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Freitag, 4. Februar 2022
# Eiskalter Januar - Kurzkrimi in vier Teilen - 4. Hoffnung
c. fabry, 19:04h
Er würde jämmerlich ertrinken, vielleicht vorher schon erfrieren, denn seine Zähne klapperten fürchterlich, er spürte seine Finger schon nicht mehr, was angesichts der Verletzungen, die er sich beim Durchtrennen der Handfesseln zugezogen hatte, der einzige Vorteil in seiner Lage war. Wie kam man eigenständig aus dem Schlick, wenn man mit einem Fuß eingesunken war? Da gab es doch einen Trick. Hinlegen, um das Gewicht günstiger zu verteilen. Und dann über die Seite rollen. Schuhe stecken lassen. Und dann kleine, schnelle Schritte, um aus dem Treibsand-Gebiet herauszukommen, ohne direkt wieder einzusinken. Er brauchte ein Weile, aber es ging voran. Langsam konnte er das Bein wieder aus dem Schlamm ziehen. Den Schuh musste er verloren geben, den anderen zog er auch aus. Dann richtete er sich vorsichtig auf, spürte, ob der Sand ihn an der gewählten Stelle trug, und lief nun mit kleinen, kurzen, aber zügigen Schritten auf ein paar kleine Lichter zu, die aus dem Ortskern von Horumersiel hinüber schienen.
Da war wieder Hoffnung, ein Triumph-Gefühl, er war dem Schicksal von der Schippe gesprungen oder hatte dem Tod ein Schnippchen geschlagen oder umgekehrt. Solche Spitzfindigkeiten waren ihm jetzt egal, Hauptsache, er erreichte das rettende Ufer und menschliche Behausungen, in denen er sich rasch Hilfe holen konnte. Noch ein paar Schritte und er hatte den rettenden Deich erreicht. Er rannte die Steigung hinauf und spürte den eisigen Wind auf seiner bereits ausgekühlten, feuchten Haut. Die nasse Kleidung tat ihr Übriges. Er zitterte gegen den Kältetod an, klapperte mit den Zähnen und stolperte den Deich entlang, seinen Rettern entgegen.
Plötzlich nahm er von hinten Geräusche wahr. Er konnte sie nicht einordnen, aber sie wurden nicht vom Wind verursacht. So etwas wie Hufgetrappel, aber im falschen Rhythmus, und dumpfer. War ihm da eine Schafherde auf den Fersen, weil er vom Leithammel als Bedrohung eingestuft worden war? Das wäre ja jämmerlich, wenn er nach all den Torturen von den Symbolen christlicher Opferbereitschaft und Schicksalsergebenheit zu Tode getrampelt würde. Über den Haufen gerannt von den Lämmern Gottes. Die Rache der Lämmer. Ihm schoss nur noch Schwachsinn durch den Kopf. Verdammt, er musste sich konzentrieren. Vielleicht einfach runter vom Deich, Richtung Straße, über den Zaun und er wäre sicher vor den aufgescheuchten Tieren. Er schoss den Hang hinunter, kletterte hektisch über den Schafdraht, zum Glück keine Stacheln und kein Strom, dachte er, rannte nun auf der Straße, langsam wurde ihm wieder wärmer, er dachte auch gar nicht mehr an das Risiko eines Muskelrisses, er wollte sich nur noch in Sicherheit bringen.
Das Getrappel war immer noch zu hören. Und es kam näher.
Schließlich hörte er Stimmen. Kein Geblöke, menschliche Stimmen. Männliche Stimmen aus rauen Kehlen.
"Gleich haben wir ihn!", hörte er.
"Los Bruni, zieh der Ratte eins über."
Die Schritte kamen bedrohlich nahe. "Gleich", dachte Jan, "Gleich haut der Stinkmorchelkopf mir mit seinem Baseballschläger den Schädel ein. Aber ich will nicht! Ich will nicht!"
Er holte alles aus sich heraus, was noch da war. Seine Lunge brannte wie Feuer. Wütendes Bellen ertönte, kam näher. Von der Seite kamen zwei deutsche Schäferhunde angesprungen. Wo hatten sie die beiden Tölen denn bisher versteckt gehalten? Im Kofferraum? Das war das Ende. Nazis mit Nazihunden auf den Fersen, denen konnte nicht einmal der sportliche Jan entkommen. Er machte noch einen verzweifelten Schritt, stolperte über ein Schlagloch und fiel hin. Er stand nicht wieder auf. Wie ein gejagtes Wildtier ergab er sich in ein Schicksal, er war nur noch Beute. Gleich würden die Hunde ihn zerreißen und er war das Lamm, das die Schmerzen ertrug. Es würde nicht lange dauern.
Aber die Hunde kamen nicht zu ihm. Er hörte aufgeregtes Stimmengewirr. "Ruf deine Scheiß Köter zurück, du Sau!"
"Fuck, die Bestie hat mich gebissen! Das wird teuer!"
"Au! Scheiße, was ist das?"
"Taser.", antwortete eine ruhige, friesische Männerstimme. "Eigentlich für die Schafe, wenn die ausbüxen. Geht aber auch für Lumpenhunde."
Der Hundebesitzer ging auf Jan zu.
"Mensch bist du nicht der Pastor?"
"Ja", stieß Jan hervor.
"Ich bin der Hanno vom Hansenhof. Kannst du mit diese neumodischen Telefone umgehen? Ich hab dem Burschen da seins abgenommen."
"Ja", antwortete Jan, "aber warum?"
"Kannst doch mal die Polizei rufen."
"Stimmt.", sagte Jan. "Das geht sogar ohne PIN."
Hanno reichte ihm das Mobiltelefon und Jan wischte über die Schaltfläche, bis "Notruf" auf dem Display erschien, dann wählte er. Die Verfolger hatte der Bauer mit dem Elektroschocker vorläufig außer Gefecht gesetzt und darüber hinaus hielten seine Hunde sie in Schach. Als er merkte, dass Jan kaum sprechen konnte, nahm er ihm das Smartphone ab und gab der Polizei die Position und die Sachlage durch, soweit er sie beurteilen konnte.
"Wir brauchen auch einen Rettungswagen für Maxi.", stöhnte Jan. "Er liegt in unserer Kate."
Es dauerte nur fünf Minuten da war der Kontaktbereichsbeamte vor Ort und half, die Angreifer in Schach zu halten.
"So ganz richtig war das aber nicht, was du da gemacht hast, Hanno.", sagte er.
"Goldrichtig war das.", widersprach der. "Nothilfe. Ging nicht anders. Sind richtig schwere Jungs. Guck dir die mal an."
"Trotzdem. Mit Waffen und so, das ist Sache der Polizei. Gewaltmonopol des Staates und so."
"Ja ja. Jetzt schnack mal nich' so geschwollen. Wenn man euch braucht, seid ihr nie da, alles muss man selber machen und hinterher wisst ihr alles besser. Ich hab die ja nur eingefangen und nicht kaputt gemacht. Wenn deine Kollegen da sind, könnt ihr auch gerne ohne mich weitermachen. Ich reiß mich da nich' drum."
Zehn Minuten später rückten weitere Polizisten und mehrere Rettungswagen an. Im Krankenhaus erkundigte Jan sich nach Maxis Befinden. Sie durften ihm nichts sagen, nur dass er am Leben war und auch nicht lebensgefährlich verletzt. Er würde wieder auf die Beine kommen. Jan hoffte sehr, dass der Heranwachsende durch diese Erfahrung zu Verstand käme. Er glaubte aber nicht daran. Nicht mehr. Er hoffte, dass der Junge eine Chance hatte, jemand musste an seine Fähigkeiten glauben, am Ball bleiben. Aber er wollte sich nicht mehr um das verlorene Schaf kümmern. Da mussten jetzt andere ran.
Auch bei der der Beerdigung. Maxis Oma musste ein Kollege unter die Erde bringen.
ENDE
Da war wieder Hoffnung, ein Triumph-Gefühl, er war dem Schicksal von der Schippe gesprungen oder hatte dem Tod ein Schnippchen geschlagen oder umgekehrt. Solche Spitzfindigkeiten waren ihm jetzt egal, Hauptsache, er erreichte das rettende Ufer und menschliche Behausungen, in denen er sich rasch Hilfe holen konnte. Noch ein paar Schritte und er hatte den rettenden Deich erreicht. Er rannte die Steigung hinauf und spürte den eisigen Wind auf seiner bereits ausgekühlten, feuchten Haut. Die nasse Kleidung tat ihr Übriges. Er zitterte gegen den Kältetod an, klapperte mit den Zähnen und stolperte den Deich entlang, seinen Rettern entgegen.
Plötzlich nahm er von hinten Geräusche wahr. Er konnte sie nicht einordnen, aber sie wurden nicht vom Wind verursacht. So etwas wie Hufgetrappel, aber im falschen Rhythmus, und dumpfer. War ihm da eine Schafherde auf den Fersen, weil er vom Leithammel als Bedrohung eingestuft worden war? Das wäre ja jämmerlich, wenn er nach all den Torturen von den Symbolen christlicher Opferbereitschaft und Schicksalsergebenheit zu Tode getrampelt würde. Über den Haufen gerannt von den Lämmern Gottes. Die Rache der Lämmer. Ihm schoss nur noch Schwachsinn durch den Kopf. Verdammt, er musste sich konzentrieren. Vielleicht einfach runter vom Deich, Richtung Straße, über den Zaun und er wäre sicher vor den aufgescheuchten Tieren. Er schoss den Hang hinunter, kletterte hektisch über den Schafdraht, zum Glück keine Stacheln und kein Strom, dachte er, rannte nun auf der Straße, langsam wurde ihm wieder wärmer, er dachte auch gar nicht mehr an das Risiko eines Muskelrisses, er wollte sich nur noch in Sicherheit bringen.
Das Getrappel war immer noch zu hören. Und es kam näher.
Schließlich hörte er Stimmen. Kein Geblöke, menschliche Stimmen. Männliche Stimmen aus rauen Kehlen.
"Gleich haben wir ihn!", hörte er.
"Los Bruni, zieh der Ratte eins über."
Die Schritte kamen bedrohlich nahe. "Gleich", dachte Jan, "Gleich haut der Stinkmorchelkopf mir mit seinem Baseballschläger den Schädel ein. Aber ich will nicht! Ich will nicht!"
Er holte alles aus sich heraus, was noch da war. Seine Lunge brannte wie Feuer. Wütendes Bellen ertönte, kam näher. Von der Seite kamen zwei deutsche Schäferhunde angesprungen. Wo hatten sie die beiden Tölen denn bisher versteckt gehalten? Im Kofferraum? Das war das Ende. Nazis mit Nazihunden auf den Fersen, denen konnte nicht einmal der sportliche Jan entkommen. Er machte noch einen verzweifelten Schritt, stolperte über ein Schlagloch und fiel hin. Er stand nicht wieder auf. Wie ein gejagtes Wildtier ergab er sich in ein Schicksal, er war nur noch Beute. Gleich würden die Hunde ihn zerreißen und er war das Lamm, das die Schmerzen ertrug. Es würde nicht lange dauern.
Aber die Hunde kamen nicht zu ihm. Er hörte aufgeregtes Stimmengewirr. "Ruf deine Scheiß Köter zurück, du Sau!"
"Fuck, die Bestie hat mich gebissen! Das wird teuer!"
"Au! Scheiße, was ist das?"
"Taser.", antwortete eine ruhige, friesische Männerstimme. "Eigentlich für die Schafe, wenn die ausbüxen. Geht aber auch für Lumpenhunde."
Der Hundebesitzer ging auf Jan zu.
"Mensch bist du nicht der Pastor?"
"Ja", stieß Jan hervor.
"Ich bin der Hanno vom Hansenhof. Kannst du mit diese neumodischen Telefone umgehen? Ich hab dem Burschen da seins abgenommen."
"Ja", antwortete Jan, "aber warum?"
"Kannst doch mal die Polizei rufen."
"Stimmt.", sagte Jan. "Das geht sogar ohne PIN."
Hanno reichte ihm das Mobiltelefon und Jan wischte über die Schaltfläche, bis "Notruf" auf dem Display erschien, dann wählte er. Die Verfolger hatte der Bauer mit dem Elektroschocker vorläufig außer Gefecht gesetzt und darüber hinaus hielten seine Hunde sie in Schach. Als er merkte, dass Jan kaum sprechen konnte, nahm er ihm das Smartphone ab und gab der Polizei die Position und die Sachlage durch, soweit er sie beurteilen konnte.
"Wir brauchen auch einen Rettungswagen für Maxi.", stöhnte Jan. "Er liegt in unserer Kate."
Es dauerte nur fünf Minuten da war der Kontaktbereichsbeamte vor Ort und half, die Angreifer in Schach zu halten.
"So ganz richtig war das aber nicht, was du da gemacht hast, Hanno.", sagte er.
"Goldrichtig war das.", widersprach der. "Nothilfe. Ging nicht anders. Sind richtig schwere Jungs. Guck dir die mal an."
"Trotzdem. Mit Waffen und so, das ist Sache der Polizei. Gewaltmonopol des Staates und so."
"Ja ja. Jetzt schnack mal nich' so geschwollen. Wenn man euch braucht, seid ihr nie da, alles muss man selber machen und hinterher wisst ihr alles besser. Ich hab die ja nur eingefangen und nicht kaputt gemacht. Wenn deine Kollegen da sind, könnt ihr auch gerne ohne mich weitermachen. Ich reiß mich da nich' drum."
Zehn Minuten später rückten weitere Polizisten und mehrere Rettungswagen an. Im Krankenhaus erkundigte Jan sich nach Maxis Befinden. Sie durften ihm nichts sagen, nur dass er am Leben war und auch nicht lebensgefährlich verletzt. Er würde wieder auf die Beine kommen. Jan hoffte sehr, dass der Heranwachsende durch diese Erfahrung zu Verstand käme. Er glaubte aber nicht daran. Nicht mehr. Er hoffte, dass der Junge eine Chance hatte, jemand musste an seine Fähigkeiten glauben, am Ball bleiben. Aber er wollte sich nicht mehr um das verlorene Schaf kümmern. Da mussten jetzt andere ran.
Auch bei der der Beerdigung. Maxis Oma musste ein Kollege unter die Erde bringen.
ENDE
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Freitag, 28. Januar 2022
# Eiskalter Januar - Kurzkrimi in vier Teilen - 3. Das Meer
c. fabry, 14:47h
Geistesgegenwärtig positionierte er sich mit dem Rücken zum Waschtisch und bekam das Messer mit den gefesselten Händen zu fassen. Er verbarg es so gut es ging, indem er es zwischen Hände und Rücken schob und spürte, wie er sich leicht dabei verletzte. Seine Vorsicht bewährte sich, denn Maxi trieb ihn vor sich her in die Wohnküche. Dort angekommen verpasste der Jugendliche ihm einen Tritt in die Kniekehlen, sodass er zu Boden ging. Er spielte die devote Geisel, seine einzige Chance, seinen erbarmungslosen Wärter in Sicherheit zu wiegen.
"Wo ist das Brennholz?" fragte der Junge.
Jan gab drängende Geräusche von sich, um zu verdeutlichen, dass er sich mit zugeklebtem Mund kaum würde verständlich machen können.
"Ja, is ja gut.", sagte Maxi, riss mit einem schmerzhaften Ruck das Klebeband vom Mund des Pfarrers und sah ihn erwartungsvoll an.
"Im Holzschuppen, gleich hinterm Haus." keuchte Jan.
"Alles klar." sagte Maxi.
Jan wollte die Gunst des Augenblicks nutzen und versuchen, den Heranwachsenden zur Vernunft zu bringen: "Hast du dir mal...", setzte er an. "überlegt", wollte er noch sagen und dann improvisieren, aber der Knabe klebte ihm schon wieder das Gaffertape auf den Mund. "Das reicht Pastor.", sagte er. "Du hast für immer ausgequatscht. Bleib hier liegen und rühr dich nicht, sonst lass ich mir vor deinem Abgang noch ne kleine Zugabe einfallen."
Maxi schnappte sich den Holzkorb und ging in den Garten. Er würde eine Weile brauchen, denn es war mittlerweile dunkel geworden und hier hinterm Deich leuchtete keine Straßenlaterne oder Reklame den von dichten Weiden umsäumten Garten aus. Verzweifelt hantierte Jan mit dem Messer. Er musste blitzschnell sein. Schließlich gelang es ihm, das Klebeband an seinen Händen zu durchtrennen. Er legte sich wieder hin und verbarg die gesprengten Fesseln hinter seinem Rücken.
Maxi kam zurück, schob einen Hocker vor den Kaminofen und begann, Holz aufzuschichten; nicht sehr fachmännisch, aber äußerst konzentriert. Darum hatte er auch keine Augen für seine Geisel. Jan nutzte die Gelegenheit, griff nach dem Schürhaken und schlug seinem Wärter damit kräftig auf den Schädel. Maxi jaulte auf und fuhr herum. Jans Gehirn war längst in den Sauriermodus übergegangen: keinerlei Hemmungen, keine Bedenken, er wollte das hier einfach nur überleben, darum schlug er direkt wieder zu, gezielt auf die Schädeldecke über dem schmerz- und wutverzerrten Gesicht. Er sah in die nach oben rollenden Augen, die anzeigten, dass in Maxis Kopf das Licht ausging. Vielleicht war er tot, vielleicht brauchte er ärztliche Hilfe, vielleicht kam er gleich wieder zu sich. Jan war alles egal, er wollte nur möglichst schnell heraus aus der Gefahrenzone. Mit dem Rasiermesser zerschnitt er seine Fußfesseln, riss sich den Klebestreifen vom Mund und rannte ohne Jacke in die friesisch-winterliche Witterung. Er begann zu rennen, spürte, dass er nicht sofort Vollgas geben konnte, dafür waren seine Muskeln nicht warm genug und das fortgeschrittene Alter trug sein Übriges dazu bei. Er dachte nicht nach, spürte aber instinktiv, dass er erst warm werden musste, wenn er sich nicht mit einem plötzlichen Muskelriss selbst seiner letzten Überlebenschance berauben wollte. Er hatte keinen Plan, er wollte nur möglichst weit weg vom Haus. Jan rannte, wo er rennen konnte, quer über den Deich in die Dunkelheit, gegen den kalten Wind und den eisigen Nieselregen, der seine Gesichtshaut peinigte wie tausend Nadelstiche. Auf einmal gab der Boden unter seinen Füßen nach, er fiel hin, steckte im Schlick, wurde nass und kalt, wollte aufstehen und spürte, wie er tiefer einsank. "Verdammt!", dachte er. "Jetzt bin ich den Nazis entkommen, damit die Mordsee mich fressen kann." Schluchzer der Verzweiflung und der Wut entfuhren seinen Eingeweiden. Das konnte doch nicht alles gewesen sein. Er hatte doch noch so viel vor. Er blinzelte in die Dunkelheit. Das Wasser stieg.
Fortsetzung folgt am nächsten Freitag.
"Wo ist das Brennholz?" fragte der Junge.
Jan gab drängende Geräusche von sich, um zu verdeutlichen, dass er sich mit zugeklebtem Mund kaum würde verständlich machen können.
"Ja, is ja gut.", sagte Maxi, riss mit einem schmerzhaften Ruck das Klebeband vom Mund des Pfarrers und sah ihn erwartungsvoll an.
"Im Holzschuppen, gleich hinterm Haus." keuchte Jan.
"Alles klar." sagte Maxi.
Jan wollte die Gunst des Augenblicks nutzen und versuchen, den Heranwachsenden zur Vernunft zu bringen: "Hast du dir mal...", setzte er an. "überlegt", wollte er noch sagen und dann improvisieren, aber der Knabe klebte ihm schon wieder das Gaffertape auf den Mund. "Das reicht Pastor.", sagte er. "Du hast für immer ausgequatscht. Bleib hier liegen und rühr dich nicht, sonst lass ich mir vor deinem Abgang noch ne kleine Zugabe einfallen."
Maxi schnappte sich den Holzkorb und ging in den Garten. Er würde eine Weile brauchen, denn es war mittlerweile dunkel geworden und hier hinterm Deich leuchtete keine Straßenlaterne oder Reklame den von dichten Weiden umsäumten Garten aus. Verzweifelt hantierte Jan mit dem Messer. Er musste blitzschnell sein. Schließlich gelang es ihm, das Klebeband an seinen Händen zu durchtrennen. Er legte sich wieder hin und verbarg die gesprengten Fesseln hinter seinem Rücken.
Maxi kam zurück, schob einen Hocker vor den Kaminofen und begann, Holz aufzuschichten; nicht sehr fachmännisch, aber äußerst konzentriert. Darum hatte er auch keine Augen für seine Geisel. Jan nutzte die Gelegenheit, griff nach dem Schürhaken und schlug seinem Wärter damit kräftig auf den Schädel. Maxi jaulte auf und fuhr herum. Jans Gehirn war längst in den Sauriermodus übergegangen: keinerlei Hemmungen, keine Bedenken, er wollte das hier einfach nur überleben, darum schlug er direkt wieder zu, gezielt auf die Schädeldecke über dem schmerz- und wutverzerrten Gesicht. Er sah in die nach oben rollenden Augen, die anzeigten, dass in Maxis Kopf das Licht ausging. Vielleicht war er tot, vielleicht brauchte er ärztliche Hilfe, vielleicht kam er gleich wieder zu sich. Jan war alles egal, er wollte nur möglichst schnell heraus aus der Gefahrenzone. Mit dem Rasiermesser zerschnitt er seine Fußfesseln, riss sich den Klebestreifen vom Mund und rannte ohne Jacke in die friesisch-winterliche Witterung. Er begann zu rennen, spürte, dass er nicht sofort Vollgas geben konnte, dafür waren seine Muskeln nicht warm genug und das fortgeschrittene Alter trug sein Übriges dazu bei. Er dachte nicht nach, spürte aber instinktiv, dass er erst warm werden musste, wenn er sich nicht mit einem plötzlichen Muskelriss selbst seiner letzten Überlebenschance berauben wollte. Er hatte keinen Plan, er wollte nur möglichst weit weg vom Haus. Jan rannte, wo er rennen konnte, quer über den Deich in die Dunkelheit, gegen den kalten Wind und den eisigen Nieselregen, der seine Gesichtshaut peinigte wie tausend Nadelstiche. Auf einmal gab der Boden unter seinen Füßen nach, er fiel hin, steckte im Schlick, wurde nass und kalt, wollte aufstehen und spürte, wie er tiefer einsank. "Verdammt!", dachte er. "Jetzt bin ich den Nazis entkommen, damit die Mordsee mich fressen kann." Schluchzer der Verzweiflung und der Wut entfuhren seinen Eingeweiden. Das konnte doch nicht alles gewesen sein. Er hatte doch noch so viel vor. Er blinzelte in die Dunkelheit. Das Wasser stieg.
Fortsetzung folgt am nächsten Freitag.
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Samstag, 22. Januar 2022
# Eiskalter Januar - Kurzkrimi in vier Teilen - 2. Die Chance
c. fabry, 01:18h
Eine dreiviertel Stunde später rollen sie gemächlich auf der A 1 Richtung Nordsee. Maxi hatte bis dahin nicht gewagt, das Wort an seinen Entführer zu richten und Jan hatte beharrlich geschwiegen, obwohl sie ja bereits seit einer halben Stunde auf Autobahnen unterwegs waren, aber das waren die mit reichlich Verkehr, jetzt konnte er entspannt bei konstanten 130 km/h mit weniger Konzentration das Geschehen unter Kontrolle halten.
Also begann er ein Gespräch: "Warst du schon mal am Meer?"
"Klar."
"Wann?"
"Weiß ich nicht mehr."
"Weißt du denn noch wo?"
"Nee. Da war Sand und braunes Wasser."
"Klingt nach Nordsee. Gab es Wellen?"
"Keine Ahnung."
"Warst du denn drin im Wasser?"
"Ja. Klar. Macht man ja so, wenn man ans Meer fährt."
"Dann waren da wohl keine Wellen, sonst wüsstest du das noch. Da warst du wohl an der Küste. Da fahren wir jetzt auch hin."
"Warum?"
"Ich habe da ein Haus. Da können wir uns mal ganz in Ruhe unterhalten."
"Wozu?"
"Merkst du dann schon."
"Willst du mir an die Wäsche, Pastor?"
"Quatsch! Ich steh nicht auf Jungs. Ich denke, du hast dich verirrt und ich will dir helfen zurückzufinden."
"Wohin denn?"
"Auf einen Weg, auf dem du ein gutes Leben leben kannst, ohne anderen zu schaden."
"Und wenn ich das nicht will?"
"Bist du sicher, dass du überhaupt weißt, was du willst?"
Maxi schwieg und verstellte den Rückspiegel, so dass er die Heckscheibe im Blick hatte.
"Der Rückspiegel ist für den Fahrer.", sagte Jan und stellte ihn wieder passend für sich selbst ein. "Wenn Du auch einen haben willst, findest du einen hinter der Sonnenblende."
Maxi blickte verständnislos zu Seite. Jan vermutete, dass das seinem begrenzten Wortschatz geschuldet war und klappte die Sonnenblende über dem Beifahrersitz herunter.
"'N scheiß Schminkspiegel für Weiber!" stieß Maxi abfällig hervor und schubste die Blende mit einer rüden Bewegung wieder hoch.
"Solche Kleinigkeiten.", meinte Jan, "da stehst du doch drüber. Entscheidend ist, ob es funktioniert."
Maxi klappte die Sonnenblende wieder herunter und nutzte den Spiegel, um die Heckscheibe im Auge zu behalten.
"Hast Du Angst, dass uns die Polizei folgt?", fragte Jan.
"Kann man nie wissen.", meinte Maxi.
"Dann hätten die uns aber ziemlich spät eingeholt.", sagte Jan. "Bei dem moderaten Tempo, das ich vorgelegt habe, ist das mehr als unwahrscheinlich. Die prügeln sich bestimmt noch immer mit deinen Kameraden oder haben die schon bei sich in den Keller gesperrt."
Maxi schnaubte wortlos. Sie rollten wieder schweigend die Autobahn herunter und jeder Versuch des Pfarrers, den Jungen in ein persönliches Gespräch zu ziehen, scheiterte an dem vorgeschützten Desinteresse. Vielleicht, dachte Jan, kann ich ihn erreichen, wenn ich ihn an einen Ort führe, der Kindheitserinnerungen in ihm weckt. Er nahm sich vor, im Haus erst einmal einen Tee zu kochen, er würde dem Jungen einen Schuss Rum anbieten, das käme ihm sicher entgegen, auch wenn das genau genommen ungesetzlich war, doch Jan war sich sicher, dass Spirituosen für Maxi kein Neuland darstellten. Vielleicht würde er sich etwas entspannen und zugänglicher werden. Jan würde den Ofen anschmeißen und Maxi zu einem Deichspaziergang nötigen. Das machte den Kopf frei und nach einer Weile würde er wieder versuchen, ihn über seine Kindheitserinnerungen an den Ort seiner Seele zu führen, der noch unschuldig und unverletzt war. Irgendein Ansatz musste sich doch finden lassen.
Als sie nach zweieinhalb Stunden Fahrt endlich an dem Elternhaus seiner Frau ankamen, einem alten, kleinen Ziegelbau direkt hinterm Deich, umgeben von Weiden, spürte Jan, wie der Druck von ihm abfiel und ein warmer Strom der Zuversicht sich in ihm ausbreitete.
Maxi stieg aus und grinste schief.
"Nanu.", entfuhr es Jan. "Erkennst du was wieder?"
Maxi lachte dreckig. "Allerdings.", sagte er. "Ab sofort bist du derjenige der spuren muss."
Irritiert sah Jan sich um und schon kam der blaue VW Passat kurz vor seinen Füßen zum Stehen. Drei martialische Typen sprangen aus dem Fahrzeug, zwei Glatzen, einer mit gescheitelter Kurzhaarfrisur und etwas kultivierterem Outfit, aber ebenfalls deutlich als Neonazi zu erkennen. Diesmal war Jan viel zu überrascht von der Situation, als dass er noch hätte reagieren können. Die Kameraden packten ihn, nahmen ihm das Schlüsselbund ab und schickten Maxi vor, um das Haus aufzuschließen. Drinnen verpassten sie Jan mehrere Schläge und Tritte bis er ganz benommen zu Boden ging. Einer der Schläger suchte erfolgreich nach Material zum Fesseln und fixierte Jans Hände mit Reparaturband hinter dem Rücken. Auch die Füße band er ihm damit zusammen.
"Kleb ihm auch die Fresse zu.", forderte Maxi. "Dann nervt er uns wenigstens nicht mit seinem blöden Gequatsche."
Jan musste sich selbst beruhigen, denn durch die Nase bekam er kaum ausreichend Luft, weil die Schleimhäute wegen der Winterzeit leicht angeschwollen waren. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Einen geschützten Raum, einen behaglichen Rückzugsort für sich und seine Familie hatte er mit einem Schlag verbrannt. Wie sollten sie hier jemals wieder zur Ruhe kommen?
"Was machen wir mit der Judensau?", fragte eine der Glatzen.
"Lassen wir hier liegen.", sagte der mit den Haaren. "Kommt keiner drauf, dass wir das waren. Oder hattest du schon länger mit ihm zu tun, Maxe?"
"Nee.", sagte Maxi. "Der war nur gestern bei uns zu Hause, weil meine Omma gestorben is'. Freitag is' die Beerdigung. Der kennt mich nur von der Zeit, als ich zum Pappen musste, wegen Komfamation. Meine Alten wollten das unbedingt."
"Wenn den einer findet, bevor der hin is', kann der uns aber verpfeifen.", sagte die andere Glatze.
"Der pfeift nicht mehr.", sagte der mit den Haaren. "Wir müssen nur gut überlegen, wie wir es machen, damit es nicht nach Mord aussieht. Wisst ihr was? Ich hab? echt Kohldampf. Erst die Kundgebung und dann die lange Autofahrt. Wir gehen jetzt für alle Schnitzel holen, schön mit Sauce und Kartoffelsalat. Pass auf Maxe, dass er dir nicht abhaut. Kannst ja schon mal Feuer machen, damit wir's beim Essen schön warm haben."
"Kein Thema.", sagte Maxi. "Das Weichei ist ja kaltgestellt, kann eh nix machen."
Jans Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Wenn die abgebrühten Altglatzen aus der Schusslinie waren, ließ der Junge vielleicht mit sich reden. Sobald sie allein waren, begann er zu zappeln und wortlos zu quengeln, um ihn dazu zu bewegen, das Klebeband von seinem Gesicht zu entfernen.
"Halt die Fresse, Pastor, oder ich trete dir in die Eier.", schnauzte Maxi ihn an.
Jan verzichtete auf die Geräusche, zappelte aber weiter.
"Musst du pissen, oder was?"
Jan nickte eifrig.
"Na, dann komm, bevor du hier alles vollstinkst."
Maxi half ihm auf die Beine, trieb ihn vor sich her, ließ ihn zur Toilette hüpfen, riss ihm die Hose herunter und stellte ihn vor die Keramik. Jan drehte sich und setzte sich hin.
"Sitzpisser bist du also auch. War ja klar."
Als er fertig war, riss Maxi ihm die Hosen wieder hoch und verschloss widerwillig den Reißverschluss.
"Glaub ja nicht, dass ich 'ne Schwuchtel bin.", fuhr er ihn an. Er drehte sich um und sagte: "Los komm mit, Pastor. Ich muss dich im Auge behalten."
Jans Blick fiel auf das Rasiermesser auf dem niedrigen Holzregal neben dem Waschbecken.
Fortsetzung folgt nächsten Freitag
Also begann er ein Gespräch: "Warst du schon mal am Meer?"
"Klar."
"Wann?"
"Weiß ich nicht mehr."
"Weißt du denn noch wo?"
"Nee. Da war Sand und braunes Wasser."
"Klingt nach Nordsee. Gab es Wellen?"
"Keine Ahnung."
"Warst du denn drin im Wasser?"
"Ja. Klar. Macht man ja so, wenn man ans Meer fährt."
"Dann waren da wohl keine Wellen, sonst wüsstest du das noch. Da warst du wohl an der Küste. Da fahren wir jetzt auch hin."
"Warum?"
"Ich habe da ein Haus. Da können wir uns mal ganz in Ruhe unterhalten."
"Wozu?"
"Merkst du dann schon."
"Willst du mir an die Wäsche, Pastor?"
"Quatsch! Ich steh nicht auf Jungs. Ich denke, du hast dich verirrt und ich will dir helfen zurückzufinden."
"Wohin denn?"
"Auf einen Weg, auf dem du ein gutes Leben leben kannst, ohne anderen zu schaden."
"Und wenn ich das nicht will?"
"Bist du sicher, dass du überhaupt weißt, was du willst?"
Maxi schwieg und verstellte den Rückspiegel, so dass er die Heckscheibe im Blick hatte.
"Der Rückspiegel ist für den Fahrer.", sagte Jan und stellte ihn wieder passend für sich selbst ein. "Wenn Du auch einen haben willst, findest du einen hinter der Sonnenblende."
Maxi blickte verständnislos zu Seite. Jan vermutete, dass das seinem begrenzten Wortschatz geschuldet war und klappte die Sonnenblende über dem Beifahrersitz herunter.
"'N scheiß Schminkspiegel für Weiber!" stieß Maxi abfällig hervor und schubste die Blende mit einer rüden Bewegung wieder hoch.
"Solche Kleinigkeiten.", meinte Jan, "da stehst du doch drüber. Entscheidend ist, ob es funktioniert."
Maxi klappte die Sonnenblende wieder herunter und nutzte den Spiegel, um die Heckscheibe im Auge zu behalten.
"Hast Du Angst, dass uns die Polizei folgt?", fragte Jan.
"Kann man nie wissen.", meinte Maxi.
"Dann hätten die uns aber ziemlich spät eingeholt.", sagte Jan. "Bei dem moderaten Tempo, das ich vorgelegt habe, ist das mehr als unwahrscheinlich. Die prügeln sich bestimmt noch immer mit deinen Kameraden oder haben die schon bei sich in den Keller gesperrt."
Maxi schnaubte wortlos. Sie rollten wieder schweigend die Autobahn herunter und jeder Versuch des Pfarrers, den Jungen in ein persönliches Gespräch zu ziehen, scheiterte an dem vorgeschützten Desinteresse. Vielleicht, dachte Jan, kann ich ihn erreichen, wenn ich ihn an einen Ort führe, der Kindheitserinnerungen in ihm weckt. Er nahm sich vor, im Haus erst einmal einen Tee zu kochen, er würde dem Jungen einen Schuss Rum anbieten, das käme ihm sicher entgegen, auch wenn das genau genommen ungesetzlich war, doch Jan war sich sicher, dass Spirituosen für Maxi kein Neuland darstellten. Vielleicht würde er sich etwas entspannen und zugänglicher werden. Jan würde den Ofen anschmeißen und Maxi zu einem Deichspaziergang nötigen. Das machte den Kopf frei und nach einer Weile würde er wieder versuchen, ihn über seine Kindheitserinnerungen an den Ort seiner Seele zu führen, der noch unschuldig und unverletzt war. Irgendein Ansatz musste sich doch finden lassen.
Als sie nach zweieinhalb Stunden Fahrt endlich an dem Elternhaus seiner Frau ankamen, einem alten, kleinen Ziegelbau direkt hinterm Deich, umgeben von Weiden, spürte Jan, wie der Druck von ihm abfiel und ein warmer Strom der Zuversicht sich in ihm ausbreitete.
Maxi stieg aus und grinste schief.
"Nanu.", entfuhr es Jan. "Erkennst du was wieder?"
Maxi lachte dreckig. "Allerdings.", sagte er. "Ab sofort bist du derjenige der spuren muss."
Irritiert sah Jan sich um und schon kam der blaue VW Passat kurz vor seinen Füßen zum Stehen. Drei martialische Typen sprangen aus dem Fahrzeug, zwei Glatzen, einer mit gescheitelter Kurzhaarfrisur und etwas kultivierterem Outfit, aber ebenfalls deutlich als Neonazi zu erkennen. Diesmal war Jan viel zu überrascht von der Situation, als dass er noch hätte reagieren können. Die Kameraden packten ihn, nahmen ihm das Schlüsselbund ab und schickten Maxi vor, um das Haus aufzuschließen. Drinnen verpassten sie Jan mehrere Schläge und Tritte bis er ganz benommen zu Boden ging. Einer der Schläger suchte erfolgreich nach Material zum Fesseln und fixierte Jans Hände mit Reparaturband hinter dem Rücken. Auch die Füße band er ihm damit zusammen.
"Kleb ihm auch die Fresse zu.", forderte Maxi. "Dann nervt er uns wenigstens nicht mit seinem blöden Gequatsche."
Jan musste sich selbst beruhigen, denn durch die Nase bekam er kaum ausreichend Luft, weil die Schleimhäute wegen der Winterzeit leicht angeschwollen waren. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Einen geschützten Raum, einen behaglichen Rückzugsort für sich und seine Familie hatte er mit einem Schlag verbrannt. Wie sollten sie hier jemals wieder zur Ruhe kommen?
"Was machen wir mit der Judensau?", fragte eine der Glatzen.
"Lassen wir hier liegen.", sagte der mit den Haaren. "Kommt keiner drauf, dass wir das waren. Oder hattest du schon länger mit ihm zu tun, Maxe?"
"Nee.", sagte Maxi. "Der war nur gestern bei uns zu Hause, weil meine Omma gestorben is'. Freitag is' die Beerdigung. Der kennt mich nur von der Zeit, als ich zum Pappen musste, wegen Komfamation. Meine Alten wollten das unbedingt."
"Wenn den einer findet, bevor der hin is', kann der uns aber verpfeifen.", sagte die andere Glatze.
"Der pfeift nicht mehr.", sagte der mit den Haaren. "Wir müssen nur gut überlegen, wie wir es machen, damit es nicht nach Mord aussieht. Wisst ihr was? Ich hab? echt Kohldampf. Erst die Kundgebung und dann die lange Autofahrt. Wir gehen jetzt für alle Schnitzel holen, schön mit Sauce und Kartoffelsalat. Pass auf Maxe, dass er dir nicht abhaut. Kannst ja schon mal Feuer machen, damit wir's beim Essen schön warm haben."
"Kein Thema.", sagte Maxi. "Das Weichei ist ja kaltgestellt, kann eh nix machen."
Jans Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Wenn die abgebrühten Altglatzen aus der Schusslinie waren, ließ der Junge vielleicht mit sich reden. Sobald sie allein waren, begann er zu zappeln und wortlos zu quengeln, um ihn dazu zu bewegen, das Klebeband von seinem Gesicht zu entfernen.
"Halt die Fresse, Pastor, oder ich trete dir in die Eier.", schnauzte Maxi ihn an.
Jan verzichtete auf die Geräusche, zappelte aber weiter.
"Musst du pissen, oder was?"
Jan nickte eifrig.
"Na, dann komm, bevor du hier alles vollstinkst."
Maxi half ihm auf die Beine, trieb ihn vor sich her, ließ ihn zur Toilette hüpfen, riss ihm die Hose herunter und stellte ihn vor die Keramik. Jan drehte sich und setzte sich hin.
"Sitzpisser bist du also auch. War ja klar."
Als er fertig war, riss Maxi ihm die Hosen wieder hoch und verschloss widerwillig den Reißverschluss.
"Glaub ja nicht, dass ich 'ne Schwuchtel bin.", fuhr er ihn an. Er drehte sich um und sagte: "Los komm mit, Pastor. Ich muss dich im Auge behalten."
Jans Blick fiel auf das Rasiermesser auf dem niedrigen Holzregal neben dem Waschbecken.
Fortsetzung folgt nächsten Freitag
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Freitag, 14. Januar 2022
# Eiskalter Januar - Kurzkrimi in vier Teilen - 1. Die Oma
c. fabry, 02:02h
Jans Handywecker erinnerte ihn an den anstehenden Termin. Trauergespräch in der Hohen Tucht. Der soziale Brennpunkt in seinem Pfarrbezirk. Rüdiger Ewald würde diese Klientel einfach in den Gemeindesaal bitten. "Mehr Luft, größere Sicherheit." lautete sein Argument. Mit den Gescheiterten trat man nicht so gern in näheren Kontakt, erst recht nicht während einer Pandemie. Wie jemand mit einem so ausgeprägten Menschenekel ausgerechnet Gemeindepfarrer werden konnte, erschloss sich Jan bis heute nicht.
Er schwang sich auf sein Rad und rollte durch den feucht-kalten Januar-Nachmittag. Eingehüllt in dämmrig-graue Diesigkeit wirkten die verwahrlosten Blocks noch trostloser als vor dem Hintergrund eines blauen Sommerhimmels, umrahmt vom frischen Laub des hohen Abstandsgrüns. Die einzigen Geräusche, die man heute hörte, waren Motoren und klappernde Autotüren.
Das Klingelschild der Familie Hausmann war alt, aber sehr ordentlich. Kein schlampig angebrachter Aufkleber aus dem Etikettendrucker, kein handschriftlich mit klecksendem Kugelschreiber auf kariertem Papier gekritzelter Name, fixiert mit Discounter-Klebefilm. Er drückte den Klingelknopf und bereits wenige Sekunden später summte der Türöffner. Das Treppenhaus war eines von den gepflegteren, es roch nur nach kaltem Rauch, nicht nach Urin, Bier oder Erbrochenem. In der Wohnungstür stand wartend Frau Hausmann, in Jeans und dunkelblauem Pullover, ordentlich frisiert, mit geröteten Augen und tiefen Furchen um den Mund, die sich über die Jahre in ihr Gesicht gefressen hatten. Sie sah dem Pfarrer in die Augen.
"Kommen Sie doch rein." sagte sie und trat zurück. Dann fragte sie unsicher: "Sollen wir auch eine Maske tragen?"
"Meinetwegen müssen Sie das nicht.", erwiderte Jan und trat in die behagliche Wohnung.
Die Mutter seiner Gesprächspartnerin war am Vortag verstorben. In den Siebzigern, nicht an Corona sondern an einer langjährigen Krebserkrankung. Angebotene Getränke und Knabbereien lehnte Jan dankend ab. Er stellte die üblichen Fragen. Zuerst die organisatorischen, dann die inhaltlichen, schließlich die wesentlichen: Wer war die Verstorbene gewesen, welche Rolle hatte sie gespielt, was hatte sie ausgemacht und so weiter.
Ein barhäuptiger Jugendlicher betrat das Wohnzimmer, ließ sich grußlos auf den größten Sessel plumpsen und wischte auf seinem Smartphone herum. Jeder Millimeter fehlgeleitete deutsche Wertarbeit, dachte Jan, macht auf Gemeinschaft und denkt dabei nur an sich.
Die Mutter war aufmerksamer als Jan erwartet hatte. Ihr Blick ging zwischen dem Pfarrer und dem Jugendlichen hin und her. Schließlich erklärte sie: "Der Maxi hat seine Oma sehr gern gehabt. Keiner hatte meine Mutter so gern wie der Maxi."
"Quatsch nich, Mudder!", blaffte Maxi sie an.
Jan erkannte ihn. Vor drei Jahren hatte er ihn aus der Kirche herauskonfirmiert. Schon damals hatte er sich so bretthart gegeben. Aber er machte niemandem etwas vor, weder seiner eigenen Mutter noch seinem Pastor. Auch heute waren die unendliche Trauer und die tiefe Sehnsucht nach menschlicher Wärme so überdeutlich in seinen Augen, seiner Haltung und seinen Gesten zu sehen, dass der Pfarrer nur schwer dem Impuls widerstehen konnte, den Jungen einfach in den Arm zu nehmen und über seinen Kopf zu streichen. Jan hatte damals versucht, Maxi zu erreichen, ihn mit den noch heilen Teilen seiner Seele bekannt zu machen, aber der hatte sich schon damals einen knallharten Panzer zugelegt und der war nun undurchlässiger denn je. Ein dummer Junge auf dem besten Weg ein großes Nazischwein zu werden. Dieser Heranwachsende steckte so dermaßen voller Wut und selbst wenn Jan gewusst hätte, aus welcher Quelle dieser enorme Zorn sich speiste, was hätte er schon dagegen ausrichten können? Was kann man tun, um einen Faschisten, Coronaleugner, Menschenhasser, Wutbürger dazu zu bewegen, abzulassen von seiner Wut? Seine Gesinnung würde er nicht aufgeben, das war einmal ausgemacht, aber man konnte diese Leute ja nicht einfach abknallen oder einschläfern, schließlich waren sie Menschen und täte man das, wäre man genauso schlimm wie sie. Man konnte sie auch nicht verbannen oder einsperren, dann wäre man auch totalitär. Aber man musste ihnen entgegentreten, ihre Untaten verhindern, vielleicht manchmal mit Gewalt, als letztes Mittel, wenn jede andere Methode versagte. Wenn es nicht mit Überzeugung und gesundem Menschenverstand funktionierte, nicht mit Liebe und nicht mit Verhandeln, auch nicht mit Humor.
Auf dem Heimweg ging ihm der Junge nicht aus dem Kopf. Ein klassischer verlorener Sohn, der die meiste Zeit seines Lebens am Schweine-Trog lagerte und überzeugt war, dass er kaum noch etwas vom Leben zu erwarten hatte. Mit siebzehn. Welch ein Fluch.
Am kommenden Tag hatte Jan etwas in der Innenstadt zu erledigen, einen neuen Matratzenschoner für das Haus in Horumersiel. So lange der traditionelle Bettenladen in der Innenstadt noch nicht aufgegeben hatte, fühlte er sich verpflichtet, dort einzukaufen, auch wenn es sich sehr viel kostspieliger und umständlicher gestaltete, als in einem Großmarkt auf der grünen Wiese, direkt an der Stadtautobahn gelegen. Er tat das auch für sein gutes Gefühl, aber dieses Mal fragte er sich, ob er sich mit der moralisch fragwürdigeren Alternative nicht besser gefühlt hätte. Nicht genug, dass sich der Verkehr im Zentrum stets zähflüssig dahin schleppte, heute waren wieder Die Gegner der Maßnahmen gegen die weitere Ausbreitung der Covid-Pandemie unterwegs, um der Mehrheit durch massives Insistieren und rücksichtslose Einschüchterung ihre Weltsicht aufzuzwingen. Und dann sah er ihn: Maxi Hausmann, mitten im Getümmel, bewaffnet mit einem massiven Nudelholz, mit dem er auf einen uniformierten Polizeibeamten eindrosch. Er prügelte sich gerade um seine Zukunft und einem plötzlichen Impuls folgend schoss Jan aus seinem Auto, rannte auf den entfesselten Jugendlichen zu, packte ihn am Kragen und zerrte ihn in sein Auto. Maxi war viel zu überrascht, um Widerstand zu leisten. Jan drückte ihn auf den Beifahrersitz, schnallte ihn an wie ein Kleinkind, legte den Rückwärtsgang ein und vollzog dem Polizeiaufgebot zum Trotz ein gewagtes Wendemanöver. Der Wagen rollte nicht in die geplante Richtung.
"Was hast du vor, Pastor?", fragte Maxi, viel zu sehr darum bemüht, gefährlich zu klingen, aber mit viel zu ausgeprägtem Vibrato in der Stimme, als das ihm das jemand abgekauft hätte.
"Wir fahren und reden.", antwortete Jan. "Wir reden, wenn wir aus der Stadt raus sind. Bis dahin halten wir den Mund. Du tust ab sofort was ich sage, sonst liefere ich dich direkt bei der Polizei ab. Ich habe alles gesehen und ich verspreche dir, ich werde gegen dich aussagen, wenn du nicht spurst."
Fortsetzung folgt nächsten Freitag
Er schwang sich auf sein Rad und rollte durch den feucht-kalten Januar-Nachmittag. Eingehüllt in dämmrig-graue Diesigkeit wirkten die verwahrlosten Blocks noch trostloser als vor dem Hintergrund eines blauen Sommerhimmels, umrahmt vom frischen Laub des hohen Abstandsgrüns. Die einzigen Geräusche, die man heute hörte, waren Motoren und klappernde Autotüren.
Das Klingelschild der Familie Hausmann war alt, aber sehr ordentlich. Kein schlampig angebrachter Aufkleber aus dem Etikettendrucker, kein handschriftlich mit klecksendem Kugelschreiber auf kariertem Papier gekritzelter Name, fixiert mit Discounter-Klebefilm. Er drückte den Klingelknopf und bereits wenige Sekunden später summte der Türöffner. Das Treppenhaus war eines von den gepflegteren, es roch nur nach kaltem Rauch, nicht nach Urin, Bier oder Erbrochenem. In der Wohnungstür stand wartend Frau Hausmann, in Jeans und dunkelblauem Pullover, ordentlich frisiert, mit geröteten Augen und tiefen Furchen um den Mund, die sich über die Jahre in ihr Gesicht gefressen hatten. Sie sah dem Pfarrer in die Augen.
"Kommen Sie doch rein." sagte sie und trat zurück. Dann fragte sie unsicher: "Sollen wir auch eine Maske tragen?"
"Meinetwegen müssen Sie das nicht.", erwiderte Jan und trat in die behagliche Wohnung.
Die Mutter seiner Gesprächspartnerin war am Vortag verstorben. In den Siebzigern, nicht an Corona sondern an einer langjährigen Krebserkrankung. Angebotene Getränke und Knabbereien lehnte Jan dankend ab. Er stellte die üblichen Fragen. Zuerst die organisatorischen, dann die inhaltlichen, schließlich die wesentlichen: Wer war die Verstorbene gewesen, welche Rolle hatte sie gespielt, was hatte sie ausgemacht und so weiter.
Ein barhäuptiger Jugendlicher betrat das Wohnzimmer, ließ sich grußlos auf den größten Sessel plumpsen und wischte auf seinem Smartphone herum. Jeder Millimeter fehlgeleitete deutsche Wertarbeit, dachte Jan, macht auf Gemeinschaft und denkt dabei nur an sich.
Die Mutter war aufmerksamer als Jan erwartet hatte. Ihr Blick ging zwischen dem Pfarrer und dem Jugendlichen hin und her. Schließlich erklärte sie: "Der Maxi hat seine Oma sehr gern gehabt. Keiner hatte meine Mutter so gern wie der Maxi."
"Quatsch nich, Mudder!", blaffte Maxi sie an.
Jan erkannte ihn. Vor drei Jahren hatte er ihn aus der Kirche herauskonfirmiert. Schon damals hatte er sich so bretthart gegeben. Aber er machte niemandem etwas vor, weder seiner eigenen Mutter noch seinem Pastor. Auch heute waren die unendliche Trauer und die tiefe Sehnsucht nach menschlicher Wärme so überdeutlich in seinen Augen, seiner Haltung und seinen Gesten zu sehen, dass der Pfarrer nur schwer dem Impuls widerstehen konnte, den Jungen einfach in den Arm zu nehmen und über seinen Kopf zu streichen. Jan hatte damals versucht, Maxi zu erreichen, ihn mit den noch heilen Teilen seiner Seele bekannt zu machen, aber der hatte sich schon damals einen knallharten Panzer zugelegt und der war nun undurchlässiger denn je. Ein dummer Junge auf dem besten Weg ein großes Nazischwein zu werden. Dieser Heranwachsende steckte so dermaßen voller Wut und selbst wenn Jan gewusst hätte, aus welcher Quelle dieser enorme Zorn sich speiste, was hätte er schon dagegen ausrichten können? Was kann man tun, um einen Faschisten, Coronaleugner, Menschenhasser, Wutbürger dazu zu bewegen, abzulassen von seiner Wut? Seine Gesinnung würde er nicht aufgeben, das war einmal ausgemacht, aber man konnte diese Leute ja nicht einfach abknallen oder einschläfern, schließlich waren sie Menschen und täte man das, wäre man genauso schlimm wie sie. Man konnte sie auch nicht verbannen oder einsperren, dann wäre man auch totalitär. Aber man musste ihnen entgegentreten, ihre Untaten verhindern, vielleicht manchmal mit Gewalt, als letztes Mittel, wenn jede andere Methode versagte. Wenn es nicht mit Überzeugung und gesundem Menschenverstand funktionierte, nicht mit Liebe und nicht mit Verhandeln, auch nicht mit Humor.
Auf dem Heimweg ging ihm der Junge nicht aus dem Kopf. Ein klassischer verlorener Sohn, der die meiste Zeit seines Lebens am Schweine-Trog lagerte und überzeugt war, dass er kaum noch etwas vom Leben zu erwarten hatte. Mit siebzehn. Welch ein Fluch.
Am kommenden Tag hatte Jan etwas in der Innenstadt zu erledigen, einen neuen Matratzenschoner für das Haus in Horumersiel. So lange der traditionelle Bettenladen in der Innenstadt noch nicht aufgegeben hatte, fühlte er sich verpflichtet, dort einzukaufen, auch wenn es sich sehr viel kostspieliger und umständlicher gestaltete, als in einem Großmarkt auf der grünen Wiese, direkt an der Stadtautobahn gelegen. Er tat das auch für sein gutes Gefühl, aber dieses Mal fragte er sich, ob er sich mit der moralisch fragwürdigeren Alternative nicht besser gefühlt hätte. Nicht genug, dass sich der Verkehr im Zentrum stets zähflüssig dahin schleppte, heute waren wieder Die Gegner der Maßnahmen gegen die weitere Ausbreitung der Covid-Pandemie unterwegs, um der Mehrheit durch massives Insistieren und rücksichtslose Einschüchterung ihre Weltsicht aufzuzwingen. Und dann sah er ihn: Maxi Hausmann, mitten im Getümmel, bewaffnet mit einem massiven Nudelholz, mit dem er auf einen uniformierten Polizeibeamten eindrosch. Er prügelte sich gerade um seine Zukunft und einem plötzlichen Impuls folgend schoss Jan aus seinem Auto, rannte auf den entfesselten Jugendlichen zu, packte ihn am Kragen und zerrte ihn in sein Auto. Maxi war viel zu überrascht, um Widerstand zu leisten. Jan drückte ihn auf den Beifahrersitz, schnallte ihn an wie ein Kleinkind, legte den Rückwärtsgang ein und vollzog dem Polizeiaufgebot zum Trotz ein gewagtes Wendemanöver. Der Wagen rollte nicht in die geplante Richtung.
"Was hast du vor, Pastor?", fragte Maxi, viel zu sehr darum bemüht, gefährlich zu klingen, aber mit viel zu ausgeprägtem Vibrato in der Stimme, als das ihm das jemand abgekauft hätte.
"Wir fahren und reden.", antwortete Jan. "Wir reden, wenn wir aus der Stadt raus sind. Bis dahin halten wir den Mund. Du tust ab sofort was ich sage, sonst liefere ich dich direkt bei der Polizei ab. Ich habe alles gesehen und ich verspreche dir, ich werde gegen dich aussagen, wenn du nicht spurst."
Fortsetzung folgt nächsten Freitag
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