichkeit sich regte, und Lisbeth lag da, entspannt auf dem Rücken und verströmte den Geruch von Nachtschweiß und Kernseife.
Er wandte sich ihr zu und seine Hand suchte ihre Brüste, doch sie schob die Hand brüsk hinweg und drehte ihm den Rücken zu. Nun machte er sich daran, ihr Nachthemd hochzuschieben. Sie wehrte sich und maulte: "Lass mich zufrieden, ich will schlafen!"
Er wusste, wenn er durchaus darauf bestand, würde sie es ihn die ganze kommende Woche spüren lassen: Fünf Tage lang Schnippelbohnensuppe, Kaffee wie Abwaschwasser und keinen Kuchen, dazu Gemecker und Gekeife von morgens bis abends.
Er hätte selbst Hand an sich legen können, aber mein Gott, er war doch kein Halbstarker mehr. Was waren das noch für Zeiten gewesen, als man sich als Bauer noch eine Magd leisten konnte, über die man bei Bedarf rüber rutschen konnte. Er schälte sich aus dem Bett, um sich mit einem weiteren Bier zu beruhigen. Einen Bademantel besaß er nicht, aber in der Stube lag eine Wolldecke, die er sich um die Schultern hängte, bevor er in den kalten Keller stieg. Er drehte dreimal an dem schwarzen Bakelit-Lichtschalter, bis es endlich hell wurde. Der Elektriker musste mal wieder vorbei kommen und das in Ordnung bringen.
Verdammt! Im Keller hatte sich mal wieder Wasser gesammelt. Mit den Wollpuschen konnte er da nicht hindurchwaten. Er ging die Treppe wieder hinauf und schlurfte in die Viehküche, wo seine Holzpantinen standen. Mit denen kehrte er in den nassen Keller zurück, doch als er zur Bierkiste gelangte, fand er nur noch leere Flaschen.
"Verdammtes Drecksweib!", fluchte er. "Zu faul, um Bescheid zu sagen, dass das Bier alle ist!"
Wütend stapfte er wieder nach oben, löschte das Lichte, tauschte die Pantinen gegen die Puschen und goss sich einen kräftigen Schluck Wachholder in eine Kaffeetasse. Warm und wohltuend rann der Schnaps durch seine Kehle und schien sich augenblicklich im gesamten Körper zu verteilen. Seine Sehnsucht nach weiblicher Sinnlichkeit vertrieb der Wachholder hingegen nicht, ganz im Gegenteil.

Er verfolgte keinen bestimmten Plan, dachte nicht nach, ging einfach in die Kammer des Mädchens. er beugte sich über die Kleine. Sie roch so gut. Er schlug die Decke zurück und hob sie vorsichtig hoch, um sie nah an der Wand wieder abzulegen. Dann legte er sich neben sie und deckte beide wieder zu. Ihre Wärme tat gut.
Er benutzte ihre Hand. Danach fühlte er sich irgendwie schäbig, aber er wischte das Gefühl beiseite. Er schlüpfte zurück in die Hose, stieg in die Puschen und schlich wieder in sein eigenes Bett, in dem er neben seiner leise schnarchenden Frau friedlich einschlummerte.

Das Mädchen in der Kammer starrte mit großen Augen an die Decke und fragte sich, aus welchem Alptraum sie gerade erwacht war oder ob das Tier, das ihr so eklig in die Hand gespuckt hatte, in Wirklichkeit bei ihr gewesen war, denn da war etwas Schleimiges an ihrer Hand und es roch nach alten Pilzen.

Als Lisbeth am nächsten Morgen in die Kammer ihrer Tochter trat, um sie zu wecken, schnauzte sie: "Was liegt die Wolldecke hier an der Erde? Wenn du dir was zum Spielen holst, musst du es auch wieder wegräumen. Und jetzt aufstehen und danach in die Waschküche zum Frischmachen."
Ingrid war totmüde und konnte kaum die Augen öffnen.
"Ich habe mir keine Decke geholt."
"Ach", erwiderte die Mutter barsch, "wer soll denn sonst eine Decke hier her gebracht haben? Der Heilige Geist?"
"Das war ein Ungeheuer.", sagte Ingrid. "Es war heute Nacht hier und hat mir in die Hand gespuckt."
"Das hast du geträumt.", sagte die Mutter. "Steh auf und wasch dich. Das treibt dir die Flausen aus dem Kopf."
Sie schlug die Decke zurück und zog an Ingrids Händen, um das Aufstehen zu beschleunigen. Sie bemerkte angetrocknete, krustige Spuren an ihrer rechten Hand.
"Was ist das denn? Hast du dir etwa gestern Abend nicht die Hände gewaschen? Oder warst du zu faul, dir zum Naseputzen ein ein Taschentuch zu holen?"
"Nein. Das war das Tier."
"Welches Tier?
"Das Ungeheuer, das mir in die Hand gespuckt hat."
"Hör auf, mich anzulügen!", herrschte Lisbeth ihre Tochter empört an. "Wahrscheinlich hast du an dir rumgespielt und dein schlechtes Gewissen hat dir böse Träume beschert. Die meisten Sünden bestraft der liebe Gott sofort. Also bleib dabei weg, sowas tut man nicht. Davon kriegt man Krankheiten und schlechte Träume. Und jetzt steh auf und wasch dich!"
Ingrid gehorchte und schwieg, auch wenn sie nicht verstand, wovon ihre Mutter sprach.

Fortsetzung folgt.

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