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Freitag, 20. Mai 2022
Eins, zwei, drei
c. fabry, 11:38h
Eins, zwei, drei, vorbei. Das Anstrengende, aber auch das Schöne. Das Schöne, aber auch das Anstrengende. Vor mir liegt Anstrengendes und Schönes. Vor mir liegt Schönes und Anstrengendes ? bis es eines Tages geschafft ist. Dann kommt nur noch Schönes. Oder gar nichts mehr.
Fatale Fehlinterpretationen führen in schmerzreiche Sackgassen. Trotzdem laufen wir immer wieder sehenden Auges hinein. Denn ohne die Illusion, die Verheißung, die Hoffnung wäre alles Schöne nur hübsch, jedes Glück nur eine nette Applikation am tristen, schlichten, grauen Gewand des Alltags.
Thomas hätte es eigentlich wissen müssen. Melanie zog jedem die Socken aus - direkt bei der ersten Begegnung. Und auch in Dietmars Gesicht war es nicht zu übersehen: glänzende Augen, gerötete Wangen und dieses verräterische Vibrato in der Stimme.
Melanie hingegen erschien ausgeglichen, gepflegt, freundlich, aber unaufgeregt wie immer und sah ihn an mit dieser ungeteilten Aufmerksamkeit ihrer klaren Augen. Wer sie nicht kannte, hielt diese Reaktion für neutral, nahezu unbeteiligt, aber Thomas kannte sie schon lange, liebte und begehrte sie aus der Ferne. Der sportliche Dietmar mit dem freundlichen, gut geschnittenen Gesicht versetzte zahlreiche Frauen in Anspannung. Hier begann etwas, das Thomas um jeden Preis verhindern musste. Melanie war SEINE Freundin und hoffentlich eines Tages seine Geliebte, seine Lebensgefährtin, seine Frau.
Eigentlich wusste er, dass es nie passieren würde, aber sollte Dietmar ihm beweisen, dass es nicht an Melanies unverbrüchlicher Treue zu ihrem Ulli lag, sondern nur daran, dass sie an Thomas nicht in der Weise interessiert war, wie er es sich wünschte?
Nein, das würde er nicht ertragen. Dietmar musste in einem Licht erscheinen, das seine Schwachstellen offenbarte.
Aber wo genau lagen seine Schwachstellen? Der perfekte Thomas, war höchstens Allergiker und hatte eine kleine Charakterneurose in Bezug auf Sauberkeit. Putzfimmel hätte man früher dazu gesagt. Das würde Melanie nicht abschrecken. Es bedurfte drastischerer Maßnahmen.
Für Thomas würde es anstrengend werden. Für Dietmar wäre es für immer schön. So war Thomas doch eigentlich ein Erlöser. In dem Moment, als der Lebenshauch Dietmar verließ, wusste Thomas plötzlich, wie schnell alles gegen konnte.
Eins, zwei, drei - vorbei.
Fatale Fehlinterpretationen führen in schmerzreiche Sackgassen. Trotzdem laufen wir immer wieder sehenden Auges hinein. Denn ohne die Illusion, die Verheißung, die Hoffnung wäre alles Schöne nur hübsch, jedes Glück nur eine nette Applikation am tristen, schlichten, grauen Gewand des Alltags.
Thomas hätte es eigentlich wissen müssen. Melanie zog jedem die Socken aus - direkt bei der ersten Begegnung. Und auch in Dietmars Gesicht war es nicht zu übersehen: glänzende Augen, gerötete Wangen und dieses verräterische Vibrato in der Stimme.
Melanie hingegen erschien ausgeglichen, gepflegt, freundlich, aber unaufgeregt wie immer und sah ihn an mit dieser ungeteilten Aufmerksamkeit ihrer klaren Augen. Wer sie nicht kannte, hielt diese Reaktion für neutral, nahezu unbeteiligt, aber Thomas kannte sie schon lange, liebte und begehrte sie aus der Ferne. Der sportliche Dietmar mit dem freundlichen, gut geschnittenen Gesicht versetzte zahlreiche Frauen in Anspannung. Hier begann etwas, das Thomas um jeden Preis verhindern musste. Melanie war SEINE Freundin und hoffentlich eines Tages seine Geliebte, seine Lebensgefährtin, seine Frau.
Eigentlich wusste er, dass es nie passieren würde, aber sollte Dietmar ihm beweisen, dass es nicht an Melanies unverbrüchlicher Treue zu ihrem Ulli lag, sondern nur daran, dass sie an Thomas nicht in der Weise interessiert war, wie er es sich wünschte?
Nein, das würde er nicht ertragen. Dietmar musste in einem Licht erscheinen, das seine Schwachstellen offenbarte.
Aber wo genau lagen seine Schwachstellen? Der perfekte Thomas, war höchstens Allergiker und hatte eine kleine Charakterneurose in Bezug auf Sauberkeit. Putzfimmel hätte man früher dazu gesagt. Das würde Melanie nicht abschrecken. Es bedurfte drastischerer Maßnahmen.
Für Thomas würde es anstrengend werden. Für Dietmar wäre es für immer schön. So war Thomas doch eigentlich ein Erlöser. In dem Moment, als der Lebenshauch Dietmar verließ, wusste Thomas plötzlich, wie schnell alles gegen konnte.
Eins, zwei, drei - vorbei.
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Freitag, 13. Mai 2022
Kennen Sie den noch?
c. fabry, 14:15h
"Wo ist denn deine Mutter?"
"Von Putin überfallen."
"Und was macht dein Vater?"
"Von Putin überfallen."
"Hast du noch Geschwister?"
"Ja."
"Und wo sind die?"
"Von Putin überfallen."
"Und Deine Verwandten?"
"Von Putin überfallen."
"Was machst Du wenn Du groß bist?"
"Putin überfallen."
"Von Putin überfallen."
"Und was macht dein Vater?"
"Von Putin überfallen."
"Hast du noch Geschwister?"
"Ja."
"Und wo sind die?"
"Von Putin überfallen."
"Und Deine Verwandten?"
"Von Putin überfallen."
"Was machst Du wenn Du groß bist?"
"Putin überfallen."
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Samstag, 30. April 2022
Königstag
c. fabry, 01:20h
Es war wie immer. Wimpel in den Farben der Trikolore und in Orange flatterten zwischen den Häusern, Fahnen wehten im frischen Mittagswind, die Kälte und der Schlafmangel der vergangenen Nacht steckte ihm noch in den Knochen, vom Hafen tönte die gotterdammte Blaskapelle und der Geruch von Pommes und Loempia stieg ihm in die Nase. Später würde Bier dazu kommen, Pisse und bessere Livemusik.
Doch nichts war wie immer. Thijs hatte es erwischt, der würde nie wieder mit ihm um die Häuser ziehen. Bei der siebten Runde hatte es ihn aus der Kurve getragen und dann stand der Baum im Weg. Joris fragte sich seit diesem Moment, ob es seine Schuld war. Sie hatten sich ein kleines Rennen gegönnt. Joris hatte Thijs links überholt. Hatte er ihn damit abgedrängt? Das würde sicher ein Nachspiel haben. Alle würden glauben, dass es Absicht war, wegen Lieke. Es gab keinen, der nicht wusste, wie verrückt Joris nach Lieke war, der Freundin seines besten Freundes Thijs. Und Thijs war jetzt aus dem Weg. Und stand doch mehr als unüberwindbares Hindernis da als je zuvor.
Auf den Strecken sah man überall die Spuren der vergangenen Nacht. So laut wie heute waren sie noch nie gewesen. 365 Mopeds ohne Auspuff, sieben Runden in drei-ein-halb Stunden. Goedereede, Ouddorp und zurück, ein Höllenlärm zum Geburtstag des Königs, die Art der Jugend ihrem Regenten Respekt zu zollen, so die offizielle Lesart. Im Grunde war es einfach nur eine Mordsgaudi und ein Kräftemessen unter Heranwachsenden; weitaus harmloser als der Silvester-Wettstreit zwischen Scheweningen und Duindorp - eigentlich, doch diesmal hatte es hier einen Toten gegeben.
Sie hätten alle zu Hause bleiben können: Joris, Jasper, Derk, Adrian, Mats, Lieke, Lotte, Tess und Sanne. Wegen Thijs, der nicht mehr dabei sein konnte. Sie alle und die anderen 355. Aus Trauer, Betroffenheit oder wenigstens aus Pietät. Aber gerade wegen Thijs gingen sie feiern, so, als wäre er dabei, mitten unter ihnen.
Als die ersten Bierbecher schon in den Gassen lagen und die Dunkelheit ihren kühlen Mantel auf den brodelnden Dorfplatz legte, hatte Lieke längst Trost gefunden, in den Armen Adrians, natürlich, Adrian war ein richtiger Kerl, Kraftsportler und Surfer, nicht so ein dürres Klappmesser wie Joris, mehr so ein Prachtkerl wie Thijs einer gewesen war. Ob sie Adrian jetzt verdächtigen würden?
Lieke schielte rüber zu Joris, nicht so ein Arschloch wie Thijs eins gewesen war und auch nicht so ein aufgeblasener Aufschneider wie der laute Adrian. Sie hatte nur nicht die Kraft gehabt, ihn abzuweisen, als er sie geschnappt hatte. Genau wie damals bei Thijs. Dem war sie auch einfach so in die Falle gegangen. Und dann hatte er sie immer mehr behandelt wie einen lästigen kleinen Hund. Treu war er auch nicht gewesen, hatte ihr aber Angst gemacht, wenn sie nur mit einem anderen geredet hatte.
Gestern hatte sie all ihren Mut zusammengenommen. Und es war ganz leicht gewesen, die Bremsleitung durchzuknipsen. Zur Not ginge das auch ein zweites Mal. Aber vielleicht war das auch gar nicht nötig. Sie nahm noch einmal allen Mut zusammen, wand sich aus Adrians Klammergriff, lief Kreuz und quer über den Platz bis sie Joris gefunden hatte. Der saß traurig auf der Hafenmauer und kippte sein sechstes Bier. Sie stellte sich neben ihn und fragte: "Joris, kannst du mich nach Hause bringen? Ich hab' keinen Bock mehr."
Joris saß da wie vom Donner gerührt.
"Was ist mit Adrian?", fragte er.
"Adrian ist ein selbstverliebtes Arschloch.", erwiderte Lieke.
"Aber ich kann nicht mehr fahren. ", sagte Joris. "Ich hätte schon sechs Bier."
"Und wie kommst du nach Hause?"
"Zu Fuß."
"Kannst Du mich denn zu Fuß nach Hause bringen oder ist das ein zu großer Umweg?"
"Ist kein Umweg."
"Also machst du's?"
Joris stand auf.
"Komm!", sagte er.
Doch nichts war wie immer. Thijs hatte es erwischt, der würde nie wieder mit ihm um die Häuser ziehen. Bei der siebten Runde hatte es ihn aus der Kurve getragen und dann stand der Baum im Weg. Joris fragte sich seit diesem Moment, ob es seine Schuld war. Sie hatten sich ein kleines Rennen gegönnt. Joris hatte Thijs links überholt. Hatte er ihn damit abgedrängt? Das würde sicher ein Nachspiel haben. Alle würden glauben, dass es Absicht war, wegen Lieke. Es gab keinen, der nicht wusste, wie verrückt Joris nach Lieke war, der Freundin seines besten Freundes Thijs. Und Thijs war jetzt aus dem Weg. Und stand doch mehr als unüberwindbares Hindernis da als je zuvor.
Auf den Strecken sah man überall die Spuren der vergangenen Nacht. So laut wie heute waren sie noch nie gewesen. 365 Mopeds ohne Auspuff, sieben Runden in drei-ein-halb Stunden. Goedereede, Ouddorp und zurück, ein Höllenlärm zum Geburtstag des Königs, die Art der Jugend ihrem Regenten Respekt zu zollen, so die offizielle Lesart. Im Grunde war es einfach nur eine Mordsgaudi und ein Kräftemessen unter Heranwachsenden; weitaus harmloser als der Silvester-Wettstreit zwischen Scheweningen und Duindorp - eigentlich, doch diesmal hatte es hier einen Toten gegeben.
Sie hätten alle zu Hause bleiben können: Joris, Jasper, Derk, Adrian, Mats, Lieke, Lotte, Tess und Sanne. Wegen Thijs, der nicht mehr dabei sein konnte. Sie alle und die anderen 355. Aus Trauer, Betroffenheit oder wenigstens aus Pietät. Aber gerade wegen Thijs gingen sie feiern, so, als wäre er dabei, mitten unter ihnen.
Als die ersten Bierbecher schon in den Gassen lagen und die Dunkelheit ihren kühlen Mantel auf den brodelnden Dorfplatz legte, hatte Lieke längst Trost gefunden, in den Armen Adrians, natürlich, Adrian war ein richtiger Kerl, Kraftsportler und Surfer, nicht so ein dürres Klappmesser wie Joris, mehr so ein Prachtkerl wie Thijs einer gewesen war. Ob sie Adrian jetzt verdächtigen würden?
Lieke schielte rüber zu Joris, nicht so ein Arschloch wie Thijs eins gewesen war und auch nicht so ein aufgeblasener Aufschneider wie der laute Adrian. Sie hatte nur nicht die Kraft gehabt, ihn abzuweisen, als er sie geschnappt hatte. Genau wie damals bei Thijs. Dem war sie auch einfach so in die Falle gegangen. Und dann hatte er sie immer mehr behandelt wie einen lästigen kleinen Hund. Treu war er auch nicht gewesen, hatte ihr aber Angst gemacht, wenn sie nur mit einem anderen geredet hatte.
Gestern hatte sie all ihren Mut zusammengenommen. Und es war ganz leicht gewesen, die Bremsleitung durchzuknipsen. Zur Not ginge das auch ein zweites Mal. Aber vielleicht war das auch gar nicht nötig. Sie nahm noch einmal allen Mut zusammen, wand sich aus Adrians Klammergriff, lief Kreuz und quer über den Platz bis sie Joris gefunden hatte. Der saß traurig auf der Hafenmauer und kippte sein sechstes Bier. Sie stellte sich neben ihn und fragte: "Joris, kannst du mich nach Hause bringen? Ich hab' keinen Bock mehr."
Joris saß da wie vom Donner gerührt.
"Was ist mit Adrian?", fragte er.
"Adrian ist ein selbstverliebtes Arschloch.", erwiderte Lieke.
"Aber ich kann nicht mehr fahren. ", sagte Joris. "Ich hätte schon sechs Bier."
"Und wie kommst du nach Hause?"
"Zu Fuß."
"Kannst Du mich denn zu Fuß nach Hause bringen oder ist das ein zu großer Umweg?"
"Ist kein Umweg."
"Also machst du's?"
Joris stand auf.
"Komm!", sagte er.
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Freitag, 22. April 2022
Hansi und Greta
c. fabry, 13:16h
Es war einmal, unlängst in diesen Tagen eine arme Familie, die lebten am Rande einer großen Stadt, wo Fuchs und Hase längst reißaus genommen hatten und man selten in fröhliche Gesichter sah.
Die Kinder, Hansi und Greta, waren zwölf und zehn Jahre alt, ihre Mutter hatte nie einen Beruf gelernt und der Vater war vor Jahren gestorben. Seit einem Jahr war die Mutter mit einem neuen Mann zusammen, der hatte auch keine Arbeit und bekam auch kein Geld mehr vom Staat, weil er immer seine Termine verpasste.
Das Essen in den Geschäften war entsetzlich teuer geworden, weil Seuchen, Krieg und Klimawandel so viele Ernten und Handelswege zerstörten, dass nur noch reiche Menschen es sich leisten konnten, regelmäßig einkaufen zu gehen. Das wenige Geld vertranken und verrauchten die Eltern und schickten die Kinder zur Tafel, um Essen zu holen. Hier wurden sie aber oft von Erwachsenen beiseite geschubst, denn immer mehr Menschen im Land litten große Not, sodass die Kinder häufig mit leeren Händen heimkehrten. Dann gab es Schläge.
Eines Nachts hörten die Kinder, wie die Eltern sich anschrien. "Die fressen uns die Haare vom Kopf und steuern nichts bei!", brüllte der Stiefvater.
"Die steuern mehr bei als du!", schrie die Mutter.
"Aber sie verfressen mehr als sie ranschaffen.", erwiderte der Stiefvater. "Ich werde dafür sorgen, dass sie was einbringen. Gleich morgen. Ich habe Kontakte."
Die Kinder fürchteten sich in ihren Betten, aber sie hatten keine Idee, wie sie den Plänen des Stiefvaters entkommen konnten. Sie wussten ja nicht einmal, was er vorhatte.
Als sie morgens erwachten und es wie gewöhnlich kein Frühstück gab, aber auch keine Schule, weil Ferien waren, wollten sie die Wohnung verlassen, ein wenig Geld zusammenbetteln und sich davon ein Brötchen und einen Kakao kaufen. Doch die Wohnungstür war verriegelt, der Schlüssel unauffindbar und die Eltern lagen im Bett und schnarchten. Sie stanken nach Schnaps, Zigaretten und ungesunden Fürzen. Schon bald piepte ein Wecker. Der Stiefvater erhob sich widerwillig, ging aufs Klo und schlurfte in die Küche. "Waschen, kämmen und was Sauberes anziehen!", fuhr er die Kinder an. Dann machte er sich einen Instant-Kaffee und rauchte eine seiner stinkenden Discounter-Zigaretten.
Hansi und Greta gingen unschlüssig ins Bad. Der Stiefvater kam hinterher, drehte die Dusche auf und riss ihnen die Kleidung herunter. "Los, unter die Brause!", blaffte er sie an. Dann spritzte er Duschgel auf ihre nackten Körper. "Überall einseifen, vor allem in der Ritze!", befahl er. Die verängstigten Kinder gehorchten. Sie trockneten sich mit einem fadenscheinigen Handtuch ab und suchten in ihrem Zimmer nach sauberer Kleidung. Es gab nichts Schönes, aber halbwegs saubere und heile Sachen waren noch da. Dann kämmten sie die nassen Haare. Einen Haartrockner gab es schon lange nicht mehr.
"Beeilt euch!", tönte es aus der Küche. Der Stiefvater rasselte mit dem Schlüsselbund. "Los jetzt! Nehmt Eure Monatskarten mit. Wir machen einen Ausflug."
Mit der Straßenbahn ging es raus bis zur Endstation, von da eine Strecke zu Fuß durch den Stadtwald, bis sie schließlich an ein ziemlich heruntergekommenes, aber großes Haus gelangten. Es war wunderschön gelegen, so mitten im Grünen, aber auch ohne Nachbarn oder andere Leute, die vorbei kamen.
Der Stiefvater klingelte und eine eigenartige, ältere Frau öffnete die Tür. Ihre Haare waren von einem schrillen, künstlichen Rot, die Augäpfel gelblich, die Haut zerfurcht und am Kinn und unter der Nase sprossen drahtige Barthaare.
"Na, was seid ihr denn für zwei Herzchen?", fragte sie mit einer freundlichen Reibeisenstimme, so tief, dass sie auch zu einem Mann gepasst hätte.
"Für Günni", sagte der Stiefvater. "War so abgemacht. Ist er da?"
"Komm rein!", sagte die Frau. "Günni ist in seinem Arbeitszimmer. Und ihr zwei kommt mit mir in die Küche. Da gibt?s Cola und ich mach euch Pfannkuchen."
Hansi und Greta waren sehr hungrig und ließen sich nicht lange bitten. Die Cola half gegen die schlimmste Schmacht, und schon bald landeten goldgelbe Eierkuchen, bestreut mit Zucker auf ihren Tellern: heiß, süß, fettig und nahrhaft. Sie aßen alles auf, bis ihre Bäuche prall gespannt waren.
Inzwischen schloss ihr Stiefvater mit Günni das Geschäft seines Lebens ab. Dreihundert Euro pro Kind und Quartal. "Mehr geht nicht.", erklärte Günni. "Ich hab' ja auch Kosten. Die wollen essen, brauchen Platz und die Hälfte der Zeit müssen die erst mal lernen. Dann filmen wir sechs Wochen und dann kannst du sie entweder wieder abholen oder wir verlängern. Wenn's gut läuft, gibt's fürs zweite Quartal das Doppelte. Wenn du mir neue Kontakte beschaffst, gibt's noch mal?n Zwanni Vermittlungsgebühr pro Blag, die zieh' ich dem Lieferanten dann ab."
"Alles klar.", sagte der Stiefvater. Zum Abschied blickte er noch einmal in die Küche und sagte: "Ihr bleibt hier, bis ich euch abhole. Und meckert nicht. Ihr kriegt hier Essen und ein warmes Bett. Also benehmt euch."
Als die beiden im Bett lagen, sagte Hansi: "Hier haben wir es echt gut getroffen. Ist viel besser als zu Hause."
In der Nacht wurde Greta wach. Nebenan unterhielt sich die Alte mit Günni: "Morgen gehen wir mit den beiden in den Tierpark. Pommes, Eis, Spielplatz, das ganze Programm.", sagte Günni. "Dann kommen sie in den Keller. Das musst du allein machen. Ich muss nach Uffeln, das Team zusammentrommeln. In einer Woche bin ich wieder da."
Als die Erwachsenen sich nicht mehr mucksten, schlich Greta aus dem Schlafzimmer und ging auf Zehenspitzen in den Keller. Hier gab es Räume mit sinnlos abgestellten Möbeln, seltsamen Gegenständen mit Ketten und Lederriemen und auf einem Bildschirm öffnete sich ein schreckliches Bild, als Greta sich versehentlich auf einer Computer-Tastatur abgestützt hatte. Zwei Kinder mit tränenüberströmten Gesichtern, die von zwei lachenden Männern gequält wurden. Sie verstand nicht, was wirklich auf diesem Bild passierte, nur dass es unfassbar grausam war und sie war sich sicher, dass Hansi und ihr dasselbe Schicksal bevorstand.
Greta schlich zurück ins Bett, weckte ihren Bruder und erklärte, was sie gesehen hatte. "Du hast nur schlecht geträumt.", maulte er. "Schlaf weiter, hier ist es toll."
Am kommenden Morgen war Greta tatsächlich unsicher, ob sie alles nur geträumt hatte, doch wie angekündigt kam es nach einem Frühstück mit frischen Brötchen und Nuss-Nougat-Creme zu einem Ausflug in den Tierpark, mit Spielplatzbesuch, Pommes zum Mittagessen und leckerem Eis zum Nachtisch. Als sie wieder am Haus ankamen, setzte Günni sie ab und fuhr weiter. Die Alte ging mit ihnen hinein und sagte: "So, und jetzt gehen wir auf den Spielplatz, der ist direkt hier im Haus. Da staunt ihr, was?"
Sie schickte die beiden vor in den Keller und dort war alles, wie Greta es in der Nacht gesehen hatte, nur der Bildschirm war weg und stattdessen lagen die Kopfkissen und Bettdecken der letzten Nacht nun auf einem breiten Bett mit Gitterstäben an Fuß- und Kopfende. Schnell wie der Blitz verschwand die Alte durch die Tür und schloss von außen ab. "Spielt schön.", schnarrte sie.
"Ich muss aufs Klo!", rief Greta.
"Nimm den Eimer.", antwortete die Alte und schlurfte die Kellertreppe hinauf.
"Glaubst du mir jetzt?", fragte Greta.
"Wieso?", fragte Hansi. "Ist doch ein super Spielplatz. Guck mal die Schaukel." Er kletterte auf ein Schaukelbrett mit einer seltsamen Form, das war so breit, dass Beide Kinder nebeneinander darauf Platz gefunden hätten. "Die ist vielleicht groß, ist bestimmt für Erwachsene.", meinte Hansi
"Nein, die ist zum Kinder quälen.", hielt Greta dagegen. Ich habe es selbst gesehen.
"Das hast du geträumt."
"Ich war letzte Nacht hier drin. Wenn ich nur geträumt hätte, woher hätte ich wissen sollen wie es hier aussieht? Und warum werden wir hier eingesperrt?"
Hansi hielt inne. Er dachte nach. "Scheiße.", entfuhr es ihm dann.
"Der Mann kommt erst in einer Woche zurück.", meinte Greta. "Wir sind mit der Alten allein. Wir müssen sie dazu bringen, dass sie uns raus lässt."
"Aber wie?"
"Weiß nicht."
Verzagt brüteten die Kinder vor sich hin, als sich plötzlich der Schlüssel im Schloss drehte. "Komm mal mit rauf, Kleine!", sagte die Alte zu Greta. "Du musst Kartoffeln schälen und in Scheiben schneiden. Ich kann das nicht mehr mit meiner Arthrose."
Greta wurde die Treppe hoch gescheucht, Hansi blieb eingesperrt.
"Warum kann Hansi nicht auch helfen?", fragte Greta.
"Nein, nein.", erwiderte die Alte. "Jungs in dem Alter sind unberechenbar. Nachher läuft der mir noch weg. Los beeil dich, wir essen zeitig."
Greta war nicht gut im Kartoffeln schälen und die Alte schimpfte mit ihr und schlug ihr ins Gesicht. Das Kinder Quälen hatte also begonnen. Als sie die Kartoffeln vorbereitet hatte, briet die Alte sie in einer Großen Pfanne an, füllte sie in eine gefettete Auflaufform, streute Röstzwiebeln darüber, flüssiges Ei und schließlich geriebenen Käse. Dann schob sie das Gericht in den vorgeheizten Backofen.
"So.", sagte sie. "In einer Dreiviertelstunde ist das fertig und morgen schiebe ich die Reste in die Mikro. Jetzt wasch mal das Geschirr ab, Spülmaschine haben wir nicht."
Greta reinigte das Geschirr und als sie alles gespült und abgetrocknet hatte, trieb die Alte sie vor sich her, um sie wieder in den Keller zu sperren.
Greta berichtete Hansi von ihren Erlebnissen. Er war wütend und schockiert. "Morgen kommt das Essen in die Mikrowelle, hast du gesagt?"
"Ja", sagte Greta. "Die Reste."
"Ich habe mal einen Film gesehen", sagte Hansi, "da hat einer eine Mikrowelle komplett unter Strom gesetzt. Aus Versehen. Da lag so ein Kabel, das war kaputt. Also wenn du morgen wieder helfen musst und da steht ein Mixer `rum oder eine Kaffeemaschine, dann könntest du das Kabel durchschneiden, einstöpseln und das Ende an die Mikrowelle legen. Wenn sie dann die Tür aufmacht, kriegt sie voll einen gewischt. Dann musst du ihr nur noch den Schlüssel abnehmen und mich raus lassen und dann hauen wir ab. Aber du musst aufpassen, du darfst sie nicht anfassen, wenn sie noch unter Strom steht, sonst erwischt es dich auch."
Das Abendessen wurde auf schmuddeligen Tellern serviert, so kärglich, wie sie es von zu Hause gewohnt waren und so ähnlich schmeckte es auch. Für ihre Notdurft mussten sie tatsächlich den Eimer in der Ecke benutzen und es begann, übel zu riechen in dem Kellerloch. Am nächsten Morgen kam die Alte und schimpfte: "Hier stinkts ja wie im Schweinestall! Bring mal den Eimer aufs Klo, Kleine!", raunzte sie Greta an und stellte eine Lüftung an, die den fensterlosen Raum mit Frischluft versorgte, ihn aber auch deutlich abkühlte. Greta musste wieder spülen, das Bad putzen und am Ende auch die Küchenfronten sauber schrubben. Dabei fiel ihr Blick auf ein unnützes Küchenutensil, einen Eierkocher, so etwas hatte sie mal bei einer Freundin zu Hause gesehen und dieser sah nicht so aus, als werde er regelmäßig benutzt. Es würde kaum auffallen, wenn das Kabel durchtrennt war. Eine Schere hing griffbereit an der Wand.
Sie wurde wieder in den Keller gesperrt, die Kinder bekamen eine alte Colaflasche mit Leitungswasser und wurden wieder sich selbst überlassen. Am Abend brachte die Alte aufgewärmten Auflauf. Das hatte nicht geklappt. Natürlich brauchte sie keine Hilfe, um etwas in die Mikrowelle zu stellen.
Sie verbrachten einen weiteren Tag in der Hölle, doch am dritten Morgen im Keller holte die Alte Greta wieder nach oben, um Kaffee-Bohnen zu mahlen. Sie selbst musste plötzlich dringend zur Toilette. "Wenn ich wieder komme, bist du fertig, sonst setzt es was!", keifte sie. Greta nutzte die Gelegenheit, griff nach der Schere und begann das Kabel des Eierkochers zu bearbeiten. Das war aber viel schwieriger, als sie erwartet hatte. Das Plastik war fest, die Drähte im Inneren noch viel härter und die Schere alt, stumpf und abgegriffen. Voller Panik wühlte sie in der Besteckschublade und fand ein neueres Gemüsemesser. Hiermit schaffte sie es schließlich gerade noch rechtzeitig, das Kabel zu durchtrennen. Die heraus schauenden Drähte steckte sie in kleinere Öffnungen in der Rückwand der Mikrowelle, erst dann schob die den Netzstecker in die Dose und drehte den Eierkocher so, dass das abgeschnittene Kabel nicht auffiel. Als die Alte von der Toilette zurückkam, saß sie unschuldig auf einem Stuhl, die volle Kaffeemühle auf dem Schoß und nicht eine Bohne war gemahlen.
"Zeig her!", zischte die Alte. Sah hinein und fauchte dann: "Da ist ja noch gar nichts! Du faules Stück, ich habe gesagt du sollst den Kaffee mahlen, nicht träumen!"
"Ich weiß nicht wie das geht.", log Greta.
"Ganz einfach drehen, so wie ?ne Drehorgel, immer in die Runde. Meine Fresse, ich wusste gar nicht wie blöd du bist."
Sie gab Greta die Mühle zurück und diese drehte und mahlte den Kaffee, sodass sich bald ein wohliger Duft in der Küche ausbreitete.
"Na geht doch.", sagte die Alte versöhnlich. "Soll ich euch Kakao machen? Ist noch genug Milch da."
"Au ja.", sagte Greta und sah, dass die Rechnung aufging. Ihre Peinigerin füllte Milch in zwei Tassen und griff an die Tür der Mikrowelle, um sie zu öffnen, doch dazu kam sie nicht mehr. Zuerst erstarrte sie, dann begann sie heftig zu zittern und schließlich fiel sie einfach um. War sie tot oder nur bewusstlos? Ihre schreckgeweiteten gelben Augen bewegten sich nicht, aber Greta wagte nicht sie zu durchsuchen, um an den Kellerschlüssel zu gelangen. Sie lief ziellos durchs Haus und entdeckte plötzlich im Eingangsbereich ein Schlüsselbrett. Sie nahm alles von den Haken, was sie fand und eilte in den Keller. Der siebte Schlüssel passte und sie konnte ihren Bruder befreien.
"Nichts wie weg hier!", keuchte sie. "Noch ist sie bewusstlos."
"Sie ist nicht tot?", fragte Hansi ungläubig.
"Ich weiß nicht."
"Ich seh mal nach."
Hansi war sich absolut sicher, ihre Gefängniswärterin war im Nirvana.
"Ich finde, wir sollten es uns erstmal gemütlich machen.", meinte er.
"Nein, wir müssen schnell weg.", sagte Greta. "Bevor der Mann zurück kommt."
"Der kommt doch erst in ein paar Tagen.", meinte Hansi. "Wo willst du denn hin, wenn wir weglaufen? Nach Hause? Zu den Kaputten?"
"Aber wenn er früher wieder kommt? Lass uns schnell weg hier, zum Jugendamt oder so."
"Später", sagte Hansi. "Jetzt plündern wir erstmal den Kühlschrank und dann gucken wir, was wir so an Geld finden."
Sie fanden frischen Aufschnitt, Toastbrot und Butter, machten sich einen warmen Kakao auf dem Herd und aßen, bis sie satt waren. Dann durchsuchten sie alle Räume, jeden Schrank, jede Schublade, jede Tasche. Schließlich fanden sie einen ziemlichen Batzen Bargeld, Hansi zählte mehr als zehntausend Euro, damit konnte man schon etwas machen. Sie teilten es unter sich auf und machten sich auf den Weg zur Straßenbahn. "Ich will nicht zum Jugendamt.", sagte Hansi plötzlich. "Die sperren uns auch nur ein."
"Aber wo sollen wir dann hin?", fragte Greta.
"Erstmal nach Hause.", erwiderte Hansi. "Da sind ja unsere ganzen Sachen."
"Ja, stimmt.", sagte Greta. "Dann sehen wir weiter."
Sie holten den Wohnungsschlüssel aus dem Geheimversteck und schlossen auf. Niemand war zu Hause. Sie warfen sich auf ihre Betten und atmeten durch. Für einen Moment waren sie in Sicherheit. Dann aber hörten sie einen Schlüssel in der Wohnungstür. An den Schritten erkannten sie ihre Mutter. Die bemerkte gleich, dass die Jacken der Kinder an der Garderobe hingen.
"Da seid ihr ja wieder!", rief sie voller Freude und stürmte ins Kinderzimmer. "Ralf habe ich rausgeschmissen, jetzt wird alles gut."
Greta weinte vor Erleichterung und ihre Hand glitt zur Hosentasche, jetzt konnten sie der Mama endlich helfen, jetzt brauchte die Mama sich keinen schrecklichen Kerl mehr ins Haus holen. Doch Hansi hielt Gretas Arm fest und sah ihr entschlossen in die Augen. Sie verstand, auch wenn sie sich fragte, warum sie der Mutter nicht helfen sollte, aber sie hörte auf ihren Bruder und schwieg.
"Ich mache Rührei für euch.", sagte die Mutter und verschwand in der Küche.
"Sie hat nichts unternommen.", flüsterte Hansi. "Als wir verschwunden sind, hat sie nicht nach uns gesucht und auch nicht die Polizei angerufen. Aber das machen wir jetzt. Wir geben ihr gar nichts. Wir verstecken unsere Kohle in unseren Schulsachen oder so."
Etwa eine halbe Stunde später standen zwei Beamte vor der Tür, nach weiteren dreißig Minuten eine Mitarbeiterin des städtischen Jugendamtes. Sie packten ihre Sachen, die Mutter wurde vernommen und dann ging es fort in eine ungewisse Zukunft, aber eine voller Hoffnung auf bessere Zeiten.
Die Kinder, Hansi und Greta, waren zwölf und zehn Jahre alt, ihre Mutter hatte nie einen Beruf gelernt und der Vater war vor Jahren gestorben. Seit einem Jahr war die Mutter mit einem neuen Mann zusammen, der hatte auch keine Arbeit und bekam auch kein Geld mehr vom Staat, weil er immer seine Termine verpasste.
Das Essen in den Geschäften war entsetzlich teuer geworden, weil Seuchen, Krieg und Klimawandel so viele Ernten und Handelswege zerstörten, dass nur noch reiche Menschen es sich leisten konnten, regelmäßig einkaufen zu gehen. Das wenige Geld vertranken und verrauchten die Eltern und schickten die Kinder zur Tafel, um Essen zu holen. Hier wurden sie aber oft von Erwachsenen beiseite geschubst, denn immer mehr Menschen im Land litten große Not, sodass die Kinder häufig mit leeren Händen heimkehrten. Dann gab es Schläge.
Eines Nachts hörten die Kinder, wie die Eltern sich anschrien. "Die fressen uns die Haare vom Kopf und steuern nichts bei!", brüllte der Stiefvater.
"Die steuern mehr bei als du!", schrie die Mutter.
"Aber sie verfressen mehr als sie ranschaffen.", erwiderte der Stiefvater. "Ich werde dafür sorgen, dass sie was einbringen. Gleich morgen. Ich habe Kontakte."
Die Kinder fürchteten sich in ihren Betten, aber sie hatten keine Idee, wie sie den Plänen des Stiefvaters entkommen konnten. Sie wussten ja nicht einmal, was er vorhatte.
Als sie morgens erwachten und es wie gewöhnlich kein Frühstück gab, aber auch keine Schule, weil Ferien waren, wollten sie die Wohnung verlassen, ein wenig Geld zusammenbetteln und sich davon ein Brötchen und einen Kakao kaufen. Doch die Wohnungstür war verriegelt, der Schlüssel unauffindbar und die Eltern lagen im Bett und schnarchten. Sie stanken nach Schnaps, Zigaretten und ungesunden Fürzen. Schon bald piepte ein Wecker. Der Stiefvater erhob sich widerwillig, ging aufs Klo und schlurfte in die Küche. "Waschen, kämmen und was Sauberes anziehen!", fuhr er die Kinder an. Dann machte er sich einen Instant-Kaffee und rauchte eine seiner stinkenden Discounter-Zigaretten.
Hansi und Greta gingen unschlüssig ins Bad. Der Stiefvater kam hinterher, drehte die Dusche auf und riss ihnen die Kleidung herunter. "Los, unter die Brause!", blaffte er sie an. Dann spritzte er Duschgel auf ihre nackten Körper. "Überall einseifen, vor allem in der Ritze!", befahl er. Die verängstigten Kinder gehorchten. Sie trockneten sich mit einem fadenscheinigen Handtuch ab und suchten in ihrem Zimmer nach sauberer Kleidung. Es gab nichts Schönes, aber halbwegs saubere und heile Sachen waren noch da. Dann kämmten sie die nassen Haare. Einen Haartrockner gab es schon lange nicht mehr.
"Beeilt euch!", tönte es aus der Küche. Der Stiefvater rasselte mit dem Schlüsselbund. "Los jetzt! Nehmt Eure Monatskarten mit. Wir machen einen Ausflug."
Mit der Straßenbahn ging es raus bis zur Endstation, von da eine Strecke zu Fuß durch den Stadtwald, bis sie schließlich an ein ziemlich heruntergekommenes, aber großes Haus gelangten. Es war wunderschön gelegen, so mitten im Grünen, aber auch ohne Nachbarn oder andere Leute, die vorbei kamen.
Der Stiefvater klingelte und eine eigenartige, ältere Frau öffnete die Tür. Ihre Haare waren von einem schrillen, künstlichen Rot, die Augäpfel gelblich, die Haut zerfurcht und am Kinn und unter der Nase sprossen drahtige Barthaare.
"Na, was seid ihr denn für zwei Herzchen?", fragte sie mit einer freundlichen Reibeisenstimme, so tief, dass sie auch zu einem Mann gepasst hätte.
"Für Günni", sagte der Stiefvater. "War so abgemacht. Ist er da?"
"Komm rein!", sagte die Frau. "Günni ist in seinem Arbeitszimmer. Und ihr zwei kommt mit mir in die Küche. Da gibt?s Cola und ich mach euch Pfannkuchen."
Hansi und Greta waren sehr hungrig und ließen sich nicht lange bitten. Die Cola half gegen die schlimmste Schmacht, und schon bald landeten goldgelbe Eierkuchen, bestreut mit Zucker auf ihren Tellern: heiß, süß, fettig und nahrhaft. Sie aßen alles auf, bis ihre Bäuche prall gespannt waren.
Inzwischen schloss ihr Stiefvater mit Günni das Geschäft seines Lebens ab. Dreihundert Euro pro Kind und Quartal. "Mehr geht nicht.", erklärte Günni. "Ich hab' ja auch Kosten. Die wollen essen, brauchen Platz und die Hälfte der Zeit müssen die erst mal lernen. Dann filmen wir sechs Wochen und dann kannst du sie entweder wieder abholen oder wir verlängern. Wenn's gut läuft, gibt's fürs zweite Quartal das Doppelte. Wenn du mir neue Kontakte beschaffst, gibt's noch mal?n Zwanni Vermittlungsgebühr pro Blag, die zieh' ich dem Lieferanten dann ab."
"Alles klar.", sagte der Stiefvater. Zum Abschied blickte er noch einmal in die Küche und sagte: "Ihr bleibt hier, bis ich euch abhole. Und meckert nicht. Ihr kriegt hier Essen und ein warmes Bett. Also benehmt euch."
Als die beiden im Bett lagen, sagte Hansi: "Hier haben wir es echt gut getroffen. Ist viel besser als zu Hause."
In der Nacht wurde Greta wach. Nebenan unterhielt sich die Alte mit Günni: "Morgen gehen wir mit den beiden in den Tierpark. Pommes, Eis, Spielplatz, das ganze Programm.", sagte Günni. "Dann kommen sie in den Keller. Das musst du allein machen. Ich muss nach Uffeln, das Team zusammentrommeln. In einer Woche bin ich wieder da."
Als die Erwachsenen sich nicht mehr mucksten, schlich Greta aus dem Schlafzimmer und ging auf Zehenspitzen in den Keller. Hier gab es Räume mit sinnlos abgestellten Möbeln, seltsamen Gegenständen mit Ketten und Lederriemen und auf einem Bildschirm öffnete sich ein schreckliches Bild, als Greta sich versehentlich auf einer Computer-Tastatur abgestützt hatte. Zwei Kinder mit tränenüberströmten Gesichtern, die von zwei lachenden Männern gequält wurden. Sie verstand nicht, was wirklich auf diesem Bild passierte, nur dass es unfassbar grausam war und sie war sich sicher, dass Hansi und ihr dasselbe Schicksal bevorstand.
Greta schlich zurück ins Bett, weckte ihren Bruder und erklärte, was sie gesehen hatte. "Du hast nur schlecht geträumt.", maulte er. "Schlaf weiter, hier ist es toll."
Am kommenden Morgen war Greta tatsächlich unsicher, ob sie alles nur geträumt hatte, doch wie angekündigt kam es nach einem Frühstück mit frischen Brötchen und Nuss-Nougat-Creme zu einem Ausflug in den Tierpark, mit Spielplatzbesuch, Pommes zum Mittagessen und leckerem Eis zum Nachtisch. Als sie wieder am Haus ankamen, setzte Günni sie ab und fuhr weiter. Die Alte ging mit ihnen hinein und sagte: "So, und jetzt gehen wir auf den Spielplatz, der ist direkt hier im Haus. Da staunt ihr, was?"
Sie schickte die beiden vor in den Keller und dort war alles, wie Greta es in der Nacht gesehen hatte, nur der Bildschirm war weg und stattdessen lagen die Kopfkissen und Bettdecken der letzten Nacht nun auf einem breiten Bett mit Gitterstäben an Fuß- und Kopfende. Schnell wie der Blitz verschwand die Alte durch die Tür und schloss von außen ab. "Spielt schön.", schnarrte sie.
"Ich muss aufs Klo!", rief Greta.
"Nimm den Eimer.", antwortete die Alte und schlurfte die Kellertreppe hinauf.
"Glaubst du mir jetzt?", fragte Greta.
"Wieso?", fragte Hansi. "Ist doch ein super Spielplatz. Guck mal die Schaukel." Er kletterte auf ein Schaukelbrett mit einer seltsamen Form, das war so breit, dass Beide Kinder nebeneinander darauf Platz gefunden hätten. "Die ist vielleicht groß, ist bestimmt für Erwachsene.", meinte Hansi
"Nein, die ist zum Kinder quälen.", hielt Greta dagegen. Ich habe es selbst gesehen.
"Das hast du geträumt."
"Ich war letzte Nacht hier drin. Wenn ich nur geträumt hätte, woher hätte ich wissen sollen wie es hier aussieht? Und warum werden wir hier eingesperrt?"
Hansi hielt inne. Er dachte nach. "Scheiße.", entfuhr es ihm dann.
"Der Mann kommt erst in einer Woche zurück.", meinte Greta. "Wir sind mit der Alten allein. Wir müssen sie dazu bringen, dass sie uns raus lässt."
"Aber wie?"
"Weiß nicht."
Verzagt brüteten die Kinder vor sich hin, als sich plötzlich der Schlüssel im Schloss drehte. "Komm mal mit rauf, Kleine!", sagte die Alte zu Greta. "Du musst Kartoffeln schälen und in Scheiben schneiden. Ich kann das nicht mehr mit meiner Arthrose."
Greta wurde die Treppe hoch gescheucht, Hansi blieb eingesperrt.
"Warum kann Hansi nicht auch helfen?", fragte Greta.
"Nein, nein.", erwiderte die Alte. "Jungs in dem Alter sind unberechenbar. Nachher läuft der mir noch weg. Los beeil dich, wir essen zeitig."
Greta war nicht gut im Kartoffeln schälen und die Alte schimpfte mit ihr und schlug ihr ins Gesicht. Das Kinder Quälen hatte also begonnen. Als sie die Kartoffeln vorbereitet hatte, briet die Alte sie in einer Großen Pfanne an, füllte sie in eine gefettete Auflaufform, streute Röstzwiebeln darüber, flüssiges Ei und schließlich geriebenen Käse. Dann schob sie das Gericht in den vorgeheizten Backofen.
"So.", sagte sie. "In einer Dreiviertelstunde ist das fertig und morgen schiebe ich die Reste in die Mikro. Jetzt wasch mal das Geschirr ab, Spülmaschine haben wir nicht."
Greta reinigte das Geschirr und als sie alles gespült und abgetrocknet hatte, trieb die Alte sie vor sich her, um sie wieder in den Keller zu sperren.
Greta berichtete Hansi von ihren Erlebnissen. Er war wütend und schockiert. "Morgen kommt das Essen in die Mikrowelle, hast du gesagt?"
"Ja", sagte Greta. "Die Reste."
"Ich habe mal einen Film gesehen", sagte Hansi, "da hat einer eine Mikrowelle komplett unter Strom gesetzt. Aus Versehen. Da lag so ein Kabel, das war kaputt. Also wenn du morgen wieder helfen musst und da steht ein Mixer `rum oder eine Kaffeemaschine, dann könntest du das Kabel durchschneiden, einstöpseln und das Ende an die Mikrowelle legen. Wenn sie dann die Tür aufmacht, kriegt sie voll einen gewischt. Dann musst du ihr nur noch den Schlüssel abnehmen und mich raus lassen und dann hauen wir ab. Aber du musst aufpassen, du darfst sie nicht anfassen, wenn sie noch unter Strom steht, sonst erwischt es dich auch."
Das Abendessen wurde auf schmuddeligen Tellern serviert, so kärglich, wie sie es von zu Hause gewohnt waren und so ähnlich schmeckte es auch. Für ihre Notdurft mussten sie tatsächlich den Eimer in der Ecke benutzen und es begann, übel zu riechen in dem Kellerloch. Am nächsten Morgen kam die Alte und schimpfte: "Hier stinkts ja wie im Schweinestall! Bring mal den Eimer aufs Klo, Kleine!", raunzte sie Greta an und stellte eine Lüftung an, die den fensterlosen Raum mit Frischluft versorgte, ihn aber auch deutlich abkühlte. Greta musste wieder spülen, das Bad putzen und am Ende auch die Küchenfronten sauber schrubben. Dabei fiel ihr Blick auf ein unnützes Küchenutensil, einen Eierkocher, so etwas hatte sie mal bei einer Freundin zu Hause gesehen und dieser sah nicht so aus, als werde er regelmäßig benutzt. Es würde kaum auffallen, wenn das Kabel durchtrennt war. Eine Schere hing griffbereit an der Wand.
Sie wurde wieder in den Keller gesperrt, die Kinder bekamen eine alte Colaflasche mit Leitungswasser und wurden wieder sich selbst überlassen. Am Abend brachte die Alte aufgewärmten Auflauf. Das hatte nicht geklappt. Natürlich brauchte sie keine Hilfe, um etwas in die Mikrowelle zu stellen.
Sie verbrachten einen weiteren Tag in der Hölle, doch am dritten Morgen im Keller holte die Alte Greta wieder nach oben, um Kaffee-Bohnen zu mahlen. Sie selbst musste plötzlich dringend zur Toilette. "Wenn ich wieder komme, bist du fertig, sonst setzt es was!", keifte sie. Greta nutzte die Gelegenheit, griff nach der Schere und begann das Kabel des Eierkochers zu bearbeiten. Das war aber viel schwieriger, als sie erwartet hatte. Das Plastik war fest, die Drähte im Inneren noch viel härter und die Schere alt, stumpf und abgegriffen. Voller Panik wühlte sie in der Besteckschublade und fand ein neueres Gemüsemesser. Hiermit schaffte sie es schließlich gerade noch rechtzeitig, das Kabel zu durchtrennen. Die heraus schauenden Drähte steckte sie in kleinere Öffnungen in der Rückwand der Mikrowelle, erst dann schob die den Netzstecker in die Dose und drehte den Eierkocher so, dass das abgeschnittene Kabel nicht auffiel. Als die Alte von der Toilette zurückkam, saß sie unschuldig auf einem Stuhl, die volle Kaffeemühle auf dem Schoß und nicht eine Bohne war gemahlen.
"Zeig her!", zischte die Alte. Sah hinein und fauchte dann: "Da ist ja noch gar nichts! Du faules Stück, ich habe gesagt du sollst den Kaffee mahlen, nicht träumen!"
"Ich weiß nicht wie das geht.", log Greta.
"Ganz einfach drehen, so wie ?ne Drehorgel, immer in die Runde. Meine Fresse, ich wusste gar nicht wie blöd du bist."
Sie gab Greta die Mühle zurück und diese drehte und mahlte den Kaffee, sodass sich bald ein wohliger Duft in der Küche ausbreitete.
"Na geht doch.", sagte die Alte versöhnlich. "Soll ich euch Kakao machen? Ist noch genug Milch da."
"Au ja.", sagte Greta und sah, dass die Rechnung aufging. Ihre Peinigerin füllte Milch in zwei Tassen und griff an die Tür der Mikrowelle, um sie zu öffnen, doch dazu kam sie nicht mehr. Zuerst erstarrte sie, dann begann sie heftig zu zittern und schließlich fiel sie einfach um. War sie tot oder nur bewusstlos? Ihre schreckgeweiteten gelben Augen bewegten sich nicht, aber Greta wagte nicht sie zu durchsuchen, um an den Kellerschlüssel zu gelangen. Sie lief ziellos durchs Haus und entdeckte plötzlich im Eingangsbereich ein Schlüsselbrett. Sie nahm alles von den Haken, was sie fand und eilte in den Keller. Der siebte Schlüssel passte und sie konnte ihren Bruder befreien.
"Nichts wie weg hier!", keuchte sie. "Noch ist sie bewusstlos."
"Sie ist nicht tot?", fragte Hansi ungläubig.
"Ich weiß nicht."
"Ich seh mal nach."
Hansi war sich absolut sicher, ihre Gefängniswärterin war im Nirvana.
"Ich finde, wir sollten es uns erstmal gemütlich machen.", meinte er.
"Nein, wir müssen schnell weg.", sagte Greta. "Bevor der Mann zurück kommt."
"Der kommt doch erst in ein paar Tagen.", meinte Hansi. "Wo willst du denn hin, wenn wir weglaufen? Nach Hause? Zu den Kaputten?"
"Aber wenn er früher wieder kommt? Lass uns schnell weg hier, zum Jugendamt oder so."
"Später", sagte Hansi. "Jetzt plündern wir erstmal den Kühlschrank und dann gucken wir, was wir so an Geld finden."
Sie fanden frischen Aufschnitt, Toastbrot und Butter, machten sich einen warmen Kakao auf dem Herd und aßen, bis sie satt waren. Dann durchsuchten sie alle Räume, jeden Schrank, jede Schublade, jede Tasche. Schließlich fanden sie einen ziemlichen Batzen Bargeld, Hansi zählte mehr als zehntausend Euro, damit konnte man schon etwas machen. Sie teilten es unter sich auf und machten sich auf den Weg zur Straßenbahn. "Ich will nicht zum Jugendamt.", sagte Hansi plötzlich. "Die sperren uns auch nur ein."
"Aber wo sollen wir dann hin?", fragte Greta.
"Erstmal nach Hause.", erwiderte Hansi. "Da sind ja unsere ganzen Sachen."
"Ja, stimmt.", sagte Greta. "Dann sehen wir weiter."
Sie holten den Wohnungsschlüssel aus dem Geheimversteck und schlossen auf. Niemand war zu Hause. Sie warfen sich auf ihre Betten und atmeten durch. Für einen Moment waren sie in Sicherheit. Dann aber hörten sie einen Schlüssel in der Wohnungstür. An den Schritten erkannten sie ihre Mutter. Die bemerkte gleich, dass die Jacken der Kinder an der Garderobe hingen.
"Da seid ihr ja wieder!", rief sie voller Freude und stürmte ins Kinderzimmer. "Ralf habe ich rausgeschmissen, jetzt wird alles gut."
Greta weinte vor Erleichterung und ihre Hand glitt zur Hosentasche, jetzt konnten sie der Mama endlich helfen, jetzt brauchte die Mama sich keinen schrecklichen Kerl mehr ins Haus holen. Doch Hansi hielt Gretas Arm fest und sah ihr entschlossen in die Augen. Sie verstand, auch wenn sie sich fragte, warum sie der Mutter nicht helfen sollte, aber sie hörte auf ihren Bruder und schwieg.
"Ich mache Rührei für euch.", sagte die Mutter und verschwand in der Küche.
"Sie hat nichts unternommen.", flüsterte Hansi. "Als wir verschwunden sind, hat sie nicht nach uns gesucht und auch nicht die Polizei angerufen. Aber das machen wir jetzt. Wir geben ihr gar nichts. Wir verstecken unsere Kohle in unseren Schulsachen oder so."
Etwa eine halbe Stunde später standen zwei Beamte vor der Tür, nach weiteren dreißig Minuten eine Mitarbeiterin des städtischen Jugendamtes. Sie packten ihre Sachen, die Mutter wurde vernommen und dann ging es fort in eine ungewisse Zukunft, aber eine voller Hoffnung auf bessere Zeiten.
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