Freitag, 1. April 2022
Verhältnismäßig
Eine Million für die neuen Brandschutzmaßnahmen. Einhunderttausend als Jahresgehalt für den Theologen. Zehntausend für den Kaffeeautomaten. Eintausend für den neuen Bürostuhl. Einhundert für das Abschiedsgeschenk des anderen Theologen. Zehn für die Jugendgruppe. Die schaffen das selbstständig. Lauter Pfundskerle und patente Mädels. Muss keiner hingucken. Guckt auch keiner hin. Jetzt ist Jennifer in der Psychiatrie. Wollte sich suizidieren. Kein Wunder, wenn der smarte Jugendgruppenleiter sie benutzt hat wie einen Einweghandschuh. Empörung. Suche nach Schuldigen. Fünf-und-zwanzig-tausend im Jahr hätten gereicht.

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Samstag, 26. März 2022
Vertrauenssache
Ich fahre schon viel zu lange auf Fortbildungen - denkt Carola - Es geschieht nichts Neues unter der Sonne. Ach ja, immer die gleichen blöden Spiele.
Sie ärgert sich, dass sie neben Yvette sitzt, denn wenn schon ein Spiel mit Anfassen und Augen zu angeordnet wird, dann würde sie es gern mit Benni spielen, aber sie fügt sich in ihr Schicksal. Man ist ja keine Mimose.
"Willst du führen oder geführt werden?", fragt Carola.
"Wir tauschen bestimmt.", erwidert,e Yvette. "Ich kann dich aber gern zuerst führen."

Na gut - denkt Carola - Augen zu und durch. Muss sie der fetten Yvette wenigstens nicht in das bräsige, selbstzufriedene Grinsegesicht sehen. Die Übung hätte man sich sparen können. Kennen doch alle. Kurze Imaginationspause und weiter.

Yvette riecht unangenehm: eine verheerende Mischung aus altem, süßlich-säuerlich riechendem Schweiß und aufdringlichen Duschgel- und Deo-Düften zieht Carola in die Nase, den Rachen, das limbische System. Widerlich. Yvettes fleischige, schwitzige Patschehändchen, ihre gepresste Stimme, der man die Adipositas direkt anhört.

"Jetzt gehen wir durch die Tür. So, noch ein paar Meter und jetzt bleiben wir hier vor dem Fahrstuhl stehen."

Fahrstuhl? - denkt Carola alarmiert. - Oh Gott! Nein! Carola möchte nicht mit Yvette in einen engen Raum. Ist sie überhaupt geimpft? In einer Vier-Quadratmeter-Box konzentriert sich der Gestank und womöglich entweichen ihr zusätzlich intensive Darmwinde oder Schlimmeres bei den Fleischbergen, die sie täglich verschlingt.
Aber Carola ist zu höflich, um zu widersprechen. Sie betritt folgsam das Gefängnis auf Zeit und muss sich beherrschen, um ihren Phantasien Einhalt zu gebieten. Eine Fahrt in den Keller, ein abgelegener, dunkler Raum, in dem schon Reparaturband, Heizungsrohre, Kabelbinder und spitze Gegenstände warten.
Aber der Fahrstuhl fährt nach oben. Ist ja auch Quatsch. Warum sollte Yvette ihr etwas antun?

Mit jedem Meter, den der Fahrstuhl höher fährt, wächst Yvettes Selbstvertrauen und ihre Vorfreude. Sie hat alle Macht über Carola, diese perfekte Kollegin mit dem durchtrainierten BMI-20-Körper, mit der feinporigen, ebenmäßigen Vegetarierhaut, mit all ihren Vorzeige-Fortbildungen, der dezidierten Ausdrucksweise, dem unerschütterlichen Selbstbewusstsein und der vernichtenden Arroganz.
Yvette spürt es, wenn Carola an ihr vorbei sieht, sie nicht fragt, ob sie mitmachen will und beredt schweigt, wenn Yvette sich eingebracht hat. Keine Resonanz, aber die klare Botschaft: Du darfst nicht mitspielen, weil du es nicht kannst und weil du nicht gesellschaftsfähig bist.
Carola stand immer oben, Yvette immer unten. Die Fahrstuhltür öffnet sich.

"So, jetzt hier durch die Brandschutztür, dann kommen wir in den großen Saal. - Ach guck, die lüften aber gründlich. Komm, wir gehen jetzt mal ans Fenster, da fühlst du die Sonne auf deiner Haut."
"Was ist das denn hier für ein Fußboden?", fragt Carola.
Yvette zögert mit der Antwort. Sie führt Carola energisch an das Ende des Flachdachs. Dann sagt sie: "Kies." und gibt Carola einen kräftigen Stoß.

Ihr Schrei hat etwas Erregendes. Der Aufprall klingt nach Erlösung. Sie wird sich wohl nicht herauslügen können. Aber wenigstens diesmal hat sie gewonnen.

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Freitag, 18. März 2022
Unter Wölfen
Er hielt sich dicht am Boden. Hier wo die Erde nahezu die gleichen Farbschattierungen aufwies wie sein graubraunes Fell, standen seine Chancen, nicht bemerkt zu werden, besonders gut. Es war ein fettes, altes Kaninchen. Es war langsam, schwerhörig und halbblind, das konnte gar nicht daneben gehen. Das durfte auch nicht daneben gehen, denn er brauchte dringend eine stärkende Mahlzeit. Seit drei Tagen schob er Hunger, genauso wie alle anderen. Dieses Kaninchen würde ihn satt machen und sein Mädchen dazu - zumindest vorerst. Dann hätte er wieder Kraft für weitere Strecken. Vielleicht ein Reh für das ganze Rudel, oder ein Schaf.

Der alte Klopfer kam immer näher. Seine Hinterläufe spannten sich an, sprungbereit, kraftvoll. Dann war die Beute so nah, dass er sie riechen konnte. Er schoss hervor, doch der Nager hatte ihn in letzter Minute gewittert und war blitzschnell in ein Erdloch geschlüpft. Das Tier würde heute nicht mehr heraus kommen.

Ermattet und verzweifelt drehte er sich um. Er sah in die Augen seines schwächsten Nachwuchses. Der hatte ihn die ganze Zeit über still beobachtet, hatte alles mitbekommen. Er hatte den alten Leitwolf in einem Moment der Schwäche erlebt, war Zeuge seines Versagens geworden. Ob er sich künftig weiter kleinhalten ließ? Er würde ihn aus dem Rudel jagen müssen, aber was, wenn er die anderen Wölfe spüren ließ, was er gesehen hatte? Wenn er keine Angst mehr hatte, keinen Respekt, wenn er aufbegehrte, obwohl er das schwächste Glied der Kette war?
Es half nichts. Er musste ihn ausschalten. So viel Kraft hatte er noch. Und dann gab es auch wieder Nahrung.

Der junge Wolf sah es in seinen Augen, aber er begriff zu spät. Der Leitwolf überlebte. Vorerst.

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Freitag, 11. März 2022
Entscheidung
Radweg, Grünstreifen, Kanal. Anouk, Jochen Kemper

ANOUK: Maggie! Maggie, wo hast du dich denn versteckt?

Jochen Kemper nähert sich mit dem Rad.

JOCHEN KEMPER: Probleme mit dem Babysitten?
ANOUK: Ich suche meine Katze.
JOCHEN KEMPER: Ach die kommt schon von alleine. Spätestens, wenn sie Hunger hat.
ANOUK: Kümmern Sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten.
JOCHEN KEMPER: Na hör mal, du Rotzgöre! Wie redest du denn mit mir? Ihr wollt doch mit eurer Jugendgruppe weiter ins Gemeindehaus. Und ich gehöre immerhin zu Presbyterium.
ANOUK: Der Presbyter, der nie auf unserer Seite steht, auch nicht, wenn wir eindeutig im Recht sind.
JOCHEN KEMPER: Wer Rechte haben will, muss auch Pflichten erfüllen.
ANOUK: Ja genau. Zum Beispiel die Pflicht, das Rauchverbot durchzusetzen.
JOCHEM KEMPER: Ihr dürft sowieso nicht rauchen.
ANOUK: Ich spreche ja auch von den Kette rauchenden Alkoholikern aus dem Literaturkreis.
JOCHEN KEMPER: Wir sind keine Alkoholiker!
ANOUK: Die Betroffenen sind immer die Letzten, die es merken.

Anouk fokussiert plötzlich das Wasser. Offensichtlich ist die Katze in den Kanal gefallen und kann nicht heraus.
Jochen Kemper fasst sich plötzlich an die Brust, ringt nach Luft, kippt vom Rad.
Anouk beginnt, sich die Kleider vom Leib zu reißen und klettert eine der Leitern hinunter, die in den Kanal führen. Sie schwimmt auf die Katze zu, die panisch flieht.

ANOUK: Maggie, hab keine Angst, ich bin es doch, jetzt komm zu mir.

Anouk paddelt verzweifelt hinter der Katze her

ANOUK: Maggie, komm, ja, jetzt hab ich dich. Alles wird gut.

Anouk paddelt mit der Katze zur Leiter zurück. Und klettert mit dem verängstigten Tier ans Ufer.

ANOUK: Dumme, kleine Maggie. Ich lasse dich doch nicht ertrinken.

Jochen Kemper liegt neben seinem umgestürzten Fahrrad. Anouk starrt ihn an. Dann geht sie langsam zu ihrer Jacke und kramt das Mobiltelefon aus der Tasche.

ANOUK: Ja, Hallo? Ich bin hier am Mittellandkanal in Südhemmern, unterhalb der Brücke, die durchs Moor führt. Hier liegt jemand neben seinem Fahrrad, er ist bewusstlos? Nein, ich kann hier nicht bleiben, ich muss jemanden nach Hause bringen, der sich sonst erkältet.

Anouk legt auf, wickelt die Katze in ihren Pullover und schlüpft unbeholfen in die Jacke. Sie hält die Katze im rechten Arm, mit der Linken nimmt sie ihre restlichen Sachen, dann stellt sie sich kurz vor Jochen Kemper auf.

ANOUK: Ich konnte nicht eher anrufen. Ich musste zuerst Maggie retten. Maggie ist immer auf meiner Seite. Vielleicht werden sie ja gerettet. Wäre ich nicht hier gewesen, würden Sie hier alleine sterben.

Anouk geht ab. Jochen Kemper bleibt liegen.

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