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Samstag, 29. Oktober 2022
Die Wut - ein Antikrimi
c. fabry, 19:06h
Sie war so voller Wut. So wütend war sie nie gewesen. Diese unendliche Summe an Untaten, Verfehlungen, Gemeinheiten, Herabwürdigungen, Demütigungen, die sie und andere ertragen mussten. Sie sammelten sich zu einem lodernden Feuer, das immer neue Nahrung bekommen hatte und jetzt so lichterloh in ihr brannte, dass es drohte zu explodieren.
Es war Abscheu auf den ersten Blick gewesen. Er hatte den Raum betreten und sie hatte sofort gedacht: Auf gar keinen Fall! Was für ein schrecklicher Mensch! Einer von diesen machthungrigen, Verstand-befreiten Emporkömmlingen, die andere Menschen benutzen als Trittsteine, Starthilfen, Verbrauchsmaterial, Nahrung, um sich selbst stärker zu machen, sich aufzuwerten, Punkte zu sammeln und nach oben zu kommen auf der sozialen Leiter. So einer war er. Sie hatte das auf den ersten Blick erkannt, an seiner Körperhaltung, dem Ausdruck seiner Augen, dem Zug um seinen Mund - Hässlich war er auch: aufgeschwemmt, verlebt, unsportlich - alles, was sie nicht gern hatte.
Er hatte geworben für seine vermeintlich innovativen Ideen. Viele blieben skeptisch, stellten Fragen, blieben nachdenklich, zauderten, wollten abwarten, erbaten sich Bedenkzeit; einige preschten vor, wollten aufspringen auf diesen Zug, wollten auch einen Anteil von dem Ertrag für sich einstreichen, den diese Innovation mit sich bringen sollte, aber sie wusste sofort, dass es falsch war. Sie war nicht skeptisch, sondern klar und entschieden zu dem Schluss gelangt, dass hier jemand Bauernfängerei betrieb, dass sein Handeln nicht von den gemeinnützigen Idealen geleitet wurde, die er vorgab verinnerlicht zu haben, dass er nur eines im Sinn hatte: seinen Erfolg, seine Karriere, die stetige Erweiterung seines Handlungsspielraums, seinen Ruhm, sein Vermächtnis.
Und mal wieder waren alle auf dem besten Wege, ihm auf den Leim zu gehen; sogar die Kritischen und Skeptischen, weil sie sich überzeugen ließen von seinen "alternativlosen" Lösungsansätzen. "Wenn wir Personal und Einsatzbereiche zusammenführen, sind wir flexibler, können wir Stellen sichern, verliert niemand seine Arbeit."
"Was für ein Gewäsch!", dachte sie. "Die Anzahl der Stellen erhöht sich ja nicht. Es ist nur viel einfacher, die Menschen hin und her zu schieben, dahin, wo man sie gerade braucht. Sie sind dann leichter von oben zu steuern."
Diese zentralistische Reorganisation mit zahlreichen Hebeln zur Steuerung lag im Trend und wurde überall vorangetrieben, statt den Dingen ihren Lauf zu lassen, statt Kleinräumlichkeit und Vielfalt zu bewahren und darauf zu achten, dass jede Einheit sich optimal entwickeln konnte. Sie war sehr für Vernetzung, für kollegialen Austausch, Zusammenarbeit, das war ja alles richtig. Und natürlich war dies einfacher umzusetzen, wenn man die Einheiten zusammenfasste unter einem Dienstherrn.
Man hätte auch in dezentraler Struktur vernünftige Absprachen zur Zusammenarbeit treffen können, aber ein solches Vorgehen war nicht erwünscht, es sollte jetzt schnell voran gehen, alles andere seien halbe Sachen, da käme nichts bei heraus und so ließ sich nach und nach einer nach dem anderen breitschlagen. Das Ende vom Lied war, dass der, von dem sie von Anfang an gewusst hatte, dass er nicht gut für sie war und auch nicht für alle anderen, sich an die Spitze geputscht hatte, gelogen, betrogen, mit Schmeicheleien eingeschläfert, wie auch immer und war nun ihr aller Vorgesetzter.
Sie nahm sich vor, es auszuhalten, es auszusitzen. Sie wusste genau: irgendwann erledigen sich solche machthungrigen Blender von allein. Irgendwann offenbaren sie ihre Inkompetenz, ihre Machtgier, ihre Ineffektivität und ihre Unredlichkeit. Und dann werden sie entfernt. Leider dauert das manchmal sehr lange und es bleiben viele, viele auf der Strecke. Viele Opfer, Leichen, die ihre Wege pflastern. Darum ist es schon noch wichtig , solche Leute zu verhindern, aber wenn man es dann nicht geschafft hat, ist es so wie es ist und man muss abwarten, was passiert. Und sie wartete ab, hielt sich bedeckt, still, bescheiden, tat, was man von ihr verlangte. Wenn die Anforderungen unrealistisch waren, gab sie vorsichtig zu bedenken, dass hier eine Grenze überschritten würde und so kam sie ganz gut durch.
Doch dann änderte sich die Sachlage und es kam zu kruden Umstrukturierungen mit völlig fragwürdigen Umbesetzungen. Sie musste, um personelle Unzulänglichkeiten ausgleichen, vieles neu organisieren und Raubbau an der eigenen Gesundheit betreiben.
Schließlich holte der Chef sich Verstärkung, hielt sich das lästige Kleinklein mit den hauptamtlich Mitarbeitenden vom Leib und delegierte es an eine Untergebene. Die war schlimmer, als alles, was man sich vorstellen konnte. Noch inkompetenter, noch grausamer im Umgang mit den Mitarbeitenden, eine Nullnummer in Personalführung auf dem Stand von 1955. Es war eine Katastrophe. Und irgendwie gab es aus dieser Situation scheinbar kein Entrinnen. Es blieben Leute auf der Strecke. Kolleginnen und Kollegen wurden krank, verloren ihren Arbeitsplatz durch fingierte Vorwürfe, manipulierte Beweise; man entledigte sich der teuren und unliebsamen Mitarbeitenden, die nicht so flexibel einsetzbar waren, wie man es gerne hätte. Mit manchen wurde man hingegen nicht fertig, mit den ganz Renitenten, denn das hätte ja auch Kraft gekostet und Durchhaltevermögen, das keiner von beiden wirklich aufbrachte.
Und dann war das Kapitel irgendwann beendet. Sie hatten die Karre in den Dreck gefahren, keiner hatte mehr Lust. Das, was noch übrig war, wurde abgewickelt und am Ende stand sie da mit Kollegen, mit denen man nicht im Team arbeiten konnte, vor einem Haufen Scherben und versuchte das Beste draus zu machen, wie sie es immer getan hatte.
Aber sie war zornig. Zornig über die verlorenen Kolleginnen und Kollegen, mit denen sie gerne weiter gearbeitet hätte. Zornig über das Chaos und die krisenhaften Finanzen, die dieses Führungsduo hinterlassen hatte.
Die Wut wuchs. Und wenn es dabei geblieben wäre, hätte man gesagt, na ja, das war eine Fehlentwicklung, das werden wir irgendwann überwunden haben, das arbeiten wir alles wieder weg. Wenn wir jetzt mit guten Leuten weiter machen, dann geht es voran und alles wird sich wieder einspielen.
Es war auch so. Es wurde alles immer besser. Es gab Menschen, mit denen man zusammenarbeiten durfte, die vernünftig waren und die auch Lust auf die Arbeit hatten. Es gab einen Vorgesetzten, der unterstützte, begleitete, Verantwortung übernahm und auch mal Entscheidungen traf, da wo es erforderlich war, aber sie hatte die Rechnung ohne die Boshaftigkeit des mittlerweile Verbannten gemacht. Der hatte sich eigentlich aufs Altenteil zurückgezogen und wäre auch nicht wieder aufgetaucht. Doch er war ein Mensch, für den Bedeutungslosigkeit nicht infrage kam. Er hatte die Kontakte aufrechterhalten zu den Größen der Wirtschaft, mit denen man ja angeblich so viel bewegen konnte, für die Menschen. Und plötzlich stand er wieder vor ihr. Als großartiger Förderer innovativer Projekte und das wurde nun an alle herangetragen: "Seid Leuchtfeuer, Fackeln auf dem Weg in die Zukunft, wir sagen euch, wie es geht. Wir stellen die Bedingungen, ihr bekommt von uns das Geld."
Nun hätte man ja sagen können: "Pah! Nein, wir machen da nicht mit. Wir suchen uns lieber andere Geldgeber, die Projekte bezuschussen oder wir geben uns zufrieden mit dem Geld, was zur Verfügung steht und arbeiten damit."
Das wäre ja auch möglich gewesen. Aber da hatte sie die Rechnung ohne die Gier der Stadtkämmerer gemacht. Hier war man begeistert, dass es ein Potential gab, öffentliche Mittel einzusparen. Die Zuschüsse wurden gekürzt, mit dem Hinweis, man könne sich ja mit einem Projekt bei diesem neuen Geldgeber bewerben. Wieder einmal war es so weit und das Kapital hatte die Stadt fest im Würgegriff. Alle schwärmten von Effizienz, sangen das alte neoliberale Lied von dem Nutzen für alle, wenn es den großen Wirtschaftskräften gut geht.
Und nun stand sie da. Sie hatte immer eine Arbeit vorangetrieben, die auf Bescheidenheit fußte, auf Kreativität und Geborgenheit, im kleinen, überschaubaren Rahmen. Keine irrsinnigen Risiken war sie eingegangen. Sie hatte immer im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten aus dem, was zur Verfügung stand, so viel wie möglich gemacht. Aber sie war nie gut darin gewesen, Finanzquellen aufzutun. Und jetzt war sie gezwungen, bei dieser Organisation um Geld zu betteln. Ohne diesen Zuschuss konnte ihre Stelle nicht länger finanziert werden. Sie hatte aber noch ein paar Dienstjahre vor sich. Wenn sie jetzt arbeitslos würde, würde es eng mit der Rente. Also setzte sie sich mit ein paar Leuten zusammen, überlegte anhand der Förder-Kriterien eine Strategie und stellte am Ende einen Antrag, den sie ziemlich passabel fand.
Doch er warf ihr, wie schon so viele Male zuvor, Knüppel zwischen die Beine. Das war nicht das, was er wollte, das war nicht das, was die Geldgeber wollten. Das war viel zu sehr, viel zu nah an den Bedürfnissen der Klientel und kam den Interessen der Geldgeber nicht so wirklich entgegen. Es wurde abgelehnt. Und der Anstellungsträger wurde säuerlich, einsilbig, verärgert und legte ihr nahe, sich nach einem neuen Betätigungsfeld umzusehen. Dann wurde nach Gründen gesucht, die ihre Unzuverlässigkeit oder Vertrauenswürdigkeit infrage stellten und wenn man lange genug gräbt, findet man immer irgendetwas. Und so fanden sie auch was. Unsaubere Kassenführung, einen Mangel an professioneller Distanz in den ersten Berufsjahren - das schien plötzlich auszureichen, um ihr das Vertrauen zu entziehen.
Nun, nach so vielen Jahren, in denen sie sich aufgerieben hatte, indem sie immer mitgespielt hatte, stand sie da und hatte nichts mehr.
Die Wut wuchs und sie wurde zu einer wahren Feuersbrunst, zu einem stürmischen Waldbrand. Und so verbrachte sie Tage und Nächte in ihrer kleinen Wohnung, lief unruhig durch die Zimmer und irgendwann stand der Plan. Er sollte es wissen, wer ihn in den Abgrund stürzte, aber er sollte keine Gelegenheit haben, das irgendjemandem mitzuteilen. Und das war das Stichwort: der Abgrund.
Es gab eine Veranstaltung, von der sie in der Zeitung gelesen hatte, an einem Steinbruch, dort gab es ein Klettersportangebot, heiße Getränke, Stände...
Sie zog sich unauffällig an, sehr untypisch, so wie sie normalerweise nie in der Öffentlichkeit auftrat. So hatte sie sich bis zur Unkenntlichkeit verkleidet und schlich dort herum, auf dem Fest und wurde auch tatsächlich von niemandem erkannt, als trüge sie einen Tarnumhang. Und dann stand er ziemlich nah am Abgrund, war mit seinen Gedanken beschäftigt, hielt ein Glas Bier in der Hand, ließ den Blick schweifen, mit sich zufrieden, so wie sie ihn kannte. Es wäre ein leichtes gewesen, ihm einfach einen Schubs zu geben und er wäre abgestürzt und sie hätte sich davonschleichen können, niemand wäre auf die Idee gekommen, dass er gestoßen wurde, alle hätten gedacht, was steht er auch so nah am Rand.
Aber dann sprach da etwas in ihr, das sagte: "Das hilft dir nicht. Du bist danach immer noch arbeitslos. Und die, die unter ihm gelitten haben, die werden nicht entschädigt. Und statt dass es dir hilft, nimmt deine Seele Schaden. Du wirst das mit dir herumtragen. Mord macht mieses Karma. Und dann hat er den Rest deines Lebens Macht über dich. Du kannst dich dieser Macht nicht mehr entledigen. Du kannst ihm auch nichts mehr ins Gesicht schleudern und ihm nicht die Meinung geigen. Du kannst ihn nicht mehr demütigen, ihm nicht mehr wehtun und es stehen zehn andere bereit, die gerne seine Position bekleiden. Wahrscheinlich ist einer schlimmer als der andere. Du richtest deine Wut gegen das Falsche. Es ist nicht dieser alte, abgehalfterte Chef, der dein Feind ist. Es sind nicht die reichen Industriellen, die versuchen, alles an sich zu raffen, die deine Feinde sind. Es sind die Verhältnisse, die Umstände. Nicht die Täter sind deine Feinde, sondern die Taten und deren Folgen.
Deine Wut ist eine unbändige Energie. Wie wäre es wohl, wenn du sie nicht unterdrücktest, sondern heraus ließest und sie in die Welt brächtest, aber nicht als destruktives Element, das sich gegen Menschen oder Gegenstände richtet oder in wehleidigem Genörgel verpuffend die Nerven deiner Mitmenschen malträtiert. So wie Wind, der sinnlos weht und nichts bewegt und einfach verpufft, so ist auch deine Wut, ein Sturm der Entrüstung, der zu nichts führt, der sich in nichts verliert, selbst dann, wenn du auf etwas triffst, das du umpustest. Dann wirst du nur schwächer und es kommt nichts dabei heraus.
Wenn diese unbändige Kraft, diese glühende Energie, die die Wut unweigerlich mit sich bringt, eine Transformation erlebte, wenn der Sturm des Zorns aufgefangen würde von den Rotorblättern des Gehirns, dort verarbeitet würde zu konstruktiven Ideen, kraftvollem Antrieb, ungebremster Tatkraft. Wenn sich dein Zorn nicht gegen Täter richtete, sondern gegen Taten und vor allem gegen deren Folgen.
Richte den Zorn gegen die Verhältnisse. Unterstütze die, die unter diesen Umständen gelitten haben. Tut euch zusammen, redet miteinander, tröstet euch gegenseitig, backt Kuchen, trinkt Kaffee, tut ganz viel dafür, dass es euch gut geht, damit ihr stärker werdet.
Und der zweite Schritt, der eigentlich der Wichtigere ist, besteht nicht im Lindern des erlittenen Leides sondern im Verhindern. Trag deinen Teil dazu bei, dass so etwas nicht wieder passiert. Nein, du kannst die fiesen Kapitalisten nicht ausbremsen, die Geld verdienen wollen und dabei über Leichen gehen. Du kannst aber dafür sorgen, dass eine neue Generation heran wächst. Du kannst nicht alles schaffen. Aber anstelle von hundert fiesen Kapitalisten gibt es am Ende deines Lebens dann vielleicht nur noch achtzig. Und wenn noch mehr Leute ihre Wut in einer derartig konstruktiven Weise transformieren, dann hat das Böse keine Chance mehr. Denk da mal drüber nach."
Und das tat sie. Sie ging nach Hause und schrieb einen riesigen Stapel an Initiativ-Bewerbungen, bis sie dann doch am Ende wieder eine Stelle fand und sie rettete die, die litten, es schwer hatten und nicht genug gefördert wurden, damit aus ihnen keine frustrierten, armseligen, bösartigen Geschöpfe wurden. Kein Mord, sondern Liebe, das einzige Mittel, das Böse am Ende zu besiegen.
Es war Abscheu auf den ersten Blick gewesen. Er hatte den Raum betreten und sie hatte sofort gedacht: Auf gar keinen Fall! Was für ein schrecklicher Mensch! Einer von diesen machthungrigen, Verstand-befreiten Emporkömmlingen, die andere Menschen benutzen als Trittsteine, Starthilfen, Verbrauchsmaterial, Nahrung, um sich selbst stärker zu machen, sich aufzuwerten, Punkte zu sammeln und nach oben zu kommen auf der sozialen Leiter. So einer war er. Sie hatte das auf den ersten Blick erkannt, an seiner Körperhaltung, dem Ausdruck seiner Augen, dem Zug um seinen Mund - Hässlich war er auch: aufgeschwemmt, verlebt, unsportlich - alles, was sie nicht gern hatte.
Er hatte geworben für seine vermeintlich innovativen Ideen. Viele blieben skeptisch, stellten Fragen, blieben nachdenklich, zauderten, wollten abwarten, erbaten sich Bedenkzeit; einige preschten vor, wollten aufspringen auf diesen Zug, wollten auch einen Anteil von dem Ertrag für sich einstreichen, den diese Innovation mit sich bringen sollte, aber sie wusste sofort, dass es falsch war. Sie war nicht skeptisch, sondern klar und entschieden zu dem Schluss gelangt, dass hier jemand Bauernfängerei betrieb, dass sein Handeln nicht von den gemeinnützigen Idealen geleitet wurde, die er vorgab verinnerlicht zu haben, dass er nur eines im Sinn hatte: seinen Erfolg, seine Karriere, die stetige Erweiterung seines Handlungsspielraums, seinen Ruhm, sein Vermächtnis.
Und mal wieder waren alle auf dem besten Wege, ihm auf den Leim zu gehen; sogar die Kritischen und Skeptischen, weil sie sich überzeugen ließen von seinen "alternativlosen" Lösungsansätzen. "Wenn wir Personal und Einsatzbereiche zusammenführen, sind wir flexibler, können wir Stellen sichern, verliert niemand seine Arbeit."
"Was für ein Gewäsch!", dachte sie. "Die Anzahl der Stellen erhöht sich ja nicht. Es ist nur viel einfacher, die Menschen hin und her zu schieben, dahin, wo man sie gerade braucht. Sie sind dann leichter von oben zu steuern."
Diese zentralistische Reorganisation mit zahlreichen Hebeln zur Steuerung lag im Trend und wurde überall vorangetrieben, statt den Dingen ihren Lauf zu lassen, statt Kleinräumlichkeit und Vielfalt zu bewahren und darauf zu achten, dass jede Einheit sich optimal entwickeln konnte. Sie war sehr für Vernetzung, für kollegialen Austausch, Zusammenarbeit, das war ja alles richtig. Und natürlich war dies einfacher umzusetzen, wenn man die Einheiten zusammenfasste unter einem Dienstherrn.
Man hätte auch in dezentraler Struktur vernünftige Absprachen zur Zusammenarbeit treffen können, aber ein solches Vorgehen war nicht erwünscht, es sollte jetzt schnell voran gehen, alles andere seien halbe Sachen, da käme nichts bei heraus und so ließ sich nach und nach einer nach dem anderen breitschlagen. Das Ende vom Lied war, dass der, von dem sie von Anfang an gewusst hatte, dass er nicht gut für sie war und auch nicht für alle anderen, sich an die Spitze geputscht hatte, gelogen, betrogen, mit Schmeicheleien eingeschläfert, wie auch immer und war nun ihr aller Vorgesetzter.
Sie nahm sich vor, es auszuhalten, es auszusitzen. Sie wusste genau: irgendwann erledigen sich solche machthungrigen Blender von allein. Irgendwann offenbaren sie ihre Inkompetenz, ihre Machtgier, ihre Ineffektivität und ihre Unredlichkeit. Und dann werden sie entfernt. Leider dauert das manchmal sehr lange und es bleiben viele, viele auf der Strecke. Viele Opfer, Leichen, die ihre Wege pflastern. Darum ist es schon noch wichtig , solche Leute zu verhindern, aber wenn man es dann nicht geschafft hat, ist es so wie es ist und man muss abwarten, was passiert. Und sie wartete ab, hielt sich bedeckt, still, bescheiden, tat, was man von ihr verlangte. Wenn die Anforderungen unrealistisch waren, gab sie vorsichtig zu bedenken, dass hier eine Grenze überschritten würde und so kam sie ganz gut durch.
Doch dann änderte sich die Sachlage und es kam zu kruden Umstrukturierungen mit völlig fragwürdigen Umbesetzungen. Sie musste, um personelle Unzulänglichkeiten ausgleichen, vieles neu organisieren und Raubbau an der eigenen Gesundheit betreiben.
Schließlich holte der Chef sich Verstärkung, hielt sich das lästige Kleinklein mit den hauptamtlich Mitarbeitenden vom Leib und delegierte es an eine Untergebene. Die war schlimmer, als alles, was man sich vorstellen konnte. Noch inkompetenter, noch grausamer im Umgang mit den Mitarbeitenden, eine Nullnummer in Personalführung auf dem Stand von 1955. Es war eine Katastrophe. Und irgendwie gab es aus dieser Situation scheinbar kein Entrinnen. Es blieben Leute auf der Strecke. Kolleginnen und Kollegen wurden krank, verloren ihren Arbeitsplatz durch fingierte Vorwürfe, manipulierte Beweise; man entledigte sich der teuren und unliebsamen Mitarbeitenden, die nicht so flexibel einsetzbar waren, wie man es gerne hätte. Mit manchen wurde man hingegen nicht fertig, mit den ganz Renitenten, denn das hätte ja auch Kraft gekostet und Durchhaltevermögen, das keiner von beiden wirklich aufbrachte.
Und dann war das Kapitel irgendwann beendet. Sie hatten die Karre in den Dreck gefahren, keiner hatte mehr Lust. Das, was noch übrig war, wurde abgewickelt und am Ende stand sie da mit Kollegen, mit denen man nicht im Team arbeiten konnte, vor einem Haufen Scherben und versuchte das Beste draus zu machen, wie sie es immer getan hatte.
Aber sie war zornig. Zornig über die verlorenen Kolleginnen und Kollegen, mit denen sie gerne weiter gearbeitet hätte. Zornig über das Chaos und die krisenhaften Finanzen, die dieses Führungsduo hinterlassen hatte.
Die Wut wuchs. Und wenn es dabei geblieben wäre, hätte man gesagt, na ja, das war eine Fehlentwicklung, das werden wir irgendwann überwunden haben, das arbeiten wir alles wieder weg. Wenn wir jetzt mit guten Leuten weiter machen, dann geht es voran und alles wird sich wieder einspielen.
Es war auch so. Es wurde alles immer besser. Es gab Menschen, mit denen man zusammenarbeiten durfte, die vernünftig waren und die auch Lust auf die Arbeit hatten. Es gab einen Vorgesetzten, der unterstützte, begleitete, Verantwortung übernahm und auch mal Entscheidungen traf, da wo es erforderlich war, aber sie hatte die Rechnung ohne die Boshaftigkeit des mittlerweile Verbannten gemacht. Der hatte sich eigentlich aufs Altenteil zurückgezogen und wäre auch nicht wieder aufgetaucht. Doch er war ein Mensch, für den Bedeutungslosigkeit nicht infrage kam. Er hatte die Kontakte aufrechterhalten zu den Größen der Wirtschaft, mit denen man ja angeblich so viel bewegen konnte, für die Menschen. Und plötzlich stand er wieder vor ihr. Als großartiger Förderer innovativer Projekte und das wurde nun an alle herangetragen: "Seid Leuchtfeuer, Fackeln auf dem Weg in die Zukunft, wir sagen euch, wie es geht. Wir stellen die Bedingungen, ihr bekommt von uns das Geld."
Nun hätte man ja sagen können: "Pah! Nein, wir machen da nicht mit. Wir suchen uns lieber andere Geldgeber, die Projekte bezuschussen oder wir geben uns zufrieden mit dem Geld, was zur Verfügung steht und arbeiten damit."
Das wäre ja auch möglich gewesen. Aber da hatte sie die Rechnung ohne die Gier der Stadtkämmerer gemacht. Hier war man begeistert, dass es ein Potential gab, öffentliche Mittel einzusparen. Die Zuschüsse wurden gekürzt, mit dem Hinweis, man könne sich ja mit einem Projekt bei diesem neuen Geldgeber bewerben. Wieder einmal war es so weit und das Kapital hatte die Stadt fest im Würgegriff. Alle schwärmten von Effizienz, sangen das alte neoliberale Lied von dem Nutzen für alle, wenn es den großen Wirtschaftskräften gut geht.
Und nun stand sie da. Sie hatte immer eine Arbeit vorangetrieben, die auf Bescheidenheit fußte, auf Kreativität und Geborgenheit, im kleinen, überschaubaren Rahmen. Keine irrsinnigen Risiken war sie eingegangen. Sie hatte immer im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten aus dem, was zur Verfügung stand, so viel wie möglich gemacht. Aber sie war nie gut darin gewesen, Finanzquellen aufzutun. Und jetzt war sie gezwungen, bei dieser Organisation um Geld zu betteln. Ohne diesen Zuschuss konnte ihre Stelle nicht länger finanziert werden. Sie hatte aber noch ein paar Dienstjahre vor sich. Wenn sie jetzt arbeitslos würde, würde es eng mit der Rente. Also setzte sie sich mit ein paar Leuten zusammen, überlegte anhand der Förder-Kriterien eine Strategie und stellte am Ende einen Antrag, den sie ziemlich passabel fand.
Doch er warf ihr, wie schon so viele Male zuvor, Knüppel zwischen die Beine. Das war nicht das, was er wollte, das war nicht das, was die Geldgeber wollten. Das war viel zu sehr, viel zu nah an den Bedürfnissen der Klientel und kam den Interessen der Geldgeber nicht so wirklich entgegen. Es wurde abgelehnt. Und der Anstellungsträger wurde säuerlich, einsilbig, verärgert und legte ihr nahe, sich nach einem neuen Betätigungsfeld umzusehen. Dann wurde nach Gründen gesucht, die ihre Unzuverlässigkeit oder Vertrauenswürdigkeit infrage stellten und wenn man lange genug gräbt, findet man immer irgendetwas. Und so fanden sie auch was. Unsaubere Kassenführung, einen Mangel an professioneller Distanz in den ersten Berufsjahren - das schien plötzlich auszureichen, um ihr das Vertrauen zu entziehen.
Nun, nach so vielen Jahren, in denen sie sich aufgerieben hatte, indem sie immer mitgespielt hatte, stand sie da und hatte nichts mehr.
Die Wut wuchs und sie wurde zu einer wahren Feuersbrunst, zu einem stürmischen Waldbrand. Und so verbrachte sie Tage und Nächte in ihrer kleinen Wohnung, lief unruhig durch die Zimmer und irgendwann stand der Plan. Er sollte es wissen, wer ihn in den Abgrund stürzte, aber er sollte keine Gelegenheit haben, das irgendjemandem mitzuteilen. Und das war das Stichwort: der Abgrund.
Es gab eine Veranstaltung, von der sie in der Zeitung gelesen hatte, an einem Steinbruch, dort gab es ein Klettersportangebot, heiße Getränke, Stände...
Sie zog sich unauffällig an, sehr untypisch, so wie sie normalerweise nie in der Öffentlichkeit auftrat. So hatte sie sich bis zur Unkenntlichkeit verkleidet und schlich dort herum, auf dem Fest und wurde auch tatsächlich von niemandem erkannt, als trüge sie einen Tarnumhang. Und dann stand er ziemlich nah am Abgrund, war mit seinen Gedanken beschäftigt, hielt ein Glas Bier in der Hand, ließ den Blick schweifen, mit sich zufrieden, so wie sie ihn kannte. Es wäre ein leichtes gewesen, ihm einfach einen Schubs zu geben und er wäre abgestürzt und sie hätte sich davonschleichen können, niemand wäre auf die Idee gekommen, dass er gestoßen wurde, alle hätten gedacht, was steht er auch so nah am Rand.
Aber dann sprach da etwas in ihr, das sagte: "Das hilft dir nicht. Du bist danach immer noch arbeitslos. Und die, die unter ihm gelitten haben, die werden nicht entschädigt. Und statt dass es dir hilft, nimmt deine Seele Schaden. Du wirst das mit dir herumtragen. Mord macht mieses Karma. Und dann hat er den Rest deines Lebens Macht über dich. Du kannst dich dieser Macht nicht mehr entledigen. Du kannst ihm auch nichts mehr ins Gesicht schleudern und ihm nicht die Meinung geigen. Du kannst ihn nicht mehr demütigen, ihm nicht mehr wehtun und es stehen zehn andere bereit, die gerne seine Position bekleiden. Wahrscheinlich ist einer schlimmer als der andere. Du richtest deine Wut gegen das Falsche. Es ist nicht dieser alte, abgehalfterte Chef, der dein Feind ist. Es sind nicht die reichen Industriellen, die versuchen, alles an sich zu raffen, die deine Feinde sind. Es sind die Verhältnisse, die Umstände. Nicht die Täter sind deine Feinde, sondern die Taten und deren Folgen.
Deine Wut ist eine unbändige Energie. Wie wäre es wohl, wenn du sie nicht unterdrücktest, sondern heraus ließest und sie in die Welt brächtest, aber nicht als destruktives Element, das sich gegen Menschen oder Gegenstände richtet oder in wehleidigem Genörgel verpuffend die Nerven deiner Mitmenschen malträtiert. So wie Wind, der sinnlos weht und nichts bewegt und einfach verpufft, so ist auch deine Wut, ein Sturm der Entrüstung, der zu nichts führt, der sich in nichts verliert, selbst dann, wenn du auf etwas triffst, das du umpustest. Dann wirst du nur schwächer und es kommt nichts dabei heraus.
Wenn diese unbändige Kraft, diese glühende Energie, die die Wut unweigerlich mit sich bringt, eine Transformation erlebte, wenn der Sturm des Zorns aufgefangen würde von den Rotorblättern des Gehirns, dort verarbeitet würde zu konstruktiven Ideen, kraftvollem Antrieb, ungebremster Tatkraft. Wenn sich dein Zorn nicht gegen Täter richtete, sondern gegen Taten und vor allem gegen deren Folgen.
Richte den Zorn gegen die Verhältnisse. Unterstütze die, die unter diesen Umständen gelitten haben. Tut euch zusammen, redet miteinander, tröstet euch gegenseitig, backt Kuchen, trinkt Kaffee, tut ganz viel dafür, dass es euch gut geht, damit ihr stärker werdet.
Und der zweite Schritt, der eigentlich der Wichtigere ist, besteht nicht im Lindern des erlittenen Leides sondern im Verhindern. Trag deinen Teil dazu bei, dass so etwas nicht wieder passiert. Nein, du kannst die fiesen Kapitalisten nicht ausbremsen, die Geld verdienen wollen und dabei über Leichen gehen. Du kannst aber dafür sorgen, dass eine neue Generation heran wächst. Du kannst nicht alles schaffen. Aber anstelle von hundert fiesen Kapitalisten gibt es am Ende deines Lebens dann vielleicht nur noch achtzig. Und wenn noch mehr Leute ihre Wut in einer derartig konstruktiven Weise transformieren, dann hat das Böse keine Chance mehr. Denk da mal drüber nach."
Und das tat sie. Sie ging nach Hause und schrieb einen riesigen Stapel an Initiativ-Bewerbungen, bis sie dann doch am Ende wieder eine Stelle fand und sie rettete die, die litten, es schwer hatten und nicht genug gefördert wurden, damit aus ihnen keine frustrierten, armseligen, bösartigen Geschöpfe wurden. Kein Mord, sondern Liebe, das einzige Mittel, das Böse am Ende zu besiegen.
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Freitag, 21. Oktober 2022
Viola
c. fabry, 12:49h
Jetzt liege ich hier: beschädigt. Ich könnte alles aufklären, aber mich fragt ja niemand. Wenn ich so zurück denke, wie alles anfing, als ich frisch geboren aus der Werkstatt kam und man mich in die Hände eines Kindes legte, ein Kind, das vielleicht ein bisschen zu klein war oder ich war etwas zu groß, aber man sagte, das Kind würde wachsen und man könne nicht alles ständig neu anschaffen.
Und das Kind malträtierte mich, ich fürchtete um meine Stabilität. Aber es schaffte mich nicht. Nur verlor es irgendwann die Lust an mir und ließ mich liegen, irgendwo, in einer Ecke, sodass ich eines Tages aus den mir vertrauten Räumlichkeiten an einen anderen Ort verbracht wurde: in einen düsteren und muffigen Laden. Und wieder fürchtete ich um meine Stabilität, dass Pilze, die dort in der feuchten Luft herum schwirrten, mein Holz zersetzen würden. Aber sie taten es nicht, denn schon bald kam ein freundlicher, kleiner Mann in den Laden, der mich begeistert erwarb; doch nicht für sich, für seinen Sohn.
"Spiel Junge!", sagte er, "Lerne Geige spielen und das Leben wird sich viel leichter für dich anfühlen." Und das war wichtig, denn es war eine schwere Zeit für die Menschen.
Und der Junge begann zu üben und er war nicht schlecht, er ging auch pfleglich mit mir um. Aber dann wurde es schwierig für ihn. Er musste seine Heimat verlassen. Der Vater war im Krieg, die Mutter schwer krank und schließlich musste er ganz eilig aufbrechen an einen anderen Ort und schaffte es nicht mehr, alle Sachen zusammenzusuchen und ich blieb liegen, da wo ich war, an diesem Ort. Und ich bin sicher, der Vater ist nicht gut umgegangen mit seinem Sohn, dafür, dass er mich vergessen hatte. Und wieder fürchtete ich um meinen Körper.
Doch es passierte nichts. Alles war gut. Ich lag da und das Klima war nicht schlecht für mich und eines guten Tages wurde ich gefunden und ich ging durch viele Hände. Und immer ging alles gut.
Und dann kam ich zu ihr. Oh ich kann mich noch erinnern, wie es war, als ihre zarten Hände mich berührten und ich wusste: sie schätzte mich. Ja, sie schätzte mich, aber sie verstand mich nicht. Im Grunde tat sie nichts anderes als all die Kinder, die ein Instrument, wenn sie es das erste Mal in die Hand bekommen, malträtieren, unsachgemäß berühren, wo der Druck nicht stimmt, die Position, alles ist irgendwie falsch und fühlt sich nicht gut an. Wir waren nicht wirklich eins miteinander. Aber sie liebte mich. Sie war überzeugt davon, dass sie zu mir gehörte und ich zu ihr. Und das tröstete mich ein wenig über den Umstand hinweg, dass sie nicht wirklich fachkundig mit mir umging. Sei?s drum. Ich wurde gepflegt, wurde zum Fachmann gebracht, wenn sich etwas verzogen hatte, eigentlich war ich am Ort meiner Bestimmung angekommen. Und ich war ja nie ein so großartiges Geschöpf, dass ich für die Hände eines begnadeten Virtuosen in diese Welt gebracht worden war. Ich war eben ein Instrument für Leute, die das Geige Spielen lernen wollen, sich mit der Geige hin und wieder zurückziehen und in der Musik etwas Trost finden.
Fatalerweise sah sie sich an einer anderen Stelle. Sie hielt sich für jemanden, der gehört werden muss, von vielen Menschen, in der Öffentlichkeit. Sie tat das gemeinsam mit anderen und viele Jahre musizierten wir in Gemeinschaft mit einem Tasteninstrument, perkussiven Elementen, Gitarre und Flöte und wir machten schöne Musik miteinander. Sie hätte mir weitaus präzisere Töne entlocken können, aber es ging. Es ließ sich hören. Und so gingen die Jahre ins Land mit ihr und mir und den anderen und den Fachleuten, die mich hin und wieder zurecht ruckelten und es hätte eigentlich so bleiben können. Doch dann?
Warum hatte er auch immer nur geschwiegen? Warum hatte er nie irgendetwas gesagt? Von morgens bis abends plapperte sie: Sinnloses, Belangloses, hin und wieder Notwendiges, aber sehr sehr vieles, was die Stille einfach nur zerschnitt, in Momenten, in denen das Schweigen die Musik des Alltags hätte klingen lassen, in all ihrer Schönheit: das Vogelgezwitscher, der sanfte Wind, das Ticken einer Uhr, das Gurgeln des Heizkörpers, aber sie ertrug die Stille nicht. Sie musste sie immer und immer wieder durchbrechen mit Nichtigkeiten, Belanglosigkeiten, Ärgernissen, Zweifeln, langweiligen Geschichten, Nachfragen, Arbeitsaufträgen, kruden Überlegungen, die Liste ist endlos. Und er? Er schwieg dazu. Und wenn, dann gab er einsilbige Sätze von sich wie "Ja, stimmt.", "Vielleicht.", "Kann man machen.", aber er hatte eigentlich keine Meinung, keine Position und er setzte ihr nie etwas entgegen. Das war das, was sie an ihm offensichtlich liebte, dass er wie ich, das Instrument, etwas war, das sie in die Hand nahm und durch blinden Aktionismus zum Klingen brachte. Mal waren es sanfte Schwingungen, manchmal auch schrille Misstöne, so war sie eben, brachte ihn auch schon einmal auf die Palme, aber er ließ nicht sehr viel davon heraus oder auch nicht sehr viel an sich heran, dachte ich zumindest.
Dann kam der Tag. Irgendwie hörte sie überhaupt nicht mehr auf. Sie plapperte und plapperte und sie ignorierte, dass er gar nicht darauf reagierte, nicht darauf einging, sich nicht dazu äußerte, sich nicht dazu verhielt. Sie plapperte und plapperte und er öffnete sanft und leise meinen Koffer, nahm mich aus dem Koffer heraus, betrachtete mich. Hart umschloss seine rechte Hand meinen zarten Hals und für einen Augenblick hatte ich die schlimme Vision, dass er mich benutzen würde als einen Gegenstand der Zerstörung, wie einen Hammer, um damit über den Schädel seiner Frau zu fahren. Doch zum Glück tat er das nicht. Stattdessen löste er den Wirbel der G-Saite, langsam wickelte er sie ab, zog den Feinstimmer aus dem Saitenhalter und ließ mich mit drei Saiten zurück. Ich wusste nicht, was das sollte. Und jeder, der ein bisschen Ahnung von Geigen hat, weiß, dass man nicht einfach so eine Saite aufziehen kann, damit muss man zu einem Geigenbauer, das ist aufwändig und teuer. Und vor allen Dingen ist es vollkommen sinnlos, eine Saite einfach abzunehmen, wenn sie unbeschädigt ist und nach wie vor gut klingt. Und das tat sie. Er nahm also dies Saite und wickelte sie um die rechte Hand und das andere Ende um die linke Hand. Und zwischen seinen Händen spannte er sie wie eine Bogensehne. Dann trat er sachte, sehr leise von hinten an seine Frau heran, die sich gerade plappernd über den Herd beugte und im Topf mit allerlei Gemüse herumrührte, das unter Knistern und Brutzeln in gutem Pflanzenöl vor sich hin briet.
Er legte die Saite von hinten um ihren Hals und zog zu. Sie hörte augenblicklich auf zu plappern und er hätte ja jetzt einfach wieder loslassen können, aber wenn er das getan hätte, hätte sie natürlich umgehend weiter geplappert und das wollte er verhindern. Und er zog und zog, sie zuckte und versuchte, um sich zu schlagen, doch je länger er zog, umso mehr verlor sie die Kraft, bekam zu wenig Luft in ihre Lungen und zu wenig Blut in ihren Kopf und das, was drin war, konnte nicht zurück. Der Austausch von venösem und arteriellen Blut fand nicht mehr statt, das Gehirn wurde nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt und nach wenigen Minuten sackte sie leblos zusammen. Und er stand da und hielt meine G-Saite in den Händen, unschlüssig, stumm, so wie ich ihn kannte. Und dann sagte er nur ein einziges Wort: "So."
Er rollte die Saite zusammen, stopfte sie in einen leeren Joghurt-Becher und versenkte den im gelben Sack, wohl in der Hoffnung, dass er dort niemals gefunden würde oder dass die Saite dort niemals gefunden würde, vermute ich. Vielleicht dachte er auch nicht nach. Er schloss den Geigenkasten und stellte mich in meinem Sarg hinter ein Regal. Dann nahm er einen Schlüssel vom Brett und verließ die Wohnung.
Wie lange das zurückliegt? Ich weiß es nicht. Ich habe jedes Gefühl für Zeit verloren.
Und das Kind malträtierte mich, ich fürchtete um meine Stabilität. Aber es schaffte mich nicht. Nur verlor es irgendwann die Lust an mir und ließ mich liegen, irgendwo, in einer Ecke, sodass ich eines Tages aus den mir vertrauten Räumlichkeiten an einen anderen Ort verbracht wurde: in einen düsteren und muffigen Laden. Und wieder fürchtete ich um meine Stabilität, dass Pilze, die dort in der feuchten Luft herum schwirrten, mein Holz zersetzen würden. Aber sie taten es nicht, denn schon bald kam ein freundlicher, kleiner Mann in den Laden, der mich begeistert erwarb; doch nicht für sich, für seinen Sohn.
"Spiel Junge!", sagte er, "Lerne Geige spielen und das Leben wird sich viel leichter für dich anfühlen." Und das war wichtig, denn es war eine schwere Zeit für die Menschen.
Und der Junge begann zu üben und er war nicht schlecht, er ging auch pfleglich mit mir um. Aber dann wurde es schwierig für ihn. Er musste seine Heimat verlassen. Der Vater war im Krieg, die Mutter schwer krank und schließlich musste er ganz eilig aufbrechen an einen anderen Ort und schaffte es nicht mehr, alle Sachen zusammenzusuchen und ich blieb liegen, da wo ich war, an diesem Ort. Und ich bin sicher, der Vater ist nicht gut umgegangen mit seinem Sohn, dafür, dass er mich vergessen hatte. Und wieder fürchtete ich um meinen Körper.
Doch es passierte nichts. Alles war gut. Ich lag da und das Klima war nicht schlecht für mich und eines guten Tages wurde ich gefunden und ich ging durch viele Hände. Und immer ging alles gut.
Und dann kam ich zu ihr. Oh ich kann mich noch erinnern, wie es war, als ihre zarten Hände mich berührten und ich wusste: sie schätzte mich. Ja, sie schätzte mich, aber sie verstand mich nicht. Im Grunde tat sie nichts anderes als all die Kinder, die ein Instrument, wenn sie es das erste Mal in die Hand bekommen, malträtieren, unsachgemäß berühren, wo der Druck nicht stimmt, die Position, alles ist irgendwie falsch und fühlt sich nicht gut an. Wir waren nicht wirklich eins miteinander. Aber sie liebte mich. Sie war überzeugt davon, dass sie zu mir gehörte und ich zu ihr. Und das tröstete mich ein wenig über den Umstand hinweg, dass sie nicht wirklich fachkundig mit mir umging. Sei?s drum. Ich wurde gepflegt, wurde zum Fachmann gebracht, wenn sich etwas verzogen hatte, eigentlich war ich am Ort meiner Bestimmung angekommen. Und ich war ja nie ein so großartiges Geschöpf, dass ich für die Hände eines begnadeten Virtuosen in diese Welt gebracht worden war. Ich war eben ein Instrument für Leute, die das Geige Spielen lernen wollen, sich mit der Geige hin und wieder zurückziehen und in der Musik etwas Trost finden.
Fatalerweise sah sie sich an einer anderen Stelle. Sie hielt sich für jemanden, der gehört werden muss, von vielen Menschen, in der Öffentlichkeit. Sie tat das gemeinsam mit anderen und viele Jahre musizierten wir in Gemeinschaft mit einem Tasteninstrument, perkussiven Elementen, Gitarre und Flöte und wir machten schöne Musik miteinander. Sie hätte mir weitaus präzisere Töne entlocken können, aber es ging. Es ließ sich hören. Und so gingen die Jahre ins Land mit ihr und mir und den anderen und den Fachleuten, die mich hin und wieder zurecht ruckelten und es hätte eigentlich so bleiben können. Doch dann?
Warum hatte er auch immer nur geschwiegen? Warum hatte er nie irgendetwas gesagt? Von morgens bis abends plapperte sie: Sinnloses, Belangloses, hin und wieder Notwendiges, aber sehr sehr vieles, was die Stille einfach nur zerschnitt, in Momenten, in denen das Schweigen die Musik des Alltags hätte klingen lassen, in all ihrer Schönheit: das Vogelgezwitscher, der sanfte Wind, das Ticken einer Uhr, das Gurgeln des Heizkörpers, aber sie ertrug die Stille nicht. Sie musste sie immer und immer wieder durchbrechen mit Nichtigkeiten, Belanglosigkeiten, Ärgernissen, Zweifeln, langweiligen Geschichten, Nachfragen, Arbeitsaufträgen, kruden Überlegungen, die Liste ist endlos. Und er? Er schwieg dazu. Und wenn, dann gab er einsilbige Sätze von sich wie "Ja, stimmt.", "Vielleicht.", "Kann man machen.", aber er hatte eigentlich keine Meinung, keine Position und er setzte ihr nie etwas entgegen. Das war das, was sie an ihm offensichtlich liebte, dass er wie ich, das Instrument, etwas war, das sie in die Hand nahm und durch blinden Aktionismus zum Klingen brachte. Mal waren es sanfte Schwingungen, manchmal auch schrille Misstöne, so war sie eben, brachte ihn auch schon einmal auf die Palme, aber er ließ nicht sehr viel davon heraus oder auch nicht sehr viel an sich heran, dachte ich zumindest.
Dann kam der Tag. Irgendwie hörte sie überhaupt nicht mehr auf. Sie plapperte und plapperte und sie ignorierte, dass er gar nicht darauf reagierte, nicht darauf einging, sich nicht dazu äußerte, sich nicht dazu verhielt. Sie plapperte und plapperte und er öffnete sanft und leise meinen Koffer, nahm mich aus dem Koffer heraus, betrachtete mich. Hart umschloss seine rechte Hand meinen zarten Hals und für einen Augenblick hatte ich die schlimme Vision, dass er mich benutzen würde als einen Gegenstand der Zerstörung, wie einen Hammer, um damit über den Schädel seiner Frau zu fahren. Doch zum Glück tat er das nicht. Stattdessen löste er den Wirbel der G-Saite, langsam wickelte er sie ab, zog den Feinstimmer aus dem Saitenhalter und ließ mich mit drei Saiten zurück. Ich wusste nicht, was das sollte. Und jeder, der ein bisschen Ahnung von Geigen hat, weiß, dass man nicht einfach so eine Saite aufziehen kann, damit muss man zu einem Geigenbauer, das ist aufwändig und teuer. Und vor allen Dingen ist es vollkommen sinnlos, eine Saite einfach abzunehmen, wenn sie unbeschädigt ist und nach wie vor gut klingt. Und das tat sie. Er nahm also dies Saite und wickelte sie um die rechte Hand und das andere Ende um die linke Hand. Und zwischen seinen Händen spannte er sie wie eine Bogensehne. Dann trat er sachte, sehr leise von hinten an seine Frau heran, die sich gerade plappernd über den Herd beugte und im Topf mit allerlei Gemüse herumrührte, das unter Knistern und Brutzeln in gutem Pflanzenöl vor sich hin briet.
Er legte die Saite von hinten um ihren Hals und zog zu. Sie hörte augenblicklich auf zu plappern und er hätte ja jetzt einfach wieder loslassen können, aber wenn er das getan hätte, hätte sie natürlich umgehend weiter geplappert und das wollte er verhindern. Und er zog und zog, sie zuckte und versuchte, um sich zu schlagen, doch je länger er zog, umso mehr verlor sie die Kraft, bekam zu wenig Luft in ihre Lungen und zu wenig Blut in ihren Kopf und das, was drin war, konnte nicht zurück. Der Austausch von venösem und arteriellen Blut fand nicht mehr statt, das Gehirn wurde nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt und nach wenigen Minuten sackte sie leblos zusammen. Und er stand da und hielt meine G-Saite in den Händen, unschlüssig, stumm, so wie ich ihn kannte. Und dann sagte er nur ein einziges Wort: "So."
Er rollte die Saite zusammen, stopfte sie in einen leeren Joghurt-Becher und versenkte den im gelben Sack, wohl in der Hoffnung, dass er dort niemals gefunden würde oder dass die Saite dort niemals gefunden würde, vermute ich. Vielleicht dachte er auch nicht nach. Er schloss den Geigenkasten und stellte mich in meinem Sarg hinter ein Regal. Dann nahm er einen Schlüssel vom Brett und verließ die Wohnung.
Wie lange das zurückliegt? Ich weiß es nicht. Ich habe jedes Gefühl für Zeit verloren.
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Freitag, 14. Oktober 2022
Optionales Verbrechen, das wahrscheinlich nicht stattfindet
c. fabry, 14:45h
Wenn jetzt einer käme, an meine Tür hämmerte, jemand mit ganz viel Wut im Bauch und ganz wenig Essen, jemand der gerade aus Nordafrika übers Mittelmeer geschippert ist und das gerade so überlebt hat, sich irgendwie durch die Appenin-Halbinsel und über die Alpen gemogelt hat und glaubte, endlich angekommen zu sein, an einem Ort der vorübergehenden Erlösung und dann feststellen musste, dass man ihn bespuckt, mit Abschiebung bedroht und sich einen Dreck um ihn schert und wenn der dann einfach exemplarisch eine von diesen satten, zufriedenen, mitteleuropäischen Maden ausweiden will, weil er sonst platzt vor Wut und der käme dann zu mir und würde es an mir auslassen, könnte ich es ihm verdenken?
Loslos, schreib einfach drauflos. Was kommt dabei raus? Ein Haus, eine Maus? Oder ein Klaus? Klau's und bring's, das war ja mal was, ein Riesenspaß, beim Piraten-Geländespiel nannten wir einen Posten so. Und da gab es Kinder, die sprachen die Leute im Dorf an: "Wissen Sie, wo der Laden Klau's und bring's ist?"
"Nein, noch nie gehört. Was für ein Laden soll das denn sein?"
"Na, ein Hehler."
Die dummen Kinder von damals, die heute schon wieder Eltern sind. Wo führt das alles hin? Eine Gesellschaft von Volldeppen? Hohlbirnen, die sich stetig reproduzieren, während die Genies keine Nachkommen haben? Oder welche, die dann ihrerseits keine Fortpflanzung mehr zustande bringen, weil sie drohen, an der Welt zu zerbrechen und dann nichts mehr wagen. Was für eine Schlonze. Da haben wir uns einen Smoothie eingebrockt, den echt keiner ausschlürfen will, darum kippen wir ihn denen über den Kopf, die sich am wenigsten wehren können, behaupten womöglich, wir täten ihnen Gutes, seien ja schließlich Nährstoffe und wir wissen schließlich alle, wie es sich mit geschenkten Gäulen verhält.
Nee, wirklich, könnte man es einem verdenken, wenn er es an uns auslässt?
Loslos, schreib einfach drauflos. Was kommt dabei raus? Ein Haus, eine Maus? Oder ein Klaus? Klau's und bring's, das war ja mal was, ein Riesenspaß, beim Piraten-Geländespiel nannten wir einen Posten so. Und da gab es Kinder, die sprachen die Leute im Dorf an: "Wissen Sie, wo der Laden Klau's und bring's ist?"
"Nein, noch nie gehört. Was für ein Laden soll das denn sein?"
"Na, ein Hehler."
Die dummen Kinder von damals, die heute schon wieder Eltern sind. Wo führt das alles hin? Eine Gesellschaft von Volldeppen? Hohlbirnen, die sich stetig reproduzieren, während die Genies keine Nachkommen haben? Oder welche, die dann ihrerseits keine Fortpflanzung mehr zustande bringen, weil sie drohen, an der Welt zu zerbrechen und dann nichts mehr wagen. Was für eine Schlonze. Da haben wir uns einen Smoothie eingebrockt, den echt keiner ausschlürfen will, darum kippen wir ihn denen über den Kopf, die sich am wenigsten wehren können, behaupten womöglich, wir täten ihnen Gutes, seien ja schließlich Nährstoffe und wir wissen schließlich alle, wie es sich mit geschenkten Gäulen verhält.
Nee, wirklich, könnte man es einem verdenken, wenn er es an uns auslässt?
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Freitag, 7. Oktober 2022
Schulterzuckende Gottheiten
c. fabry, 13:23h
"Sag mal", überlegt Gaia, "was ist bei dem Wolodja, der da auf dem größten Stück Boden sein Unwesen treibt, eigentlich schief gelaufen? Der ist doch im Sternkreiszeichen der Waage geboren. Müsste der nicht lieblich, hübsch, gelassen, ausgleichend, besonnen und um Frieden bemüht sein?"
"Mars war auf Sauftour.", antwortet Uranus lakonisch. "Hat den Vater von der Mutter geschubst und es zu Ende gebracht. Da sind die Sterne dann auch machtlos."
"Ja dann.", seufzt Gaia.
"Mars war auf Sauftour.", antwortet Uranus lakonisch. "Hat den Vater von der Mutter geschubst und es zu Ende gebracht. Da sind die Sterne dann auch machtlos."
"Ja dann.", seufzt Gaia.
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