Freitag, 24. Juni 2022
Vier Käse - Teil II - Der Parmesan
Luca hatte Veronicas giftige Bemerkung geflissentlich ignoriert. Mit seiner ältesten Schwester legte er sich lieber nicht an, sie machte aus jeder Kleinigkeit ein komplexes, tiefenpsychologisches Drama, das augenblicklich nach Familienaufstellung schrie. Ständig mussten alte Geschichten bearbeitet werden, verlangte sie nach Anerkennung ihres Schmerzes und vor allem nach der Bestätigung, dass sie es von allen fünf Geschwistern am schwersten gehabt hatte.
Jetzt trug sie die Pasta auf, denn Pasta kochen, da war die gesamte Familie sich einig, konnte niemand so gut wie Veronica. Luca rieb jedem großzügig Parmesan auf den Teller und rief: "Raspeln und Reiben ist meine Spezialität. Süßholz und alles worüber man nicht spricht."
"Ja. Erst raspeln, dann reiben, dann ex und hopp.", sagte Veronica. "Pass auf, Matilda, dass du nicht demnächst von einem Bürohäschen abgelöst wirst."
"Wenn Luca nur halb so sexistisch wäre wie seine große Schwester, müsste ich mir Sorgen machen.", erwiderte Matilda grinsend. "Aber glücklicherweise ist er das nicht."
"Ich sehe mal nach der Pasqualina.", meinte Giulia und verschwand in der Küche.
"Ich muss ins Bad." sagte Veronica. Und verschwand ebenfalls.
Ein Mobiltelefon klingelte. Gianluigi nahm ab und rannte aus dem Zimmer.
"Hat sich da jemand verliebt?", fragte Paolo.
"Bestimmt.", erwiderte seine Frau Livia. "Und jede Woche neu. Ist doch normal in dem Alter. Ich gehe mal eben eine rauchen. Bin gleich wieder da."
Angelina holte neuen Wein aus dem Keller und Rosario lief kurz zum Kiosk, bevor der schloss, denn ihm waren seine Gitanes ausgegangen und die gab es sonst nur im Tabakladen.
Nach und nach trudelten alle wieder ein und verputzen Pasta mit Ragout, nur Giulia kam nicht aus der Küche zurück.
"Typisch.", zischte Veronica. "Sie will sich wieder zum Mittelpunkt des Abends machen. Ich suche jetzt nicht nach ihr."
"Ach komm, Schwesterchen.", sagte Luca. "Gib deinem Herzen einen Ruck. Schließlich ist sie immer noch deine Mutter und schuftet sich in der Küche wund, um dir ein zauberhaftes Festmahl zu bereiten."
"Geh doch selber.", antwortete Veronica schnippisch. "Für mich tut sie das bestimmt nicht. Du bist doch der Lieblingssohn."
"Sie tut das für keinen von uns.", sagte Angelina. "Ich sehe auch nicht nach ihr. Sie soll sich melden, wenn sie Hilfe braucht. So kompliziert ist es nicht, mal eben nach der Pasqualina zu sehen."
"Aber das ist doch der Job von Euch Frauen, zusammen die Küche zu rocken.", sagte Gianluigi.
"Noch so klein und schon so ein großes Chauvi-Schwein.", raunzte Veronica.
"Bestimmt ist Giulia im Bad und zieht ihren Lippenstift nach.", meinte Livia.
"Oder sie zieht sich fürs Secondo um.", scherzte Matilda. "Ein Organzatraum in Spinatgrün mit einem Schal aus Crêpe de Chine in Ricottaweiß, dazu Stillettos in brotbraunem Wildleder." Zum Abschluss zog sie die Luft scharf durch die Zähne ein.
"Ja und Dottergroße, gelbe Ohringe mit weißem Rand.", vollendete Livia das Bild. "Für den Salz- und Pfeffer-Look muss sie gar nichts tun, den trägt sie von Natur aus auf dem Kopf. Fehlt nur noch ein feiner Film besten Olivenöls auf ihren schlanken Armen."
"Hey, Gianluigi.", sprach Luca seinen kleinen Bruder an, der die Diskussion mit deutlichem Befremden verfolgte. "Keine Angst, die beißen nicht, die lassen nur Dampf ab. Wenn Du mal eine mit nach Hause bringst, wird deine Mutter sie genauso auf die Palme bringen. Sie wird dich dann dafür lieben, wenn du sie wieder von hier wegbringst."
"Ich werde nie eine hierher mitbringen, so viel ist klar.", erwiderte Gianluigi. "Mama ist ja nicht die einzige Frau in der Familie, die einem auf den Sack geht."
Paolo sprang auf und verpasste Gianluigi eine Ohrfeige. "So spricht man nicht über seine Mutter!", wies er ihn zurecht.
"Hast Du sie noch alle?", schrie der Teenager. "Du hast jahrelang noch viel schlimmere Dinge gesagt, aber kaum bist du ausgezogen, ist alles von der Festplatte gelöscht. Fass mich noch einmal an und ich prügel dir das Hirn raus! Ich gehe zum Kickboxen, vergiss das nicht!"
"Jetzt hört auf", versuchte Luca seine Brüder zu beschwichtigen. "Die Drama-Queen ist gerade in der Küche, jetzt stehlt ihr nicht die Show."
Livia lehnte im Türrahmen und sagte: "Mitnichten. In der Küche ist sie nicht."

Forstsetzung folgt

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Freitag, 17. Juni 2022
Vier Käse - Teil I - Der Mozzarella
Giulia wischte sich die feuchten Hände an der Schürze ab. Phantastisch. Die Caprese-Platten strahlten verführerisch in den Farben der Trikolore, auf dem Herd blubberte das aromatische Ragout und der der große Wassertopf für die Pasta war bereits aufgesetzt. Die Pasqualina war im Ofen und das Tiramisù im Kühlschrank. Ihre Mutter hätte sie geohrfeigt für so ein phantasieloses Menü, aber ihre Kunstfertigkeiten hatten stets in anderen Bereichen gelegen und meistens ließ sie etwas kommen oder ging essen oder machte etwas, das schnell und einfach ging. So blieb mehr Zeit für die wesentlichen Dinge des Lebens.
Es klingelte an der Tür. Als sie öffnete, stand da Paolo mit Livia und der kleinen Luisa. Strahlend umarmte sie Sohn, Schwiegertochter und Enkelin. "Ciao, Ihr Süßen, Ihr seid die ersten. Kommt rein."
Livia erwiderte die Umarmung kaum, steif wie ein Brett wandte sie sich ab. Irgendwie wurden sie nicht warm miteinander, aber die Kleine war reizend.
Als nächstes kam Veronica, die Älteste, alleinstehend und übellaunig wie immer. Seit Franco nicht mehr lebte, war sie noch unausstehlicher geworden. Schade - dachte Giulia - dass sie nicht zufällig auf Forschungsreise ist, dann hätten wir es heute richtig nett miteinander.
"Gianluigi", rief Giulia. "Die ersten sind da, komm aus deiner Höhle."
Ihr Jüngster war erst sechzehn und litt seit drei Jahren unter dem Verlust seines Vaters. Irgendwie schien er es seiner Mutter übel zu nehmen, dass sie als Witwe regelrecht aufblühte.
Luca kam mit Matilda, beide lebenslustig und unkompliziert und stets zu Scherzen aufgelegt. Warum konnten nicht alle ihre Kinder so sein?
Angelina und Rosario waren wieder einmal die letzten. Die jüngere ihrer beiden Töchter hatte noch nie irgendeinen Zeitplan einhalten können, darum hatte sie es auch nicht weit gebracht, arbeitete als Näherin in einer Kleidermanufaktur und hatte sich mit einem Fabrikarbeiter zusammengetan. Gut, er machte Käse und hatte kein Maschinenöl unter den Nägeln, aber es ging Giulia auf die Nerven, dass er sich immer aufführte wie ein Sommelier der Spitzenklasse, während er nichts weiter war, als ein angelernter Produktionsarbeiter.
"Und ihr zwei?", fragte sie, "Überstunden für die Ostertorten und Festtagsblüschen?"
"Wenigstens üben wir beide ein ehrliches Handwerk aus.", erwiderte Rosario trocken.
Gianluigi, das Nesthäkchen sah in die Runde und und grinste schief. "Gibt wohl Tote, heute Abend. Aber ist ja Ostern, da stehen die Toten ja wieder auf."
Luca verpasste seinem kleinen Bruder eine Kopfnuss.
Livia nahm einen Schluck vom Aperitif. Dann sagte sie nur einen einzigen Satz: "Kindermund tut Wahrheit kund."
Die Familie versammelte sich um den Tisch. Giulia nahm am Kopfende Platz, der Stuhl am anderen Ende der Tafel blieb leer, das behielten sie bei, seit Franco gestorben war, Giulia hielt stets die Formalitäten bei, damit ihr niemand einen Vorwurf machen konnte. Töchter und Schwiegertöchter trugen die Antipasti herein, herrlich aufwändige Köstlichkeiten hatten sie mitgebracht, doch Giulia hatte im Vorfeld dafür gesorgt, dass ihre Caprese das optische Zentrum der Tafel bildete. Die Mozzarella-Scheiben glänzten vor Öl und ihr strahlendes Weiß zwischen den frühlingsgrünen Basilikumblättern und den blutroten Tomaten erschien wie eine Allegorie der schwindenden Jugend, der befleckten Unschuld, der flüchtigen, zeitig dahinwelkenden Frische, der saftigen Reife als letztes Aufbäumen vor dem endgültigen Verfall.
Luca biss in ein Päckchen der mütterlichen Vorspeise und das flüssige Innenleben der Tomatenscheibe tropfte auf sein Kinn.
"Passt zu dir", sagte Veronica. "Ein Vampir warst du eigentlich schon immer."

Fortsetzung folgt

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Sonntag, 12. Juni 2022
Gudrun
Er hatte eine Stunde Zeit, dann würde sie nach ihm suchen. Bis dahin hatte sie keinen Zugriff, musste der Gemeinde zur Verfügung stehen und konnte sich mit keiner Ausrede entziehen. Er sah sich ein letztes Mal um und fühlte in sich hinein, ob sich da irgendein Schmerz regte. Wenigstens einen kleinen Stich müsste er doch spüren. Da war aber nichts. Er erinnerte sich an die Anfänge. Sie hatte ihn überwältigt mit ihrem strahlenden Lächeln, dem glucksenden Lachen über seine Witze, der weichen Wärme ihrer mütterlichen Umarmungen, wenn sie ihn an ihre üppigen Brüste drückte, den Fleisch gewordenen Entsagungen seiner frühen Kindheit und wenn seine Hände über ihre runden Hüften fahren durften. Nach Frau und nach Zitronenverbene hatte sie gerochen, frisch, süß und würzig.

Sie hatte ihn angelockt, eingefangen und einen Konkon um ihn gesponnen. Zuerst war es ihm gar nicht aufgefallen. Das Leben mit ihr hatte ihm gut getan, ihre mütterliche Fürsorge, ihre stete Sorge um ihn, wie sie ihm Entscheidungen abnahm und ihn von der Last der Verantwortung erlöste.

Im Laufe der Jahre war es schwieriger geworden. Sie wollte immer genau wissen, was er tat und wo er sich aufhielt. Er durfte in ihrer Abwesenheit keine anderen Frauen treffen und wenn er nicht ihren Wünschen entsprach, wurde sie im günstigsten Fall mürrisch, oft laut und ausfallend und immer häufiger gewalttätig. Ein richtiger Brummer war sie im Laufe der Jahre geworden. Sie lag im Bett gern oben und begrub ihn unter ihren Fleischmassen. Ihr Geruch hatte mittlerweile eine säuerliche Note angenommen, gepaart mit einem süßlichen Unterton, der sich aufs unangenehmste im Rachenraum festsetzte und eine stetige Übelkeit auslöste. Nachts klang ihr Schnarchen wie ein einziges Kettensägenmassaker.

Immerhin hatte sie ihn bei der Evangelischen Männerarbeit mitmachen lassen, da witterte sie keine Gefahr, ahnte nichts von Fritzi, die beim Fahrradprojekt mitwirkte, weil ihr Mann sie wegen ihrer unverzichtbaren Fachkompetenz dazu geholt hatte, der Steffen, der mittlerweile verstorben war.
Es gestaltete sich als unproblematisch, Fritzi in den Telefonkontakten zu speichern, ihr Profilbild war ein Zahnrad, ihr Name überwiegend männlich assoziiert, ihre Botschaften ausreichend kryptisch und so hatten sie alles eingefädelt. Stück für Stück war jeder Gegenstand, der ihm wichtig war, bei Fritzi gelandet, ohne dass Siemke etwas davon mitbekommen hätte. Er hatte sich heute vom Gottesdienst abgemeldet, hatte gesagt, er müsse dringend joggen und wäre dann etwa um die gleiche Zeit zurück, um die Siemke aus der Kirche zurückkehrte.

Jetzt lief er. Papiere, Telefon und Portemonnaie in der Bauchtasche. Eine Stunde bis zum Bahnhof, dann mit dem Neun-Euro-Ticket nach Unna, da würde Fritzi ihn abholen. Und dann würde alles gut werden. Das Morgenlicht stimmte ihn hoffnungsfroh, die noch grüne Gerste wogte im frühsommerlichen Wind. Bald würde er mit Fritzi ausgedehnte Spaziergänge unternehmen und das Gold der Ähren mit dem ihres seidigen Haars vergleichen.

Er sah nicht, dass Gudrun ihm auf den Fersen war. Gudrun tat alles für Siemke, war ihre engste Vertraute, hatte einen Minijob als Reinigungskraft im Gemeindehaus, an den sie durch Siemkes Initiative gelangt war und sie schaffte es so, sich einigermaßen zu stabilisieren. Siemke verdankte sie, dass sie schon sehr lange keine Psychiatrie mehr von innen gesehen hatte. Eben hatte sie eine Nachricht bekommen: "Heute kein GoDi für Dich. Konrad folgen. Geht gleich laufen."
Gudrun tat das nicht zum ersten Mal. Sie hatte immer ein Auge auf Konrad, wenn Siemke sie darum bat, wenn sie es anordnete. So lautete die Absprache: "Verhindere, dass er Dummheiten anstellt."

Gudrun erwischte ihn kurz vorm Bahnhof, bei den Büschen, an der Ausfallstraße, wo niemand hinsieht. Er hatte mit Fritzi telefoniert. Gudrun stürzte sich auf ihn und zeterte: "Du fährst nirgendwo hin!"
Dieses Mal hatte sie ein Messer dabei. Sie würde Konrad erledigen, ein für allemal, dann konnte er Siemke nie wieder hintergehen und Siemke wäre endlich ganz und gar für Gudrun da.

Konrad entwand Gudrun das Messer und wehrte sich erfolgreich. Seiner Mörderin war er entkommen, doch die Schlacht hatte er verloren. Siemke hatte ihn endgültig besiegt.

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Freitag, 3. Juni 2022
Ein Abschiedsbrief
Einfach mal lostippen
keine Ahnung was dabei rauskommt
Stifte gehen besser
viel besser
Analog ist das neue Digital
Digital ist das neue Analog
Verrückte Welt
Will nicht den Kopf in den Sand stecken zu dunkel zu wenig Luft rückenunfreundliche Haltung
aber Jessas
weg will ich von allem was drückt
von allem was schmerzt und zehrt
von allem was ängstigt und lähmt
und weiß nicht wie und wohin
ich muss es angehen
nur was zuerst was danach und wo setze ich an?
Hab mich schon so oft aus dem Sumpf gezogen
Erfahrung und Training einerseits
Frust und Ermüdung andererseits
wird nie gut
wird nur ab und zu mal weniger schlimm
danach wieder schlimmer
viel schlimmer

Das war alles, was sie hinterlassen hatte. Halt nicht ganz. Da war noch das Häufchen, das neben ihr lag, mit dem der Darm sich verabschiedet hatte. Der letzte Ausdruck ihrer erstarrten Züge passte nicht zum Brief. Ein leerer Blick über herabhängenden Mundwinkeln oder geschlossene Augen über einem heruntergeklappten Kiefer, das hätte man vielleicht erwartet. Aber Augen und Mund waren weit aufgerissen. Schreckgeweitet.
Vielleicht ein Nervengift, das kam natürlich auch für Suizid infrage.

Doch der Ort war seltsam. Oder das Zusammenspiel von Ort, Abschiedsbrief und dem Zustand der Leiche. Wer setzt seinem Leben nackt an seiner Dienstelle ein Ende und hinterlässt einen solchen Abschiedsbrief als Textdatei im aufgeklappten Laptop?

Hätte man sie zu Hause so aufgefunden, wäre es vielleicht plausibel gewesen. Oder bekleidet am Arbeitsplatz. Aber so? Das roch überdeutlich nach Inszenierung.

Die Befragungen ergaben, dass sie sich mit allen angelegt hatte. In Konflikten hatte sie nie klein beigegeben, hatte richtig Ärger gemacht, sich an Verantwortliche gewandt, für Konsequenzen gesorgt.

Da war die Presbyterin, die sie in Veröffentlichungen immer wieder mit unsachgemäßen, abwertenden Berufsbezeichnungen tituliert hatte: Kindergärtnerin, Kinderpflegerin,.. niemals aber als das, was sie war, nämlich Sozialpädagogin und KiTa-Leitung.

Da war der Pfarrer, der sich nicht um das Mobbing-Problem innerhalb des Kita-Teams gekümmert hatte. Ihre Hinweise, dass im bestehenden Personalstamm der Wurm war, wenn nicht sogar der Borkenkäfer, dass mindestens zwei Erzieherinnen ausgetauscht werden mussten, weil sie noch immer im Geist der vor zwei Jahren suspendierten Leiterin täglich ihr Gift verspritzten und einen Keil zwischen Team und Leitung trieben, hatte er geflissentlich ignoriert, weil er Konflikten aus dem Weg ging, aufgrund welcher Ängste auch immer.

Da war die Putzfrau, die ihr Büro immer aussparte und erst bei drohender Abmahnung den fingerdicken Staub von den Regalen wischte. Dazu vergaß sie regelmäßig, den Fußboden im Büro zu saugen oder zu fegen; vom Wischen ganz zu schweigen. Die Leiterin hätte es auch eben selbst machen können und es dabei belassen, aber es ging ihr ums Prinzip. Sie entschied, wo wieviel und mit welcher Frequenz geputzt wurde und nicht die Reinigungskraft.

Da war der Küster, dem man bei anstehenden Gartenarbeiten alles dreimal sagen musste, der sich zwar nicht offen weigerte, seine Aufgaben zu erledigen, der aber nie um Ausreden verlegen war: zu große Hitze, Starkregen, Wind, Glatteis, wichtige Veranstaltungen in Kirche und Gemeindehaus? Komischerweise fand er aber immer die Zeit, mit Aufsitzmäher und Freischneider sorgfältig durch den großzügigen Garten des Pfarrhauses zu cruisen.

Da war die Elternratsvorsitzende, die ständig herumnörgelte, offensichtlich aber mit der Erziehung der eigenen Kinder überfordert war und dringenden Beratungsbedarf hatte, den sie natürlich entschieden von sich wies.

Und schließlich war da die penetrante Männergruppe, die immer wieder darauf bestand, sich abends auf dem Kita-Gelände zum Grillen und Kubb spielen zu treffen. Offizielle Vorschriften bezüglich der Nutzung von Kindertageseinrichtungen wischten sie mit laxen Handbewegungen beiseite, begleitet von den Rauchfahnen ihrer brennenden Filterzigaretten, deren Kippen immer wieder im Garten verstreut herumlagen.

Bei so vielen erschöpfenden Kämpfen mochte man ihr die Depressionen wohl abkaufen, nicht aber den Suizid.

Bei der Obduktion fand sich tatsächlich ein Nervengift. "Typisch für Frauen.", bemerkte der Pathologe.
"Blödes Klischee", erwiderte die Kommissarin. "Selbst wenn es statistisch mehr Giftmörderinnen als Giftmörder gäbe oder mordende Frauen vorzugsweise zum Gift griffen, nützt uns das überhaupt nichts. Es kann sich trotzdem um einen männlichen Täter handeln."
So dahingerotzt, wie die Kleider des Opfers herumlagen, war davon auszugehen, dass die Kita-Leiterin nach dem Eintritt des Todes entkleidet worden war. Tagelang forschten die Ermittelnden nach starken Motiven, Gelegenheiten, mangelnden Alibis. Ergebnislos.
Aber dann saß plötzlich Familie Semmering auf der Wache: Lydia Semmering, alleinerziehende Mutter von zwei Kindern, Ilvy war acht Jahre alt, Jonte war vier. Jonte hatte die komische Frau bemerkt, die er nie zuvor in der Kita gesehen hatte, die so unfreundlich guckte und ins Büro gestürmt war, kurz bevor die Mama ihn abgeholt hatte. Gestern hatte er sie zufällig in der Stadt wiedererkannt und sie Ilvy gezeigt. Ilvy kannte sie noch aus ihrer Kita-Zeit, es war Tamara, die hatte damals noch in der Kita gearbeitet und war dann irgendwann verschwunden. Als die Kinder ihrer Mutter davon erzählten, erinnerte die sich, dass Tamara Rethemeier damals dauerhaft erkrankt war. Es gab aber Gerüchte, dass sie als Opfer permanenter Schikanen durch Kolleginnen und vor allem die Leitung einen Nervenzusammenbruch erlitt, von dem sie sich nie mehr ganz erholte. In dem Jahr, in dem Familie Semmering nicht in der Kita vertreten war, hatte die Leitung gewechselt, die despotische Kita-Leitung war wohl immer schamloser geworden in ihrem Sadismus.
Ein Abgleich der Spuren mit der DNA von Tamara Rethemeier ergab eine Übereinstimmung und am Ende war die Beweislast so erdrückend, dass kein Zweifel mehr bestand.
Doch warum hatte die geschundene Erzieherin sich an der Nachfolgerin gerächt, mit der sie doch keinerlei Rechnung offen hatte?
"Ich habe schon gesehen, dass es nicht Juliana war, die da hinter dem Schreibtisch saß. Aber diese leitenden Sozialpädagoginnen sind doch alle gleich. Man trifft immer die Richtige. Sie hatte diesen Ausdruck in den Augen. Wie ein Terrier."
"Wie haben sie es gemacht?", fragte die Kommissarin.
"Niktotinkonzentrat. Juliana hat vor allem in den Raucherpausen ihre Giftpfeile abgeschossen. Jetzt kriegte sie alles zurück. Subkutan."
"Sie hatten eine Spritze mit Nikotinkonzentrat dabei? Die Tat war also geplant?"
"Ja. Ich habe mich informiert, wie das geht und dann Nikotin extrahiert, in die Spritze aufgezogen und los. Ich dachte ja, Juliana hat noch die Leitung. Ich wusste gar nicht, dass sie nicht mehr da ist. Aber die Neue war genauso. Da bin ich mir sicher."
"Und wie haben sie ihr das Gift verabreicht?"
"Hab mich auf sie gestürzt und die Spritze rein gerammt, in die Achsel, glaube ich."
"Und dann?"
"Dann habe ich sie ausgezogen, damit sie genauso nackt und bloß da liegt, wie ich mich gefühlt habe. Dann bin ich an ihren Laptop gegangen, habe das Textverarbeitungsprogramm geöffnet und ein Abschiedsgedicht rein getippt. Haben Sie?s gelesen?"
"Ja, haben wir."
"Und wie fanden sie es??"?Traurig."
"Ja. Das ist es."

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