... newer stories
Freitag, 2. Juni 2023
Inselkoller
c. fabry, 01:01h
Ich wusste nicht warum es mich immer wieder zu dieser Insel des Grauens zog. Vielleicht, weil wir am liebsten das tun, worin wir uns auskennen. Es war ja auch schön hier. Der milde Wind, der Duft des Wattenmeeres, die bisweilen schroffen und rauen Dünen, die Abwesenheit von Autos, die vielen Tiere, die Brandung, der helle, feine Sand, die traditionellen, friesischen Häuser, die mit roten Ziegeln gepflasterten Wege, die sich immer weich und warm an den nackten Fußsohlen anfühlten, nicht nur im Sommer.
Der letzte Horrortrip lag zwanzig Jahre zurück. Die Mutter-Kind-Kur, das Mädchenpensionat für erwachsene Frauen. Lieblose Ausstattung, wenig engagiertes, semiprofessionelles Personal, absonderliches Essen zu Zeiten, die meinen Biorhythmus durcheinander brachten. Unendlich viele Regeln und leere Versprechen: Ein Schwimmbad, das man praktisch nie nutzen konnte und dann auch nur mit schlechtem Gewissen, weil das Personal endlich Feierabend haben wollte, eine Kinderbetreuung bis 17.00 Uhr, wenn man zu der Zeit noch Anwendungen hatte. Dazu haufenweise Mütter, denen ich im Alltag stets aus dem Weg ging, mit übersteuerten Kindern ohne Potential. Ja, ich weiß, das klingt menschenverachtend, aber die Erfahrung hat mich gelehrt, dass derartige Prognosen sich in 95 Prozent der Fälle bewahrheiten.
Ich hatte jedenfalls kaum Gelegenheit gehabt, Strand und Meer in vollen Zügen zu genießen. Vielleicht würde das dieses Mal anders laufen.
35 Jahre zuvor war ich als Ehrenamtliche Mitarbeiterin auf eine Jugendfreizeit mitgefahren. Schwer evangelisch war es da zugegangen. Dumm-fromme Lobpreislieder und sklavisch eingehaltene Andachts- und Gebetsrituale. 60 Teilnehmende mit erwachender Sexualität, die vor allem als strafrechtlich relevante Bedrohung wahrgenommen wurde.
Aber das alles war nicht das Schlimmste gewesen. Der alptraumhafte Leitungsstil der Jugendreferentin hatte mich für lange Zeit deutlich auf Distanz zur Kirche gehen lassen. Rauchen war nur in der Schmuddelecke am zugigen Seiteneingang erlaubt gewesen, damit die Teilnehmenden das nicht mitbekamen, ich erfülle schließlich eine Vorbildfunktion (und natürlich, damit die Raucherin sich beim Frönen ihrer Sucht auf keinen Fall wohlfühlte). Wenn ich dann rauchen ging, hagelte es Zurechtweisungen: Wo ich gewesen sei, man habe mich überall gesucht und nicht finden können, ob ich denn immerzu rauchen müsse.
Es gab hunderte von Regeln, die aber erst kommuniziert wurden, wenn man sie nicht befolgt hatte, die sogar neu erfunden wurden, um mich immer und immer wieder mit meiner Unzulänglichkeit zu konfrontieren. Der Kern des Teams bildete dabei eine meist schweigende Front gegen mich und eine weitere Mitarbeiterin, der sich die hunderte von ungeschriebenen Gesetzen ebenfalls nicht erschlossen. Die Stimmung drückte derart auf mein Gemüt, dass ich schließlich bei der Besprechung schluchzend zusammenbrach. Hier lenkte die Leitung ein, sie habe mir wohl zu viel zugemutet, offenbar sei ich überfordert. Ich hatte damals innerlich gekocht vor Wut, mich aber in Schweigen gehüllt und die Maßnahme einfach überstanden.
Die früheste Erinnerung liegt 46 Jahre zurück und von der Schönheit der Landschaft und der Architektur hatte ich damals nur einen Bruchteil zu Gesicht bekommen. Drei Wochen Ferien auf der Insel. Nur für Kinder. Wie hatte ich mich darauf gefreut. Nach den Sommerferien ging es in die vierte Klasse und vorher winkte ein Abenteuer lindgrenschen Ausmaßes.
Mit dem Reisebus ging es Richtung Anleger, lauter Jungen und Mädchen zwischen acht und zwölf Jahren, Kekse und Gummibärchen wurden herumgereicht, Vorfreude lag in der Luft. Am Anleger roch ich zum ersten Mal den Duft des Meeres: Salz, Algen, Wasser und ein Hauch von Verfall. Während der Überfahrt blickte ich ins tosende Kielwasser, danach ging es mit der Kutsche zuerst den Deich entlang und dann durch die Dünen. Umgeben von dunkelgrünen Hügeln stand die Jugendherberge, ein Koloss aus roten Ziegeln und weiß gerahmten Fenstern.
Die Zimmer waren schlicht, praktisch und eng. Sechs Mädchen im Achterzimmer verstanden sich ausgezeichnet. Ich gehörte nicht dazu. Frauke auch nicht, aber Frauke war seltsam, für kein gewöhnliches Spiel zu haben. Sie war ständig auf der Suche nach Essbarem und redete mit ihrer schwarzen Babypuppe, als sei sie lebendig und gebe Antworten. Darum war Frauke auch das Opfer im Zimmer. Ich selbst wurde nur übersehen. Besser so, als in Fraukes Rolle zu schlüpfen. Und ihre Freundin wollte ich lieber auch nicht sein.
Das Essen war entsetzlich: altes Brot, schnittfeste Marmelade, fettige Wurst, durchsichtiger Hagebuttentee. Mittags gab es meistens Salzkartoffeln mit totgekochtem Gemüse und glibberigem Fleisch. Nur Samstags matschige Nudeln und Sonntags Reis. Ich hatte immer Hunger und aß nur das Nötigste, sodass ich nicht auffiel.
Das Programm bestand aus Wandern, Ballsport und Basteln. Strandbesuche erfolgten zwei Mal wöchentlich und vom Ort bekam man gar nichts zu sehen, der war ja sechs Kilometer entfernt.
Abends wurden Gesellschaftsspiele angeboten, manchmal wurde vorgelesen. Wer sich beklagte oder nur etwas fragte, erhielt schroffe und abweisende Antworten. Außerdem riskierte man damit, ins Visier der Erzieher zu geraten. Das Beste war es, sich wegzuducken. Überall. Denn wer ins Visier der anderen Kinder geriet, war ebenfalls verraten und verkauft. Niemand griff ein, die Schwachen wurden nicht geschützt und die Täter mussten schon sehr offensichtlich zu Werke gehen, um eine Strafe zu riskieren. Man war der Ansicht, Kinder müssten lernen, Konflikte unter sich zu regeln ohne die Einmischung Erwachsener, Schwache mussten lernen, sich durchzusetzen.
Als Frauke eines Morgens leblos in ihrem Bett aufgefunden wurde, war mir klar, dass das nachts passiert sein musste, als Margit drei Mal "Halt‘s Maul!" zu Frauke hinüber gebrüllt hatte. Frauke lag im Bett mit Sintajehu, ihrer Puppe und flüsterte auf sie ein: "Nein, Sintajehu, du musst keine Angst haben, der Klabautermann holt dich nicht, du bist bei mir und ich bin in der Jugendherberge und hier lassen sie keine Gespenster rein. - Nein, der blanke Hans kommt nicht über den Deich, das passiert höchstens im Winter, vielleicht auch im Spätherbst oder im Frühjahr, aber niemals im Sommer. Das Meer ist ruhig und warm und schön."
Irgendwann reichte es Margit. Sie schlug die Decke zurück und stapfte zu Frauke. Sie trug ihr Federkissen vor sich her. "Jetzt ist Ruhe im Karton!", zischte sie und drückte Frauke das Kissen aufs Gesicht. Danach war Frauke still. Die ganze Nacht. Ich hatte gedacht, das seltsame Mädchen hätte aus Furcht geschwiegen, eingeschüchtert von der resoluten Margit. Aber Margit hatte wohl zu lange und zu fest gedrückt.
Es hieß dann, Frauke habe wohl ein schwaches Herz gehabt. Der Arzt konnte auch nichts Verdächtiges feststellen.
Die Ferien gingen noch fünf Tage. Und nun war ich das Opfer, denn Frauke war ja weg. Ich hätte Margit mit meinem Wissen erpressen können, aber dann wäre ich vielleicht die Nächste gewesen.
Wieder zu Hause hatte ich vier Kilogramm abgenommen. Ein neunjähriges, schlankes, gesundes Mädchen. Vier Kilogramm. Einfach so. Die Kinderärztin hackte nach. Die Eltern waren ratlos. Der Veranstalter wusch seine Hände in Unschuld. Bis zum Beginn des neuen Schuljahres hatte ich alles wieder drauf. Dann war es ja gut. Niemand fragte mehr nach. Und ich wollte einfach nur noch alles vergessen.
Diesmal war es anders. Eine eigene Ferienwohnung, ein einwandfreies Mietfahrrad, genug Geld in der Tasche und nur ich, die Insel und das Meer. Ich würde den schlechten Erinnerungen davonradeln, -joggen, -schwimmen, -schlemmen.
Ich schob das Rad durch die Dünen. Zu viele Fußgänger und gleich wollte ich es ohnehin abstellen. Vor dem Toilettenhäuschen saß ein älteres Paar. Sie klopfte den Sand von ihren Füßen und schimpfte: "Kreuzsakra, warum haben die auf dieser Drecksinsel immernoch keine Fußduschen?"
"Können die Bayern nicht in ihrem Freistaat bleiben?", dachte ich und sah der übelgelaunten Süddeutschen ins missmutige Gesicht. Ein Blitz durchfuhr mich. Das war SIE und plötzlich war alles wieder da: Der Schmerz, die Alpträume, das Grummeln im Magen. "Ich bin die Margit." In diesem Satz lag nicht Freundliches, Einladendes oder Zugewandtes. Es war eine schlichte Feststellung. Ich bin die Margit. Ich bin die, die den Ton abgibt. Für mich nur das Beste. Ich zuerst. Alle anderen dürfen sich hinten anstellen.
Ihr Haar hätte eigentlich grau sein müssen, das Gesicht sah so aus, das Alter betonte die ohnehin harten Züge, ihre Unerbittlichkeit, die Abwesenheit von Mitgefühl.
Der Ziegelstein leuchtete dunkelrot und warm in der Sonne. Er schien auf mich gewartet zu haben. Der Gatte verkündete:"Ich verschwinde noch mal eben, die Fischplatte drückt."
Wir waren allein. Nur die bayuvarische Margit und ich. Sie putzte noch immer an ihren peinlich pedikürten Füßen herum, völlig versunken in der Fürsorge für sich selbst. Am Scheitel des kastanienbraunen Haares schimmerte ein weißer Ansatz. Hatte ich es mir doch gedacht.
Der Stein färbte den weißen Ansatz rot. So oder so. Es war mir egal. Sie fiel vornüber und stöhnte. Ich ging auf Nummer sicher: platzierte den zweiten Hieb an der Schläfe. Den Stein schleuderte ich tief in die Büsche zwischen Weißdorn und Heckenrosen. Niemand war auf den Wegen. Welch eine glückliche Fügung des Schicksals. Ich ging. Ich war schon am Wasserturm, als ich den brüllenden Schrei ihres Witwers hörte. Nicht mein Problem das sollten Sie mal schön unter sich ausmachen.
Margit…
Schon skurril dieses Duplizität der Namen - und der Charaktereigenschaften.
Meine Tochter hatte noch immer schwerwiegende soziale Ängste. Sie war so ein fröhliches, offenes, argloses und durchweg positives Kind gewesen. Bis sie erleben musste, dass Offenheit angreifbar macht, Arglosigkeit verletzlich und dass Positivismus von zerstörerischen Charakteren als Provokation erlebt wird..
Die bayuvarische Magit war mir sofort unangenehm aufgefallen: Sie hatte zu allem etwas zu sagen, eine klare Meinung, die gefälligst nicht anzuzweifeln war, niemals ein freundliches Lächeln, nur sarkastisches Grinsen oder höhnisches Gelächter. Ihre Kinder durften alles, solange sie ihrer Mutter nicht auf die Nerven gingen, und wenn sie sich mit absoluter Selbstverständlichkeit nahmen, was sie wollten, hatten sie ihre Segen. Wenn andere sich deswegen beklagten, weil sie selbst nicht zum Zuge kamen, zuckte Margit mit den Schultern. Sollten sie doch lernen, sich durchzusetzen. Sie war bedingungslos auf der Seite ihrer Kinder, selbst wenn sie Monster waren. Dabei wirkte es nicht einmal wie Mutterliebe, im Gegenteil: ihre Kinder waren der verlängerte Arm ihres Egos. Sie war eine Krake, der mit jedem Gebären ein neuer Arm wuchs.
Vermutlich würden ihre Kinder nicht einmal um sie trauern, sondern ihr Erbe antreten, Konten auflösen, sich um Anteile streiten, Steuern hinterziehen und Erträge zählen.
Und Margits Boshaftigkeit würde in ihnen weiterleben. Bestimmt gab es schon Enkel, um die Linie fortzusetzen.
Da hätte ich es eigentlich auch der Natur überlassen können. Am nächsten Morgen nahm ich Abschied von de Horror-Insel. Für immer.
Der letzte Horrortrip lag zwanzig Jahre zurück. Die Mutter-Kind-Kur, das Mädchenpensionat für erwachsene Frauen. Lieblose Ausstattung, wenig engagiertes, semiprofessionelles Personal, absonderliches Essen zu Zeiten, die meinen Biorhythmus durcheinander brachten. Unendlich viele Regeln und leere Versprechen: Ein Schwimmbad, das man praktisch nie nutzen konnte und dann auch nur mit schlechtem Gewissen, weil das Personal endlich Feierabend haben wollte, eine Kinderbetreuung bis 17.00 Uhr, wenn man zu der Zeit noch Anwendungen hatte. Dazu haufenweise Mütter, denen ich im Alltag stets aus dem Weg ging, mit übersteuerten Kindern ohne Potential. Ja, ich weiß, das klingt menschenverachtend, aber die Erfahrung hat mich gelehrt, dass derartige Prognosen sich in 95 Prozent der Fälle bewahrheiten.
Ich hatte jedenfalls kaum Gelegenheit gehabt, Strand und Meer in vollen Zügen zu genießen. Vielleicht würde das dieses Mal anders laufen.
35 Jahre zuvor war ich als Ehrenamtliche Mitarbeiterin auf eine Jugendfreizeit mitgefahren. Schwer evangelisch war es da zugegangen. Dumm-fromme Lobpreislieder und sklavisch eingehaltene Andachts- und Gebetsrituale. 60 Teilnehmende mit erwachender Sexualität, die vor allem als strafrechtlich relevante Bedrohung wahrgenommen wurde.
Aber das alles war nicht das Schlimmste gewesen. Der alptraumhafte Leitungsstil der Jugendreferentin hatte mich für lange Zeit deutlich auf Distanz zur Kirche gehen lassen. Rauchen war nur in der Schmuddelecke am zugigen Seiteneingang erlaubt gewesen, damit die Teilnehmenden das nicht mitbekamen, ich erfülle schließlich eine Vorbildfunktion (und natürlich, damit die Raucherin sich beim Frönen ihrer Sucht auf keinen Fall wohlfühlte). Wenn ich dann rauchen ging, hagelte es Zurechtweisungen: Wo ich gewesen sei, man habe mich überall gesucht und nicht finden können, ob ich denn immerzu rauchen müsse.
Es gab hunderte von Regeln, die aber erst kommuniziert wurden, wenn man sie nicht befolgt hatte, die sogar neu erfunden wurden, um mich immer und immer wieder mit meiner Unzulänglichkeit zu konfrontieren. Der Kern des Teams bildete dabei eine meist schweigende Front gegen mich und eine weitere Mitarbeiterin, der sich die hunderte von ungeschriebenen Gesetzen ebenfalls nicht erschlossen. Die Stimmung drückte derart auf mein Gemüt, dass ich schließlich bei der Besprechung schluchzend zusammenbrach. Hier lenkte die Leitung ein, sie habe mir wohl zu viel zugemutet, offenbar sei ich überfordert. Ich hatte damals innerlich gekocht vor Wut, mich aber in Schweigen gehüllt und die Maßnahme einfach überstanden.
Die früheste Erinnerung liegt 46 Jahre zurück und von der Schönheit der Landschaft und der Architektur hatte ich damals nur einen Bruchteil zu Gesicht bekommen. Drei Wochen Ferien auf der Insel. Nur für Kinder. Wie hatte ich mich darauf gefreut. Nach den Sommerferien ging es in die vierte Klasse und vorher winkte ein Abenteuer lindgrenschen Ausmaßes.
Mit dem Reisebus ging es Richtung Anleger, lauter Jungen und Mädchen zwischen acht und zwölf Jahren, Kekse und Gummibärchen wurden herumgereicht, Vorfreude lag in der Luft. Am Anleger roch ich zum ersten Mal den Duft des Meeres: Salz, Algen, Wasser und ein Hauch von Verfall. Während der Überfahrt blickte ich ins tosende Kielwasser, danach ging es mit der Kutsche zuerst den Deich entlang und dann durch die Dünen. Umgeben von dunkelgrünen Hügeln stand die Jugendherberge, ein Koloss aus roten Ziegeln und weiß gerahmten Fenstern.
Die Zimmer waren schlicht, praktisch und eng. Sechs Mädchen im Achterzimmer verstanden sich ausgezeichnet. Ich gehörte nicht dazu. Frauke auch nicht, aber Frauke war seltsam, für kein gewöhnliches Spiel zu haben. Sie war ständig auf der Suche nach Essbarem und redete mit ihrer schwarzen Babypuppe, als sei sie lebendig und gebe Antworten. Darum war Frauke auch das Opfer im Zimmer. Ich selbst wurde nur übersehen. Besser so, als in Fraukes Rolle zu schlüpfen. Und ihre Freundin wollte ich lieber auch nicht sein.
Das Essen war entsetzlich: altes Brot, schnittfeste Marmelade, fettige Wurst, durchsichtiger Hagebuttentee. Mittags gab es meistens Salzkartoffeln mit totgekochtem Gemüse und glibberigem Fleisch. Nur Samstags matschige Nudeln und Sonntags Reis. Ich hatte immer Hunger und aß nur das Nötigste, sodass ich nicht auffiel.
Das Programm bestand aus Wandern, Ballsport und Basteln. Strandbesuche erfolgten zwei Mal wöchentlich und vom Ort bekam man gar nichts zu sehen, der war ja sechs Kilometer entfernt.
Abends wurden Gesellschaftsspiele angeboten, manchmal wurde vorgelesen. Wer sich beklagte oder nur etwas fragte, erhielt schroffe und abweisende Antworten. Außerdem riskierte man damit, ins Visier der Erzieher zu geraten. Das Beste war es, sich wegzuducken. Überall. Denn wer ins Visier der anderen Kinder geriet, war ebenfalls verraten und verkauft. Niemand griff ein, die Schwachen wurden nicht geschützt und die Täter mussten schon sehr offensichtlich zu Werke gehen, um eine Strafe zu riskieren. Man war der Ansicht, Kinder müssten lernen, Konflikte unter sich zu regeln ohne die Einmischung Erwachsener, Schwache mussten lernen, sich durchzusetzen.
Als Frauke eines Morgens leblos in ihrem Bett aufgefunden wurde, war mir klar, dass das nachts passiert sein musste, als Margit drei Mal "Halt‘s Maul!" zu Frauke hinüber gebrüllt hatte. Frauke lag im Bett mit Sintajehu, ihrer Puppe und flüsterte auf sie ein: "Nein, Sintajehu, du musst keine Angst haben, der Klabautermann holt dich nicht, du bist bei mir und ich bin in der Jugendherberge und hier lassen sie keine Gespenster rein. - Nein, der blanke Hans kommt nicht über den Deich, das passiert höchstens im Winter, vielleicht auch im Spätherbst oder im Frühjahr, aber niemals im Sommer. Das Meer ist ruhig und warm und schön."
Irgendwann reichte es Margit. Sie schlug die Decke zurück und stapfte zu Frauke. Sie trug ihr Federkissen vor sich her. "Jetzt ist Ruhe im Karton!", zischte sie und drückte Frauke das Kissen aufs Gesicht. Danach war Frauke still. Die ganze Nacht. Ich hatte gedacht, das seltsame Mädchen hätte aus Furcht geschwiegen, eingeschüchtert von der resoluten Margit. Aber Margit hatte wohl zu lange und zu fest gedrückt.
Es hieß dann, Frauke habe wohl ein schwaches Herz gehabt. Der Arzt konnte auch nichts Verdächtiges feststellen.
Die Ferien gingen noch fünf Tage. Und nun war ich das Opfer, denn Frauke war ja weg. Ich hätte Margit mit meinem Wissen erpressen können, aber dann wäre ich vielleicht die Nächste gewesen.
Wieder zu Hause hatte ich vier Kilogramm abgenommen. Ein neunjähriges, schlankes, gesundes Mädchen. Vier Kilogramm. Einfach so. Die Kinderärztin hackte nach. Die Eltern waren ratlos. Der Veranstalter wusch seine Hände in Unschuld. Bis zum Beginn des neuen Schuljahres hatte ich alles wieder drauf. Dann war es ja gut. Niemand fragte mehr nach. Und ich wollte einfach nur noch alles vergessen.
Diesmal war es anders. Eine eigene Ferienwohnung, ein einwandfreies Mietfahrrad, genug Geld in der Tasche und nur ich, die Insel und das Meer. Ich würde den schlechten Erinnerungen davonradeln, -joggen, -schwimmen, -schlemmen.
Ich schob das Rad durch die Dünen. Zu viele Fußgänger und gleich wollte ich es ohnehin abstellen. Vor dem Toilettenhäuschen saß ein älteres Paar. Sie klopfte den Sand von ihren Füßen und schimpfte: "Kreuzsakra, warum haben die auf dieser Drecksinsel immernoch keine Fußduschen?"
"Können die Bayern nicht in ihrem Freistaat bleiben?", dachte ich und sah der übelgelaunten Süddeutschen ins missmutige Gesicht. Ein Blitz durchfuhr mich. Das war SIE und plötzlich war alles wieder da: Der Schmerz, die Alpträume, das Grummeln im Magen. "Ich bin die Margit." In diesem Satz lag nicht Freundliches, Einladendes oder Zugewandtes. Es war eine schlichte Feststellung. Ich bin die Margit. Ich bin die, die den Ton abgibt. Für mich nur das Beste. Ich zuerst. Alle anderen dürfen sich hinten anstellen.
Ihr Haar hätte eigentlich grau sein müssen, das Gesicht sah so aus, das Alter betonte die ohnehin harten Züge, ihre Unerbittlichkeit, die Abwesenheit von Mitgefühl.
Der Ziegelstein leuchtete dunkelrot und warm in der Sonne. Er schien auf mich gewartet zu haben. Der Gatte verkündete:"Ich verschwinde noch mal eben, die Fischplatte drückt."
Wir waren allein. Nur die bayuvarische Margit und ich. Sie putzte noch immer an ihren peinlich pedikürten Füßen herum, völlig versunken in der Fürsorge für sich selbst. Am Scheitel des kastanienbraunen Haares schimmerte ein weißer Ansatz. Hatte ich es mir doch gedacht.
Der Stein färbte den weißen Ansatz rot. So oder so. Es war mir egal. Sie fiel vornüber und stöhnte. Ich ging auf Nummer sicher: platzierte den zweiten Hieb an der Schläfe. Den Stein schleuderte ich tief in die Büsche zwischen Weißdorn und Heckenrosen. Niemand war auf den Wegen. Welch eine glückliche Fügung des Schicksals. Ich ging. Ich war schon am Wasserturm, als ich den brüllenden Schrei ihres Witwers hörte. Nicht mein Problem das sollten Sie mal schön unter sich ausmachen.
Margit…
Schon skurril dieses Duplizität der Namen - und der Charaktereigenschaften.
Meine Tochter hatte noch immer schwerwiegende soziale Ängste. Sie war so ein fröhliches, offenes, argloses und durchweg positives Kind gewesen. Bis sie erleben musste, dass Offenheit angreifbar macht, Arglosigkeit verletzlich und dass Positivismus von zerstörerischen Charakteren als Provokation erlebt wird..
Die bayuvarische Magit war mir sofort unangenehm aufgefallen: Sie hatte zu allem etwas zu sagen, eine klare Meinung, die gefälligst nicht anzuzweifeln war, niemals ein freundliches Lächeln, nur sarkastisches Grinsen oder höhnisches Gelächter. Ihre Kinder durften alles, solange sie ihrer Mutter nicht auf die Nerven gingen, und wenn sie sich mit absoluter Selbstverständlichkeit nahmen, was sie wollten, hatten sie ihre Segen. Wenn andere sich deswegen beklagten, weil sie selbst nicht zum Zuge kamen, zuckte Margit mit den Schultern. Sollten sie doch lernen, sich durchzusetzen. Sie war bedingungslos auf der Seite ihrer Kinder, selbst wenn sie Monster waren. Dabei wirkte es nicht einmal wie Mutterliebe, im Gegenteil: ihre Kinder waren der verlängerte Arm ihres Egos. Sie war eine Krake, der mit jedem Gebären ein neuer Arm wuchs.
Vermutlich würden ihre Kinder nicht einmal um sie trauern, sondern ihr Erbe antreten, Konten auflösen, sich um Anteile streiten, Steuern hinterziehen und Erträge zählen.
Und Margits Boshaftigkeit würde in ihnen weiterleben. Bestimmt gab es schon Enkel, um die Linie fortzusetzen.
Da hätte ich es eigentlich auch der Natur überlassen können. Am nächsten Morgen nahm ich Abschied von de Horror-Insel. Für immer.
... link (0 Kommentare) ... comment
Freitag, 26. Mai 2023
Nicht mehr zu retten
c. fabry, 08:26h
Es war beinahe so, als hätten die letzten 40 Jahre nicht stattgefunden. Die Ökos aus sechs Dekaden, auf der Außenbühne Siebzigerjahre-Rock von Langhaarigen, miserabel abgemischt, überall schlurfende Indienröcke, Bier, Wein, Cola, Limo, kein alkoholfreies Bier, keine Cocktails. Pommes, Bratwurst, Pizza, Crêpes. Viel Volk auf den Naturwiesen rund um den alten Hof aus Fachwerk und roten Ziegelmauern.
Keine Neonazis, keine gepiercten Gesichter, kein Hafermilch-Macchiato, keine Seitan-Burger. Von der Bühne wurden Frieden und Lebensfreude verkündet. Nicht mehr und nicht weniger.
Wenn man sich immer zu den Revolutionären zählte, den Unkonventionellen, zur Avantgarde, den Enfants terribles und nun das zuletzt Genannte das Einzige ist, was bleibt, wenn das "please get out of the new one if you can‘t lend your hand" nicht mehr herausgeschrien wird, sondern einem zugerufen wird, dann ist das ein komisches Gefühl, wie ein Altern vor der Zeit, eine ideologische Frühvergreisung.
Ich habe doch gerade erst den Punkt in meinem Leben erreicht, von dem aus ich durchstarten wollte, um nicht zu sagen: es fehlen noch ein paar Meter.
Ich begehre immer noch auf gegen die starrsinnigen Alten, die sich eingerichtet haben und habe dabei gar nicht gemerkt, dass ich mich selbst gerade einrichte und verbissen verteidige, was ich erreicht habe.
Ich hielt mich für so besonders und ich bin so banal.
Aber dann war doch etwas anders. Luise stand da: bleich, schrill und äußerst seltsam. Ich kannte sie noch als Kindergartenkind. Sie sah mich an mit diesem Blick, der außer Hass und Wut auch Gift verspritzt. Gift, das die Seele versengt, Brandblasen hinterlässt und diffusen Schmerz.
Was hatte ich ihr getan?
Ich versuchte einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen, aber sie gönnte mir die Ruhe der unbehelligten und unbeschwerten Freizeitfrau nicht.
Ich wurde nicht schlau aus den Tiraden, die aus ihr herausbrachen. Da war die Rede von Geschlechtsrollenzuschreibung, kultureller Aneignung, Ignoranz von Hilferufen, Übersehen von Alarmsignalen - kurz ihre ganze überbordende private Not in Tateinheit mit jeder Sau, die in den letzten zwei Jahren gerade durchs Dorf getrieben wurde. Als wäre ich eine kleinbürgerliche, genderungerechte, transfeindliche, durch und durch rassistische, kulturell stecken gebliebene rechte Ratte - sozusagen das Gegenteil dessen, was ich zu sein dachte.
Und dann war ich nicht mehr. Ich sah noch die blitzende Klinge, spürte den Schmerz, der sich mehr wie ein Reißen anfühlte, ein Bersten und Platzen, dann wurde alles leiser und dunkler, dann war es still. Dann war es nicht.
Ich sah dem Treiben von außen zu, als betrachtete ich einen Film in drei D mit selbst gesteuerter Ballhausscher Kameraführung. Aufregung Luise wurde festgehalten. Jemand versuchte, mich zu retten. Zwecklos, ich war längst fort und es fühlte sich gut an. Was hätte ich auch als Lebende tun können, ratlos wie ich war? Wer konnte sie retten, diese Generation der Nervenzusammenbrüche? Ich nicht. Und jetzt schon gar nicht mehr.
Ich bin dann mal weg
Keine Neonazis, keine gepiercten Gesichter, kein Hafermilch-Macchiato, keine Seitan-Burger. Von der Bühne wurden Frieden und Lebensfreude verkündet. Nicht mehr und nicht weniger.
Wenn man sich immer zu den Revolutionären zählte, den Unkonventionellen, zur Avantgarde, den Enfants terribles und nun das zuletzt Genannte das Einzige ist, was bleibt, wenn das "please get out of the new one if you can‘t lend your hand" nicht mehr herausgeschrien wird, sondern einem zugerufen wird, dann ist das ein komisches Gefühl, wie ein Altern vor der Zeit, eine ideologische Frühvergreisung.
Ich habe doch gerade erst den Punkt in meinem Leben erreicht, von dem aus ich durchstarten wollte, um nicht zu sagen: es fehlen noch ein paar Meter.
Ich begehre immer noch auf gegen die starrsinnigen Alten, die sich eingerichtet haben und habe dabei gar nicht gemerkt, dass ich mich selbst gerade einrichte und verbissen verteidige, was ich erreicht habe.
Ich hielt mich für so besonders und ich bin so banal.
Aber dann war doch etwas anders. Luise stand da: bleich, schrill und äußerst seltsam. Ich kannte sie noch als Kindergartenkind. Sie sah mich an mit diesem Blick, der außer Hass und Wut auch Gift verspritzt. Gift, das die Seele versengt, Brandblasen hinterlässt und diffusen Schmerz.
Was hatte ich ihr getan?
Ich versuchte einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen, aber sie gönnte mir die Ruhe der unbehelligten und unbeschwerten Freizeitfrau nicht.
Ich wurde nicht schlau aus den Tiraden, die aus ihr herausbrachen. Da war die Rede von Geschlechtsrollenzuschreibung, kultureller Aneignung, Ignoranz von Hilferufen, Übersehen von Alarmsignalen - kurz ihre ganze überbordende private Not in Tateinheit mit jeder Sau, die in den letzten zwei Jahren gerade durchs Dorf getrieben wurde. Als wäre ich eine kleinbürgerliche, genderungerechte, transfeindliche, durch und durch rassistische, kulturell stecken gebliebene rechte Ratte - sozusagen das Gegenteil dessen, was ich zu sein dachte.
Und dann war ich nicht mehr. Ich sah noch die blitzende Klinge, spürte den Schmerz, der sich mehr wie ein Reißen anfühlte, ein Bersten und Platzen, dann wurde alles leiser und dunkler, dann war es still. Dann war es nicht.
Ich sah dem Treiben von außen zu, als betrachtete ich einen Film in drei D mit selbst gesteuerter Ballhausscher Kameraführung. Aufregung Luise wurde festgehalten. Jemand versuchte, mich zu retten. Zwecklos, ich war längst fort und es fühlte sich gut an. Was hätte ich auch als Lebende tun können, ratlos wie ich war? Wer konnte sie retten, diese Generation der Nervenzusammenbrüche? Ich nicht. Und jetzt schon gar nicht mehr.
Ich bin dann mal weg
... link (0 Kommentare) ... comment
Freitag, 19. Mai 2023
Lost
c. fabry, 13:06h
Sie meldete ihn als vermisst. Die Beamten am Telefon erklärten, vor Ablauf von 48 Stunden könnten sie nichts unternehmen, da seien ihnen die Hände gebunden. Sicher gebe es eine Erklärung, er komme sicher bald nach Hause. Ob sie schon die Krankenhäuser abtelefoniert habe.
Sie musste nicht so lange warten. Es dauerte nur etwa 90 Minuten.
Man hatte seine übel zugerichtete Leiche neben dem Aufzug einer U-Bahn-Station gefunden. Drei junge Männer hatten ihn so zugerichtet, mit Schlägen, Tritten, Stockhieben, Messerstichen. Sie waren sofort dingfest gemacht worden, weil sie auf der Überwachungskamera zu sehen und polizeibekannt waren.
Auf die Frage nach dem Motiv gaben alle das gleiche an: Frust. Sie hatten nirgends einen Platz, kamen nicht rein in die kultivierten Kreise, den 1. Arbeitsmarkt, die angesagten Clubs, das Café am schönsten Platz.
Wie konnte das passieren?
Warum?
Weil nichts mehr funktioniert.
Weil alle immer zuerst daran denken, wie sie den eigenen Arsch an die Wand kriegen.
Weil alle nur noch Universaldilettant:innen sind und niemand mehr etwas richtig beherrscht.
Weil alle sich so sehr verzetteln, dass sie sich auf nichts mehr konzentrieren können.
Weil der Erfolgsdruck auf allen Ebenen stetig steigt.
Weil alle möglichst viel aus ihrem Leben herausholen wollen.
Weil alle für sich möglichst viel aus dem System herausbekommen wollen.
Die Gier.
Am Ende ist es immer die Gier.
Immer.
Sie musste nicht so lange warten. Es dauerte nur etwa 90 Minuten.
Man hatte seine übel zugerichtete Leiche neben dem Aufzug einer U-Bahn-Station gefunden. Drei junge Männer hatten ihn so zugerichtet, mit Schlägen, Tritten, Stockhieben, Messerstichen. Sie waren sofort dingfest gemacht worden, weil sie auf der Überwachungskamera zu sehen und polizeibekannt waren.
Auf die Frage nach dem Motiv gaben alle das gleiche an: Frust. Sie hatten nirgends einen Platz, kamen nicht rein in die kultivierten Kreise, den 1. Arbeitsmarkt, die angesagten Clubs, das Café am schönsten Platz.
Wie konnte das passieren?
Warum?
Weil nichts mehr funktioniert.
Weil alle immer zuerst daran denken, wie sie den eigenen Arsch an die Wand kriegen.
Weil alle nur noch Universaldilettant:innen sind und niemand mehr etwas richtig beherrscht.
Weil alle sich so sehr verzetteln, dass sie sich auf nichts mehr konzentrieren können.
Weil der Erfolgsdruck auf allen Ebenen stetig steigt.
Weil alle möglichst viel aus ihrem Leben herausholen wollen.
Weil alle für sich möglichst viel aus dem System herausbekommen wollen.
Die Gier.
Am Ende ist es immer die Gier.
Immer.
... link (0 Kommentare) ... comment
Freitag, 12. Mai 2023
Und am Ende ist einer tot
c. fabry, 09:37h
"Wir sollten den Altarraum zu einer Boulder-Halle umbauen, damit lägen wir total im Trend.", meinte Hannes und blickte Beifall heischend in die Runde.
"Und in drei Jahren gibt es dann die Renaissance der Inliner und wir müssen einen Rollschuh-Parcour einbauen und die Klettergriffe in Blumenampeln verwandeln?", fragte Sylvia.
"Ich möchte einmal konstruktive Kritik von dir hören, Sylvia.", schoss Hannes zurück. "Wir brauchen tragfähige Konzepte. Du guckst immer nur auf deine Zahlen und sagst was NICHT geht. Was schlägst du denn vor?"
"Wir wollen die Kirche als Kirche retten, nicht als Bausubstanz.", erwiderte Sylvia. "Wir brauchen Vorschläge, die zu uns passen. Ein multifunkitonaler Versammlungs- und Schulungsraum, der auch mal für eine private Feier angemietet werden kann. Ein Zentrum im Stadtteil, das finde ich sinnvoll."
"Dafür braucht es keine alten Steine.", erklärte Burkhard. "Verkaufen wir den Ballast an die Mennoniten. Die scharren schon mit den Hufen und kratzen jede Summe zusammen, die wir verlangen. Mit dem Geld bauen wir eine mobile Kirche auf, die ihresgleichen sucht."
"Wir kennen dein Konzept.", stöhnte Heike. "Letztendlich ist es wieder der alte Kack im neuen Frack. Ich finde, was wir als Kirche vor allem bieten müssen, ist ein spiritueller Ort, ein Sakralraum, den viele nutzen können, auch Menschen anderer religiöser Orientierung. Auch wenn Du als Pfarrer natürlich meinst, dass wir nur für die Christ:innen da sein sollen."
"Das ist unser Auftrag.", erklärte Burkhard. "Alle einladen, aber schon zum christlichen Glauben. Ein Zen-Zentrum wird unser Dom sicherlich nicht. Das würde die Landeskirche niemals genehmigen. Aber davon abgesehen ist es typisch deutsch, immer nur in Steine zu investieren, statt in Menschen. Mobile Kleinstkirchen, gemütlich ausgestattete Bullis, in denen Kleingruppen sich treffen oder von denen aus man Open-Air-Veranstatlungen in Wohngebieten organisieren kann, mit denen man Spielzeug für Kinder herumfährt und vieles mehr. Das käme einmal im Lokalfernsehen und innerhalb kürzester Zeit würde das Schule machen. Wie Pilze würden die mobilen Kirchen aus dem Boden schießen und wachsen und Gemeinde würde sich ganz neu erfinden."
"Wir kennen deine Ausführungen auswendig, Burkhard." schaltete Sylvia sich ein. "Da stecken wir einmal das ganze Geld rein und dann ist es weg. Die Bullis vergammeln und die Personalkosten ruinieren uns final. Das hat keine Perspektive und das wird ebensowenig von der Landeskirche abgenickt wie Kletterhallen oder Zen-Zentren. Und jetzt will ich hier keine spinnerten Hobby-Lobbyisten mehr hören, jetzt will ich tragfähige Ideen, mit denen wir unsere Kirche retten und unsere Gemeinde am Leben halten."
"Auf jeden Fall brauchen wir Platz.", meinte Hannes. "Entkernen und für viel neutralen Raum sorgen. Das macht uns flexibel und die Kirche vielfältig nutzbar."
"Dem schließe ich mich an.", meinte Heike. "Wir sind ja nicht katholisch. Schmucklose Nüchternheit, klare Linien, helle, warme Farben."
"Sonnengelb-Orange?", unkte Burkhard.
"Warum nicht?", keifte Heike. "Kalt und dunkel ist es in den meisten Kirchen. Und in Taizé bedient man sich auch der warmen Töne."
"Das kommt von den vielen Kerzen.", meinte Hannes. "Die sollten wir aber abschaffen. Das belastet die Atemluft. Und wenn sich Leute in den Räumen bewegen wollen, dann..."
"Kein Fitness-Palast!", unterbrach ihn Sylvia. "Aber Entkernung und Multifunktionalität, das ist doch schon mal ein Konsens. Ich beauftrage Herrn Höhne für einen Entwurf, dann..."
"...sieht die Kirche aus wie alle Gemeindehäuser im Umkreis von fünfzig Kilometern", fiel ihr nun Hannes ins Wort. "Ich kenne einen tollen Architekten, der würde uns kostenlos einen groben Vorschlag ausarbeiten. Da hätten wir eine Alternative."
"Gut.", meinte Sylvia. "Frag ihn. Ich bestelle trotzdem bei Höhne, der kennt wenigstens unsere Erfordernisse. Was nützt uns der beste Look, wenn nichts funktioniert? Wir können die Vorschläge ja dann vergleichen. Und jetzt würde ich gern ein Vaterunser beten und nach Hause gehen."
Zwei Stunden später war Sylvia noch immer nicht zu Hause angekommen. Sie war nicht im Gemeindehaus. Als ihr Mann sie suchte, fand er sie wenige hundert Meter vom Grundstück entfernt mit blutigem Schädel am Rande einer Blumenwiese.
Burkhard bebte vor Vorfreude. Die lästige Kirchmeisterin würde seinen reformatorischen Plänen nun nicht mehr im Wege stehen. Die anderen Schwachmaten im Presbyterium waren alle viel zu sehr mit ihrer persönliche Work-Life-Balance und ihrer Selbstdarstellung beschäftigt, die setzten nichts durch und konnten sich auf nichts einigen. Er würde einfach das fertige Konzept vorlegen und absegnen lassen. Besser eine Frau bleibt auf der Strecke, als eine ganze Gemeinde.
Der Ziegelstein lag in der Mulde der Baufirma, zusammen mit seinen zerlatschten Sandalen. Die würde morgen Früh abgeholt. Das alte T-Shirt und die Kordhose verkohlten mit den Socken im Kaminofen. Die eigene Haut weichte in der Badewanne ein mit Olivenseife und Lavendelbad. Er wusch seinen ganzen Leib in Unschuld. Eliah hatte 400 Baalspriester erschlagen. Er nur eine renitente Kirchmeisterin. Der Herr würde ihm vergeben.
"Und in drei Jahren gibt es dann die Renaissance der Inliner und wir müssen einen Rollschuh-Parcour einbauen und die Klettergriffe in Blumenampeln verwandeln?", fragte Sylvia.
"Ich möchte einmal konstruktive Kritik von dir hören, Sylvia.", schoss Hannes zurück. "Wir brauchen tragfähige Konzepte. Du guckst immer nur auf deine Zahlen und sagst was NICHT geht. Was schlägst du denn vor?"
"Wir wollen die Kirche als Kirche retten, nicht als Bausubstanz.", erwiderte Sylvia. "Wir brauchen Vorschläge, die zu uns passen. Ein multifunkitonaler Versammlungs- und Schulungsraum, der auch mal für eine private Feier angemietet werden kann. Ein Zentrum im Stadtteil, das finde ich sinnvoll."
"Dafür braucht es keine alten Steine.", erklärte Burkhard. "Verkaufen wir den Ballast an die Mennoniten. Die scharren schon mit den Hufen und kratzen jede Summe zusammen, die wir verlangen. Mit dem Geld bauen wir eine mobile Kirche auf, die ihresgleichen sucht."
"Wir kennen dein Konzept.", stöhnte Heike. "Letztendlich ist es wieder der alte Kack im neuen Frack. Ich finde, was wir als Kirche vor allem bieten müssen, ist ein spiritueller Ort, ein Sakralraum, den viele nutzen können, auch Menschen anderer religiöser Orientierung. Auch wenn Du als Pfarrer natürlich meinst, dass wir nur für die Christ:innen da sein sollen."
"Das ist unser Auftrag.", erklärte Burkhard. "Alle einladen, aber schon zum christlichen Glauben. Ein Zen-Zentrum wird unser Dom sicherlich nicht. Das würde die Landeskirche niemals genehmigen. Aber davon abgesehen ist es typisch deutsch, immer nur in Steine zu investieren, statt in Menschen. Mobile Kleinstkirchen, gemütlich ausgestattete Bullis, in denen Kleingruppen sich treffen oder von denen aus man Open-Air-Veranstatlungen in Wohngebieten organisieren kann, mit denen man Spielzeug für Kinder herumfährt und vieles mehr. Das käme einmal im Lokalfernsehen und innerhalb kürzester Zeit würde das Schule machen. Wie Pilze würden die mobilen Kirchen aus dem Boden schießen und wachsen und Gemeinde würde sich ganz neu erfinden."
"Wir kennen deine Ausführungen auswendig, Burkhard." schaltete Sylvia sich ein. "Da stecken wir einmal das ganze Geld rein und dann ist es weg. Die Bullis vergammeln und die Personalkosten ruinieren uns final. Das hat keine Perspektive und das wird ebensowenig von der Landeskirche abgenickt wie Kletterhallen oder Zen-Zentren. Und jetzt will ich hier keine spinnerten Hobby-Lobbyisten mehr hören, jetzt will ich tragfähige Ideen, mit denen wir unsere Kirche retten und unsere Gemeinde am Leben halten."
"Auf jeden Fall brauchen wir Platz.", meinte Hannes. "Entkernen und für viel neutralen Raum sorgen. Das macht uns flexibel und die Kirche vielfältig nutzbar."
"Dem schließe ich mich an.", meinte Heike. "Wir sind ja nicht katholisch. Schmucklose Nüchternheit, klare Linien, helle, warme Farben."
"Sonnengelb-Orange?", unkte Burkhard.
"Warum nicht?", keifte Heike. "Kalt und dunkel ist es in den meisten Kirchen. Und in Taizé bedient man sich auch der warmen Töne."
"Das kommt von den vielen Kerzen.", meinte Hannes. "Die sollten wir aber abschaffen. Das belastet die Atemluft. Und wenn sich Leute in den Räumen bewegen wollen, dann..."
"Kein Fitness-Palast!", unterbrach ihn Sylvia. "Aber Entkernung und Multifunktionalität, das ist doch schon mal ein Konsens. Ich beauftrage Herrn Höhne für einen Entwurf, dann..."
"...sieht die Kirche aus wie alle Gemeindehäuser im Umkreis von fünfzig Kilometern", fiel ihr nun Hannes ins Wort. "Ich kenne einen tollen Architekten, der würde uns kostenlos einen groben Vorschlag ausarbeiten. Da hätten wir eine Alternative."
"Gut.", meinte Sylvia. "Frag ihn. Ich bestelle trotzdem bei Höhne, der kennt wenigstens unsere Erfordernisse. Was nützt uns der beste Look, wenn nichts funktioniert? Wir können die Vorschläge ja dann vergleichen. Und jetzt würde ich gern ein Vaterunser beten und nach Hause gehen."
Zwei Stunden später war Sylvia noch immer nicht zu Hause angekommen. Sie war nicht im Gemeindehaus. Als ihr Mann sie suchte, fand er sie wenige hundert Meter vom Grundstück entfernt mit blutigem Schädel am Rande einer Blumenwiese.
Burkhard bebte vor Vorfreude. Die lästige Kirchmeisterin würde seinen reformatorischen Plänen nun nicht mehr im Wege stehen. Die anderen Schwachmaten im Presbyterium waren alle viel zu sehr mit ihrer persönliche Work-Life-Balance und ihrer Selbstdarstellung beschäftigt, die setzten nichts durch und konnten sich auf nichts einigen. Er würde einfach das fertige Konzept vorlegen und absegnen lassen. Besser eine Frau bleibt auf der Strecke, als eine ganze Gemeinde.
Der Ziegelstein lag in der Mulde der Baufirma, zusammen mit seinen zerlatschten Sandalen. Die würde morgen Früh abgeholt. Das alte T-Shirt und die Kordhose verkohlten mit den Socken im Kaminofen. Die eigene Haut weichte in der Badewanne ein mit Olivenseife und Lavendelbad. Er wusch seinen ganzen Leib in Unschuld. Eliah hatte 400 Baalspriester erschlagen. Er nur eine renitente Kirchmeisterin. Der Herr würde ihm vergeben.
... link (0 Kommentare) ... comment
... older stories