Freitag, 14. Januar 2022
# Eiskalter Januar - Kurzkrimi in vier Teilen - 1. Die Oma
Jans Handywecker erinnerte ihn an den anstehenden Termin. Trauergespräch in der Hohen Tucht. Der soziale Brennpunkt in seinem Pfarrbezirk. Rüdiger Ewald würde diese Klientel einfach in den Gemeindesaal bitten. "Mehr Luft, größere Sicherheit." lautete sein Argument. Mit den Gescheiterten trat man nicht so gern in näheren Kontakt, erst recht nicht während einer Pandemie. Wie jemand mit einem so ausgeprägten Menschenekel ausgerechnet Gemeindepfarrer werden konnte, erschloss sich Jan bis heute nicht.

Er schwang sich auf sein Rad und rollte durch den feucht-kalten Januar-Nachmittag. Eingehüllt in dämmrig-graue Diesigkeit wirkten die verwahrlosten Blocks noch trostloser als vor dem Hintergrund eines blauen Sommerhimmels, umrahmt vom frischen Laub des hohen Abstandsgrüns. Die einzigen Geräusche, die man heute hörte, waren Motoren und klappernde Autotüren.

Das Klingelschild der Familie Hausmann war alt, aber sehr ordentlich. Kein schlampig angebrachter Aufkleber aus dem Etikettendrucker, kein handschriftlich mit klecksendem Kugelschreiber auf kariertem Papier gekritzelter Name, fixiert mit Discounter-Klebefilm. Er drückte den Klingelknopf und bereits wenige Sekunden später summte der Türöffner. Das Treppenhaus war eines von den gepflegteren, es roch nur nach kaltem Rauch, nicht nach Urin, Bier oder Erbrochenem. In der Wohnungstür stand wartend Frau Hausmann, in Jeans und dunkelblauem Pullover, ordentlich frisiert, mit geröteten Augen und tiefen Furchen um den Mund, die sich über die Jahre in ihr Gesicht gefressen hatten. Sie sah dem Pfarrer in die Augen.
"Kommen Sie doch rein." sagte sie und trat zurück. Dann fragte sie unsicher: "Sollen wir auch eine Maske tragen?"
"Meinetwegen müssen Sie das nicht.", erwiderte Jan und trat in die behagliche Wohnung.

Die Mutter seiner Gesprächspartnerin war am Vortag verstorben. In den Siebzigern, nicht an Corona sondern an einer langjährigen Krebserkrankung. Angebotene Getränke und Knabbereien lehnte Jan dankend ab. Er stellte die üblichen Fragen. Zuerst die organisatorischen, dann die inhaltlichen, schließlich die wesentlichen: Wer war die Verstorbene gewesen, welche Rolle hatte sie gespielt, was hatte sie ausgemacht und so weiter.
Ein barhäuptiger Jugendlicher betrat das Wohnzimmer, ließ sich grußlos auf den größten Sessel plumpsen und wischte auf seinem Smartphone herum. Jeder Millimeter fehlgeleitete deutsche Wertarbeit, dachte Jan, macht auf Gemeinschaft und denkt dabei nur an sich.
Die Mutter war aufmerksamer als Jan erwartet hatte. Ihr Blick ging zwischen dem Pfarrer und dem Jugendlichen hin und her. Schließlich erklärte sie: "Der Maxi hat seine Oma sehr gern gehabt. Keiner hatte meine Mutter so gern wie der Maxi."
"Quatsch nich, Mudder!", blaffte Maxi sie an.
Jan erkannte ihn. Vor drei Jahren hatte er ihn aus der Kirche herauskonfirmiert. Schon damals hatte er sich so bretthart gegeben. Aber er machte niemandem etwas vor, weder seiner eigenen Mutter noch seinem Pastor. Auch heute waren die unendliche Trauer und die tiefe Sehnsucht nach menschlicher Wärme so überdeutlich in seinen Augen, seiner Haltung und seinen Gesten zu sehen, dass der Pfarrer nur schwer dem Impuls widerstehen konnte, den Jungen einfach in den Arm zu nehmen und über seinen Kopf zu streichen. Jan hatte damals versucht, Maxi zu erreichen, ihn mit den noch heilen Teilen seiner Seele bekannt zu machen, aber der hatte sich schon damals einen knallharten Panzer zugelegt und der war nun undurchlässiger denn je. Ein dummer Junge auf dem besten Weg ein großes Nazischwein zu werden. Dieser Heranwachsende steckte so dermaßen voller Wut und selbst wenn Jan gewusst hätte, aus welcher Quelle dieser enorme Zorn sich speiste, was hätte er schon dagegen ausrichten können? Was kann man tun, um einen Faschisten, Coronaleugner, Menschenhasser, Wutbürger dazu zu bewegen, abzulassen von seiner Wut? Seine Gesinnung würde er nicht aufgeben, das war einmal ausgemacht, aber man konnte diese Leute ja nicht einfach abknallen oder einschläfern, schließlich waren sie Menschen und täte man das, wäre man genauso schlimm wie sie. Man konnte sie auch nicht verbannen oder einsperren, dann wäre man auch totalitär. Aber man musste ihnen entgegentreten, ihre Untaten verhindern, vielleicht manchmal mit Gewalt, als letztes Mittel, wenn jede andere Methode versagte. Wenn es nicht mit Überzeugung und gesundem Menschenverstand funktionierte, nicht mit Liebe und nicht mit Verhandeln, auch nicht mit Humor.

Auf dem Heimweg ging ihm der Junge nicht aus dem Kopf. Ein klassischer verlorener Sohn, der die meiste Zeit seines Lebens am Schweine-Trog lagerte und überzeugt war, dass er kaum noch etwas vom Leben zu erwarten hatte. Mit siebzehn. Welch ein Fluch.

Am kommenden Tag hatte Jan etwas in der Innenstadt zu erledigen, einen neuen Matratzenschoner für das Haus in Horumersiel. So lange der traditionelle Bettenladen in der Innenstadt noch nicht aufgegeben hatte, fühlte er sich verpflichtet, dort einzukaufen, auch wenn es sich sehr viel kostspieliger und umständlicher gestaltete, als in einem Großmarkt auf der grünen Wiese, direkt an der Stadtautobahn gelegen. Er tat das auch für sein gutes Gefühl, aber dieses Mal fragte er sich, ob er sich mit der moralisch fragwürdigeren Alternative nicht besser gefühlt hätte. Nicht genug, dass sich der Verkehr im Zentrum stets zähflüssig dahin schleppte, heute waren wieder Die Gegner der Maßnahmen gegen die weitere Ausbreitung der Covid-Pandemie unterwegs, um der Mehrheit durch massives Insistieren und rücksichtslose Einschüchterung ihre Weltsicht aufzuzwingen. Und dann sah er ihn: Maxi Hausmann, mitten im Getümmel, bewaffnet mit einem massiven Nudelholz, mit dem er auf einen uniformierten Polizeibeamten eindrosch. Er prügelte sich gerade um seine Zukunft und einem plötzlichen Impuls folgend schoss Jan aus seinem Auto, rannte auf den entfesselten Jugendlichen zu, packte ihn am Kragen und zerrte ihn in sein Auto. Maxi war viel zu überrascht, um Widerstand zu leisten. Jan drückte ihn auf den Beifahrersitz, schnallte ihn an wie ein Kleinkind, legte den Rückwärtsgang ein und vollzog dem Polizeiaufgebot zum Trotz ein gewagtes Wendemanöver. Der Wagen rollte nicht in die geplante Richtung.
"Was hast du vor, Pastor?", fragte Maxi, viel zu sehr darum bemüht, gefährlich zu klingen, aber mit viel zu ausgeprägtem Vibrato in der Stimme, als das ihm das jemand abgekauft hätte.
"Wir fahren und reden.", antwortete Jan. "Wir reden, wenn wir aus der Stadt raus sind. Bis dahin halten wir den Mund. Du tust ab sofort was ich sage, sonst liefere ich dich direkt bei der Polizei ab. Ich habe alles gesehen und ich verspreche dir, ich werde gegen dich aussagen, wenn du nicht spurst."

Fortsetzung folgt nächsten Freitag

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Freitag, 7. Januar 2022
Die Schönste
Es war einmal an einem fernen Fürstenhof in einem Land, das weder ruhmreich noch von trauriger Berühmtheit war, eine kleine, junge Familie: Der Fürst, die Fürstin und ihre kleine Tochter. Das Mädchen war ihr Sonnenschein, ihr Herzblatt, ihre Schönste, ihre Einzige, ihr ganzer Stolz.
Im Frühling ließ die Mutter ihr die schönsten Kleider nähen und der Vater tanzte mit ihr singend durch den Schlossgarten.
Im Sommer fütterte die Fürstin sie mit köstlichen Beeren und flocht ihr Blumen ins Haar, der Fürst aber ritt mit ihr zum Baden an den nahen Weiher.
Im Herbst sammelte die Mutter allerlei Nüsschen und Trockenblumen mit ihr, um gemeinsam lauter schöne Dinge zu basteln, die bis zum Winter im großen Spielzimmer der Fürstentochter das Herz des Mädchens erfreuten, und der Vater lief mit ihr durch Wald und Wiesen und sie traten kraftvoll ins Laub, sodass es aufwirbelte und wieder auf sie herabregnete.
Im Winter erzählte die Mutter spannende Geschichten am prasselnden Kaminfeuer und es gab Zuckerwerk zu naschen und warmen Apfelsaft. Der Vater baute mit ihr Figuren aus Schnee und wenn der Weiher zufror, gingen beide Eltern mit ihr zum Schlindern auf das blanke Eis.
Zum Weihnachtsfest wurde sie fürstlich beschenkt mit dem herrlichsten Spielzeug, genauso wie zu ihrem Namenstag. Ein fröhlich lachendes Kind war sie, voller Liebreiz, und kein Tag verging, an dem ihre Eltern nicht zeigten, dass sie sie von Herzen liebten.

Im Frühling nach ihrem vierten Wiegenfest wurde den Eltern ein weiteres Mädchen geboren. Nun, da es eine kleine Schwester gab, fehlte den Eltern die Zeit für ihre Erstgeborene. Statt luftiger neuer Frühlingskleidchen ließ die Mutter Kleidchen, Jäckchen und Mützchen in allen erdenklichen Farben und Formen für das neue Mädchen nähen und wenn sie nicht schlief, so lag das Schwesterchen an ihrer Brust oder wurde durch den Schlosspark gefahren oder herumgetragen. Auch der Fürst hatte nur noch Augen für das Neugeborene und schließlich nahm das kleine Mädchen das Wangenrotpulver ihrer Mutter und rieb sich das ganze Gesicht damit ein, denn sie dachte, wenn sie so viel von dem roten Pulver nahm, von dem die Mama ganz schön wurde, dann würde sie so unsagbar schön, dass Mutter und Vater sie wieder ansehen und liebhaben würden.

Doch sie schimpften nur schrecklich mit ihr, ließen ihr das Gesicht mit der Wurzelbürste schrubben, so dass es furchtbar brannte und schickten sie ohne Abendessen ins Bett.
Oh wie war sie da wütend auf die kleine Schwester, die ihr alles genommen hatte, was ihr im Leben Freude machte.

Sie freute sich auf den Sommer, doch zum Beeren pflücken blieb keine Zeit und am Weiher wurde nicht mehr gebadet, weil das kleine Kindchen nicht auf dem Pferd herumgeschüttelt werden durfte und der Fußweg zu lange dauerte. So ging es weiter und weiter und als das Weihnachtsfest kam, hatte sie schon fast die Hoffnung aufgegeben, dass es irgendwann wieder besser würde. Die Großmutter kam zu Besuch und staunte genauso über das neue kleine Mädchen wie schon so viele Besucher zuvor. Doch als es zur Bescherung in die Weihnachtsstube ging, nahm sie die Älteste beiseite und raunte ihr zu: ?Du warst aber ein viel, viel schöneres Kindchen, als du auf die Welt kamst und dazu bist du jeden Tag schöner geworden. Du wirst immer größer und schöner sein als deine hutzelige, kleine Schwester, aber das bleibt unser Geheimnis. Die Hauptsache ist doch, dass du es weißt und dass ich es weiß. Wir beide, wir wissen Bescheid.?
Dabei lächelte die Großmutter verschmitzt und das kleine Mädchen schritt stolz und glücklich in die Weihnachtsstube. Fortan war das erste, das sie jeden Morgen dachte, wenn sie die Augen aufschlug: ?Ich bin die Größte und die Schönste und mein Schwesterlein ist nichts als ein hutzliges Kindchen und wird nie so groß und schön sein wie ich.?

Ein weiteres Jahr zog ins Land und die kleine Schwester wurde größer und schöner, fing an zu laufen und sprechen, doch sie blieb immer die Kleinere, Ungeschicktere und Unansehnlichere. Und als sie selbst laufen und sprechen konnte, war da auch wieder Zeit zum Blumen flechten, baden und Herbstlaub treten, nur eben mit der kleinen Schwester dabei.

Es wurde Sommer und wieder kam ein Kind zur Welt. Diesmal war es ein Brüderchen. Zuerst dachte die schöne Fürstentochter, das sei weniger schlimm, kein liebliches Mädchen, das ihr erneut die Liebe der Eltern streitig machte, ein Junge, ein raues Wesen, dem niemand schöne Kleider nähen musste, aber der Junge stellte sogar die kleine Schwester in den Schatten. Die nahm es gleichmütig auf, kannte sie es doch nicht anders als dass da noch ein anderes Kind war. Unsere Fürstentochter hingegen war zutiefst entsetzt, als sie feststellen musste, dass es mit dem Jungen noch schlimmer wurde. Sogar die Großmutter raunte ihr beim nächsten Weihnachtsfest keine Geheimnisse mehr zu. Alle schwärmten nur noch vom Stammhalter, vom Erben und von seinen blanken Augen.
Sie hoffte, er würde für die Erwachsenen genauso seinen Reiz verlieren wie die kleine Schwester, doch als er endlich laufen und sprechen konnte, galten alle Augen und Ohren ihm. Seine Wünsche waren Befehl, seine Streiche eine einzige Freude.

Im Herbst kam wieder ein Schwesterchen zur Welt. Sie war ganz anders als ihre älteren Geschwister, viel zu niedlich und als sie heranwuchs, stellte sich heraus, dass sie singen und tanzen konnte wie eine Elfe. Doch die Älteste hatte bald heraus, dass sie ein einfältiges Mädchen war. Niedlich, gutherzig, aber strunzdumm. Es war leicht, sie klein zu halten und dafür zu sorgen, dass aus ihr keine wahre Schönheit wurde. Sie dünnte ihr das Haar mit der Brennschere aus, verführte sie, sich mit süßen Leckereien vollzustopfen, damit sie rund und fett wurde und verleitete sie stets zu Spielen, bei denen sie sich schmutzig machte, ganz besonders im Gesicht.

Alle vier Kinder wuchsen heran und schließlich ließen die kleinen Schwestern sich nicht mehr ohne weiteres von der Ältesten in den Schatten stellen, aber sie blieb dabei: Sie war die Erste, die Einzige und die Schönste und darum gebührte ihr auch der beste Mann von allen. Keiner war gut genug für sie und so heiratete die Zweitgeborene zuerst einen stattlichen Fürstensohn aus dem Nachbarreich und die Jüngste wurde bald danach Königin eines lieblichen Königreichs im Süden, klein aber wohlhabend und friedvoll. Die Älteste war schon fast über der Zeit als sie endlich einen König fand, der ihr genügte, einen Witwer mit einer einzigen Tochter, blass und dunkelhaarig und unscheinbar. Dort in diesem riesigen Reich hoch im Norden konnte keine sie an Liebreiz überbieten und endlich war sie die Schönste im ganzen Land und nicht einer zog das in Zweifel. Einige Jahre lang.

Es nahm kein gutes Ende mit ihr. Es geht die Kunde, sie habe auf der Hochzeit ihrer Stieftochter in glühenden Pantoffeln tanzen müssen, bis sie tot umfiel.

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Freitag, 31. Dezember 2021
Am Ende
Wenn ein Jahr zu Ende geht
ist's für vieles schon zu spät:
Bikini-Body, Marmelade
Salat aussäen, ach wie schade,
verpasste Chance, verlor'ne Wette,
hätte, hätte, Fahrradkette.

Möchte es reanimieren,
mal gewinnen statt verlieren,
doch was nützt es, dass man betet,
wenn die Zeit doch alles tötet.

Sie ist gestellt, die Mörderin,
wo sie wütet, geht alles hin.
Und sie wütet überall.
Keine Chance, auf keinen Fall.

Ist ein neues Jahr geboren,
gibt sie es auch schon verloren,
lässt den Dingen ihren Lauf,
frisst es ohne Gnade auf.

Räubermonster, Horrormutter,
ihre Kinder sind ihr Futter,
speist sich aus sich selbst heraus,
spuckt die kahlen Knochen aus.

Schmerzliche Erinnerungen,
blasse Bilder, Leid-durchdrungen,
Trauer, Reue, Angst, Verlust,
Wut und Ohnmacht und Verdruss.

Wer kann sie in Gewahrsam nehmen,
ihren harten Kiefer lähmen?
Und wer bestraft sie und womit?
Vielleicht mit einem schlechten Lied?

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Freitag, 24. Dezember 2021
Ästhet
"Heute bringe ich mal keinen um. Ausnahmsweise. Ist ja schließlich Heilig Abend. Da gehört sich das nicht. Was sollen denn die Kameraden von mir denken? Und die Reni?"

So dachte er. Und weil doch Weihnachten war, brach er einen Stechpalmenzweig von dem Busch neben dem Kriegerdenkmal. Die Blätter waren dornig und stachen ihn heftig in den rechten Zeigefinger, dass das Blut daraus hervorquoll und in den glitzernden Dezemberschnee tropfte. Und weil das Rote auf dem Weißen so schön aussah, so neben den schwarzen, polierten Stiefeln, dachte er, dass es doch ein Jammer sei, auf diese Schönheit zu verzichten. Es brauchte mehr Rot. Musste er wohl doch noch jemanden erlegen. Schließlich war Weihnachten. Und Weihnachten will es schließlich jeder ein bisschen schön haben.

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