Freitag, 2. September 2022
Ehegattensplitting
Patrizia war noch immer fassungslos. "Hier, ich hab? Dir was mitgebracht", hatte er gesagt und ihr eine bekannte Wochenzeitung auf den Tisch gelegt. "Damit wir uns mal über etwas unterhalten können."
Sie hatte auf ihre Karriere verzichtet, damit der seinen nichts im Wege stand und hatte sich um die drei kleinen Kinder gekümmert. Das tat sie immer noch. Sie war mit ihm in diesen verpissten Norden gezogen, wo wirklich überhaupt nichts los war, dabei liebte sie die badische Lebensfreude, die Wärme, die zahlreichen Sonnenstunden, aber als Meeresbiologe konnte er da nicht viel tun. Dummerweise hatte er sich mehr auf die Nordsee fokussiert, sonst wären es vielleicht die Kanaren geworden, die Karibik oder Australien.
Jetzt saß sie hier fest, gefesselt an Haus und Garten, dauergestresst von anspruchsvollen Kindern, die schon zum zweiten Mal entwurzelt ganz auf ihren Kleinfamilienkosmos zurückgeworfen waren. Patrizia managte alles und sehnte sich nach Stille, Urlaub im Wald oder in den Bergen, einfach einmal nichts tun, keine Verantwortung, keine Anforderungen, nur gehen, liegen, sitzen, essen, schlafen.
Und jetzt warf Volker ihr diese bildungsbürgerlichen Hausaufgaben hin. Noch eine Anforderung. Er dagegen konzentrierte sich auf seinen Job und steigerte sein Selbstwertgefühl zusätzlich, wenn er nach Feierabend entspannt mit den Kindern abhing, während sie schnell alles nachholte, was sie tagsüber nichts geschafft hatte, weil sie immer unterbrochen wurde.

Widerwillig, aber wo er schon einmal das viele Geld dafür ausgegeben hatte, blätterte sie ein wenig herum und stieß auf eine Glosse: Ehegattensplitting.
Es ging weniger um die Vor- und Nachteile dieser Besonderheit im deutschen Steuerrecht, sondern vielmehr um den irreführenden Begriff, eine sprachliche Verirrung, die verheerende Phantasien und deren Umsetzung auslösen konnte. Hier wurde beschrieben, wie eine Tischlerin erkannt hatte, dass ihr Mann für sie nur noch ein erhebliches Armutsrisiko darstellte, also handelte sie pragmatisch und schob ihn einmal durch die Kreissäge.

"Auch eine Option.", sagte Patrizia zu sich selbst.
"Was meinst du denn?", fragte Volker voller Vorfreude auf ein angeregtes Gespräch.
"Zeitunglesen.", antwortete Patrizia, erhob sich und begann, den Geschirrspüler einzuräumen.
"Vielleicht ein bisschen martialisch.", murmelte sie. Das hörte Volker schon nicht mehr, er baute mit den Kindern eine Ritterburg aus Holzklötzen.

"Aber anregend, durchaus anregend.", sagte Patrizia, zog eine Tafel Schokolade aus der toxischen Schublade, brach energisch zwei ganze Riegel ab und biss herzhaft hinein.

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Samstag, 27. August 2022
Mit Kröller-Müller auf Holle Bolle
"Guck mal, die heißen hier wie du!", rief Sonja erstaunt, als sie auf einem Hinweisschild irgendwo auf einer niederländischen Autobahn den Namen Kröller-Müller entdeckte. Dirk hieß Müller mit Nachnamen und seine Freunde nannten ihn Krölle-Bölle, weil er als Kind mit seinen Eltern jedes Jahr nach Bornholm gefahren war und der Troll Krölle-Bölle das Inselmaskottchen war.
Auf der Arbeit hatte das mal jemand aufgeschnappt und ihn daraufhin Kröller-Müller getauft.
Dirk war nicht zu Scherzen aufgelegt. Er war gestresst von der Autofahrt und wollte nur noch ankommen.

Eine Stunde später war es geschafft. Als alles ausgepackt und der Fünf-Uhr-Tee ausgetrunken war, machten sie einen Spaziergang durch den pittoresken Ort.
"Ich glaube, das sollten wir uns ansehen.", sagte Sonja und zeigte auf ein reißerisches Plakat auf dem in großen Lettern zu lesen war: "Holle Bolle - 26.-28. Augustus - Somelsdijk".
"Was soll das sein?", fragte Dirk missmutig.
"Keine Ahnung.", meinte Sonja. "Ich schätze, irgendein Volksfest."

Es war ein Volksfest, mit allem, was dazu gehörte. Schon lustig, dachte Sonja, wie er hier plötzlich auf gute Laune und Bilderbuchehe macht, obwohl er doch längst seinen Abflug geplant hat.
Sie hatte die One-Way-Tickets von Schipol nach Orlando in der Seitentasche seines Koffers entdeckt. Eine halbe Stunde später schlenderte sie allein an den Marktständen vorbei, als sie plötzlich von einer Unbekannten angesprochen wurde.
"Bist du nicht Sonja? Die Frau von Kröller-Müller?"
"Und woher kennen wir uns?", fragte Sonja verwirrt.
"Ich bin Melle, einen Kollegin deines Mannes. Ich war mal zum Grillen bei euch."
Ach ja - dachte Sonja. - Die schöne Melle. Jetzt fällt's mir wieder ein. Ist sie wohl das zweite One-Way-Ticket?

"Wo ist denn Kröller-Müller?", fragte Melle.
"Ach der", antwortete Sonja lapidar. "Irgendwo untergetaucht."
"Wann startet jetzt eigentlich euer Amerika-Trip?"
Sonja zuckte mit den Schultern.
"Du bist ja lässig.", wunderte sich Melle. "So ein Glück möchte ich auch mal haben. Acht Millionen im Lotto und dann sechs Monate auf Tour. Ich finde, da hat er sich eine gelungene Überraschung zum zwanzigsten Hochzeitstag einfallen lassen. Du wolltest doch immer schon so einen Trip machen, oder?"

Sonja sagte nichts mehr. Sie blickte nur auf das Hafenbecken. Am Grund lag Kröller-Müller. Er würde nicht mehr auftauchen. Orlando würde sie allein erobern müssen.

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Freitag, 12. August 2022
Strandgut - Auflösung der Foto-Blue-Black Story
Da lag sie nun; so wie er sie am liebsten in Erinnerung behalten wollte: sanft, rein, bescheiden und unschuldig. Einer von den jungen Leuten da drüben hätte sicher ein oder mehrere Fotos geschossen, um das Bild festzuhalten. Er machte es auf die altmodische Art. Er sah sie an und prägte sich alles ein.
Die letzten Jahre waren schwer, aber schön gewesen. Sie hatte sich ganz und gar seiner Fürsorge hingegeben, ihr war schließlich nichts anderes übrig geblieben. Und so war sie fast wieder zu der Frau geworden, die er geheiratet hatte.
Davor gab es eine Zeit der beginnenden Ablösung.

Sie hatten sich auf einer mehrtägigen Jugend-Evangelisation kennengelernt. Er war damals zwei-und-zwanzig, sie siebzehn Jahre alt gewesen. Nach einem halben Jahr hatten sie sich verlobt, nach einem Jahr geheiratet. Kinder waren ihnen versagt geblieben. Sie hatten nie nach den Ursachen geforscht, es einfach so angenommen und ihre gesamte Kraft in den Dienst der Gemeinde gestellt.

Aber dann, als das Thema mit den Kindern endgültig abgehakt war, da war sie seltsam geworden. Immer häufiger hatte sie vorgegeben, sich ausruhen zu müssen, wenn Kirchgang oder Gemeindeversammlung anstanden, sie war ihm beim Tischgebet teilnahmslos erschienen, hatte sogar dazu geneigt, es zu vergessen, hatte sich ohne Not neue Kleidung gekauft und im Bad hatte er lauter Tiegelchen und Fläschchen entdeckt, die vorher nicht da gewesen waren.

Als der Urlaub am Meer anstand, den sie sich einmal im Jahr gönnten, hatte sie vorgeschlagen, sich in einem feinen Hotel verwöhnen zu lassen, statt wie in jedem Jahr die kostenlose Ferienunterkunft ihrer Freunde zu nutzen. Das hatte er entschieden abgelehnt und gedacht, wenn sie erst wieder in der hübschen Wohnung sei und sie täglich durch die Dünen zum Strand radelten, käme sie schon wieder zur Vernunft.

Mitnichten! Sie hatte einkaufen wollen in den schönen Geschäften, war zurückgekommen mit Taschen voller überflüssiger Textilien und sinnlosen Dekorations-Artikeln, Kerzen, Seifen, Keramik...Sie war dem Dämon der Konsumsucht verfallen, dazu war sie aufmüpfig geworden, verletzend und immer unzugänglicher. Er hatte deutlich gespürt, wie sie sich von ihm entfernte. Er hatte befürchtet, sie zu verlieren und mit ihr auch seinen untadeligen Ruf, seine Stellung in der Gemeinde. Selbst, wenn sie bei ihm geblieben wäre: Welches Bild hätte er abgegeben mit einer derartig von Wollust und Dekadenz durchzogenen Gattin an seiner Seite?

Eines Nachmittags erklärte sie: "Ich habe noch nie Austern gegessen, so richtig, mit Zitrone und Weißwein und allem, was dazu gehört. Lass uns morgen Abend mal in das Restaurant am Yachthafen gehen, die haben Austern auf der Karte."
"Aber das ist entsetzlich teuer!", hatte er protestiert.
"Na und?", hatte sie frech entgegnet. "Wir bezahlen ja schon nichts für die Ferienwohnung, da können wir uns doch einmal einen Abend in einem schicken Restaurant gönnen. Ich will schon seit vielen Jahren einmal frische Austern probieren, es hat sich nur nie ergeben."
"Die kann man auch selbst zubereiten.", hatte er entgegnet. "Ich fahre gleich morgen früh zum Fischhändler und hole frische Austern. Dann besorge ich Zitronen, Gemüse für Salat, Kartoffeln, Knoblauch, Brot, Weißwein und etwas zum Nachtisch. Zufrieden?"
"Kannst du das denn?"
"In der Küche steht ein Kochbuch mit Fisch- und Muschel-Rezepten. Das klappt schon."

Am kommenden Tag war er nur mit der Vorbereitung des Menüs beschäftigt. Mit den Austern musste man nicht viel tun. Die Kartoffeln schob er mit Olivenöl, Salz und Rosmarinzweigen in den Ofen. Er bereitete einen Salat aus Rucola, Tomaten und Gurken, machte Knoblauchbutter zum Baguette und knappste etwas von dem Weißwein für den Nachtisch ab, den er einfror, um das Eis später fein zu hobeln und mit Honig und frischem Sanddornmark zu vermischen.
Er radelte in Dünen, erntete Sanddornbeeren und hübsche gelbe Blumen, mit denen er am Abend die Tafel dekorierte.

Das Menü war gelungen. Es schmeckte ihr und ihm auch. Beim Salat hielt er sich ein wenig zurück, gab vor, Rucola nicht ausstehen zu können und so stopfte sie sich mit dem Rucola auch das ganze Jakobskreuzkraut in den Mund. Von Pflanzen wusste sie nicht viel, darum machten die hübschen gelben Blumen, deren Blätter denen des Rucola täuschend ähnlich sahen, sie auch nicht misstrauisch.

Nun musste er nur noch warten. Etwa zwei Jahre später war es soweit. Die geplante Wirkung hatte eingesetzt. Bauchschmerzen und eine eigenartige Entfärbung des Stuhls ließen sie endlich einen Arzt aufsuchen, nachdem sie sich schon über ein Jahr unwohl gefühlt hatte.
Leberkrebs lautete die Diagnose. Nahezu unausweichlich nach dem Verzehr von Jakobskreuzkraut.

Als sie kaum noch bei Kräften war, überredete er sie zu einem letzten Urlaub am Meer. Am Strand tat sie ihren letzten Atemzug. Er hatte sie für immer verloren und gleichzeitig für immer behalten. Zum Abschied dekorierte er ihre Leiche mit den Artefakten ihrer Henkersmahlzeit.

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Freitag, 5. August 2022
Strandgut

Was ist hier passiert?

Alternativfragen werden täglich beantwortet - die komplette Lösung kommt in einer Woche.

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