... newer stories
Freitag, 3. September 2021
Mitten ins Herz
c. fabry, 13:20h
Komisch. Wie hatte sie das nun wieder herausbekommen? Das konnte doch kein Zufall sein. Wie viele schnuckelige Ferienziele gab es in Holland? Und wie viele Dörfer und Ferienhäuser in den Polderwiesen rund um Ouddorp? Wie konnte es sein, dass sie ausgerechnet in Goedereede eine Ferienwohnung gefunden hatte?
Sicher hatte Uwe arglos davon erzählt, von dem kleinen, historischen Häuschen an der Gracht, das lieben Freunden gehörte, die es ihm gern günstig vermieteten. Seit Jahren spannten sie hier aus; früher noch mit Leon, mittlerweile zu zweit. Manchmal fuhr Uwe auch allein hier hin, um runter zu kommen und seine Ruhe zu haben.
Jetzt stand sie hier vor der Tür, mit dem gleichen unterwürfig-debilen Grinsen und dem mühsamen aber zwecklosen Versuch, das Begehren zu verbergen. Uwe zuckte jedes Mal mit den Schultern. "Was regst du dich auf?", fragte er dann. "Sie tut doch nichts. Sie will nur nett sein. "
"Sie will nett mit dir vögeln, du naiver Bewunderungsjunky.", fauchte Karin. "Sie dünstet es förmlich durch jede Pore aus."
Was du immer hast. Sie freut sich einfach, dass jemand ihre Arbeit zu schätzen weiß. Wo bekomme ich sonst so gute Schäfte für meine Pfeile?"
Karin war nicht eifersüchtig, das war sie nie gewesen. Sie wusste, dass die Pfeilschaftfräserin für Uwe keine Versuchung darstellte. Aber ihre Omnipräsenz war ihr unheimlich.
Anja zitterte vor Aufregung und ärgerte sich, dass man ihr den Mangel an Gelassenheit ansah. Ihr Herz hatte einen Purzelbaum geschlagen, als sie das Dortmunder Kennzeichen mit den Initialen von Uwe und Karin entdeckt hatte, das konnte doch kein Zufall sein, das war eine Fügung des Himmels.
Eigentlich hatte sie sich entschlossen, die Finger von Uwe zu lassen, das sechste Gebot hatte schon seinen Sinn. Aber manchmal gingen Ehen einfach so in die Brüche, dann wurden stabile Freundschaften gebraucht und aus Freundschaften wurde leicht mehr, vor allem, wenn man verletzt und allein war.
Wenig später hatte sie im Cafe am Hafen gesessen und zufällig beobachtet, wie Uwe und Karin ihre Einkäufe aus dem Supermarkt zur Ferienwohnung getragen hatten. Sie hatte hastig bezahlt, hatte versucht, sie einzuholen, aber als sie dann plötzlich in einem der alten Fischerhäuser verschwunden waren, hatte sie der Mut verlassen. Unruhig war sie gewesen. Sie wusste, wo er wohnte, wenn auch nicht, für wie lange. Dann war ihr die Idee mit den Pfeilschäften aus hiesigem Schneeball, den sie am Rand eines Waldstücks entdeckt hatte, in den Sinn gekommen.
Ein gänzlich anderes Verfahren, mühsame Handarbeit, aber ein lohnendes Unterfangen. Beherzt war sie in das Gebiet geradelt, hatte kräftige Zweige geschnitten, am Strand in Form geschnitzt und über einem kleinen Feuer aus Treibholz gerade gebogen und ausgerichtet. Drei behielt sie für sich, drei waren für Uwe - Spitzen hatte sie dabei, ebenso Kleber und Material für die Befiederung.
Als sie fertig waren, war sie einen Moment in Sorge gewesen, das Paar könne mittlerweile abgereist sein - aber sie waren da. Und da kam er auch schon, lächelte sie über Karins kalte Schulter hinweg an.
"Das ist ja eine Überraschung. Bist du etwa auch hier im Urlaub?"
"Ja, ich wohne in der Bungalow-Siedlung, nicht so gediegen wie ihr. War aber auch ein Schnäppchen."
"Woher wusstest du denn, wo wir wohnen?"
"Ich habe euch vor zwei Tagen zufällig gesehen, ich wollte euch noch begrüßen, aber da wart ihr schon im Haus verschwunden, da wollte ich nicht stören."
Karin schnaubte verächtlich und Anja gab sich Mühe, es zu ignorieren. Sie hielt Uwe die Pfeile hin. "Hier. Sonderanfertigungen aus hiesigem Schneeball. Probier sie gleich mal aus und sag mir dann bei Gelegenheit, wie zufrieden du damit bist."
"Ich habe gar keinen Bogen dabei."
"Ich kann dir meinen leihen."
"Dazu hat Uwe gar keine Zeit.", mischte Karin sich ein. " Wir haben genug auf dem Programm. Schießen kann er wieder zu Hause. "
Uwe zuckte lächelnd mit den Schultern. "Ja, ich gehe morgen Segeln, Karin macht einen Malkurs, und anschließend wollen wir im Yachtclub zusammen essen und dann vom Dorf aus an den Strand im Naturschutzgebiet wandern. In dem Stil geht es täglich weiter. Wir sind durchgetaktet. Aber danke, dass du an mich gedacht hast, ich teste die Pfeile zu Hause. Was bekommst du von mir?"
"Nichts. ", antwortete Anja und verbarg nur unzureichend ihre Enttäuschung. "Sind ja erste Prototypen. "
Uwe wurde allmählich unruhig. Hoffentlich blieb das Wetter beständig und der Malkurs wurde nicht abgesagt. Nur so bestand die Chance auf ein Treffen. Zu lange wartete er schon, zu lange hatte er die Sehnsucht unter dem Deckel halten müssen. Er war nun einmal ein leidenschaftlicher Typ, da war nichts zu machen. Und so viel er Karin auch verdankte, sie war längst von der großen Liebe zur vertrauten Gefährtin und von der vertrauten Gefährtin zur Alltagsstatistin mutiert. Anstrengend war sie geworden, fordernd, launisch und an allem hatte sie etwas auszusetzen.
Er sehnte sich nach Leichtigkeit, Übereinstimmung, Fröhlichkeit und Harmonie, nach freigiebiger Zärtlichkeit und selbstloser Zuwendung. Von Karin war all das schon lange nicht mehr zu erwarten.
Karin hatte nicht gut geschlafen. Sie hatte ihrem naiven Ehemann gründlich die Leviten gelesen, er mache der liebeskranken Pfeilmacherin nur falsche Hoffnungen. Sie würde weiterhin lästig fallen und selbst wäre sie am Ende verletzt. Uwe hatte erwidert, das sei eine grobe Überbewertung der Ereignisse, er gebe Anja in keinster Weise auch nur den geringsten Anlass zu der Annahme, er wolle ihr Avancen machen. Damit hatte er das Gespräch für beendet erklärt. Wie immer.
Anja hatte ebenfalls die halbe Nacht wach gelegen. In der zweiten Hälfte hatte sie sich aufs Rad geschwungen und die Umgebung erkundet, ein paar Informationen aus dem Internet und schließlich stand ihr Plan. Uwe wagte nicht, seine Frau zu verlassen , dafür hielt sie viel zu erbittert an ihm fest. Also musste seine Frau ihn verlassen. Und sie, Anja, würde dafür sorgen.
Karins Malkurs fand in einem architektonisch ansprechenden Holzneubau in den Dünen statt. Es war ein Leichtes, eine geeignete Anhöhe zu finden, um sich h im Schutz der fruchtig duftenden Sanddornbüsche auf die Lauer zu legen. Anja machte Dehn- und Aufwärmübungen, um im richtigen Moment mit blitzschneller Präzision zu Werke zu gehen.
Kein Schneeball-Pfeil, der hätte sie verraten, einer aus Carbon, die nahm sie gern zum Üben, das wusste aber niemand und wer käme schon darauf, dass hinter einem Carbon-Pfeil eine Holzpfeilbauerin steckte?
Uwes Haare waren ganz klebrig und strähnig von der feucht-salzigen Luft. Mit jedem Schritt, mit dem er dem futuristischen Künstlerdom näher kam, wich seine eben noch empfundene Leichtigkeit der vertrauten Schwere. Eine Gestalt, die Ähnlichkeit mit Karin hatte, stand an einem Geländer der Außenterrasse und sackte plötzlich zusammen. Zunächst blieb alles ruhig,dann beugte sich jemand über die Stelle, an der sie hinter der Brüstung verschwunden war. Aufgeregte Rufe, mehr Menschen, die sich näherten und Uwe beschlich ein unheimliches Gefühl, eine Mischung aus Angst, Entsetzen und Vorfreude, das ihn vor selbst erschrecken ließ.
Als Karin sah, was sie sah, spürte sie nur noch Verzweiflung. Die alte Geschichte lag Jahrzehnte zurück und jetzt war sie plötzlich wieder da. Sie war jünger, schöner, strahlender und schon immer um ein Vielfaches interessanter. Und sie hatte es nicht nötig, einem Mann nachzustellen, sie war einfach Lilly und die Männer stellten ihr nach. Aber nicht einmal das hatte Uwe nötig. Er verschlang sie einfach mit seinen weichen Lippen und sie ließ sich verschlingen.
Jetzt war der Moment gekommen. Anja zog die Sehne bis an ihr Herz, fixierte das Ziel, schloss konzentriert die Augen und ließ los. Im nächsten Moment sank Karin zusammen.
"Es ist getan. ", dachte sie, schob den Bogen ins Futeral und ging ruhig und lässig zu ihrem Fahrrad. Jetzt bloß nicht auffallen. Niemand achtete auf sie auf ihrem Weg durch die Dünen. Was nun wohl geschehen würde? War das wirklich richtig, was sie da getan hatte? Vielleicht hatte sie dem Mann, den sie über alles liebte, am Ende den schlimmsten Schmerz seines Lebens zugefügt. Vielleicht würde er sich doch zusammenreimen, dass Anja hinter dem Anschlag steckte und sie für den Rest ihres Lebens dafür hassen. Und selbst wenn er vollkommen ahnungslos war, so wollte er womöglich gar nicht von ihr getröstet werden, wollte sich lieber in seine Trauer zurückziehen und nicht gestört werden. Am Ende würde sie den Punkt verpassen, an dem er wieder bereit war für Kontakt, gute Gespräche, Nähe und Zärtlichkeit. Wie viel leichter wäre es doch gewesen, ihn von ihrer Einzigartigkeit und Kompatibilität zu überzeugen, solange die zänkische, missgünstige Karin tagtäglich ihr wahres Gesicht offenbarte. Nun würde die Verstorbene auf ewig in einem verklärten Licht erscheinen, eine perfekte Ikone, gegen die eine durchschnittliche Anja aus Fleisch und Blut nicht den Hauch einer Chance hatte.
Uwe kam zeitgleich mit dem Notarzt auf der Terrasse an, er konnte Karin nirgends finden. Und dann lag sie da. Jemand versuchte, sie zu reanimieren, doch der Arzt konnte nur noch den Tod feststellen. Sie war einfach so umgefallen, vielleicht ein heftiger Schlaganfall oder ein Herzstillstand infolge einer Embolie. Man würde sie untersuchen müssen.
In den Dünen lag Murkel, Annekes ausgerissenes Kaninchen. Es hatte ein schönes Leben. Und einen schönen Tod, getroffen von einem Carbon-Pfeil. Mitten ins Herz.
Sicher hatte Uwe arglos davon erzählt, von dem kleinen, historischen Häuschen an der Gracht, das lieben Freunden gehörte, die es ihm gern günstig vermieteten. Seit Jahren spannten sie hier aus; früher noch mit Leon, mittlerweile zu zweit. Manchmal fuhr Uwe auch allein hier hin, um runter zu kommen und seine Ruhe zu haben.
Jetzt stand sie hier vor der Tür, mit dem gleichen unterwürfig-debilen Grinsen und dem mühsamen aber zwecklosen Versuch, das Begehren zu verbergen. Uwe zuckte jedes Mal mit den Schultern. "Was regst du dich auf?", fragte er dann. "Sie tut doch nichts. Sie will nur nett sein. "
"Sie will nett mit dir vögeln, du naiver Bewunderungsjunky.", fauchte Karin. "Sie dünstet es förmlich durch jede Pore aus."
Was du immer hast. Sie freut sich einfach, dass jemand ihre Arbeit zu schätzen weiß. Wo bekomme ich sonst so gute Schäfte für meine Pfeile?"
Karin war nicht eifersüchtig, das war sie nie gewesen. Sie wusste, dass die Pfeilschaftfräserin für Uwe keine Versuchung darstellte. Aber ihre Omnipräsenz war ihr unheimlich.
Anja zitterte vor Aufregung und ärgerte sich, dass man ihr den Mangel an Gelassenheit ansah. Ihr Herz hatte einen Purzelbaum geschlagen, als sie das Dortmunder Kennzeichen mit den Initialen von Uwe und Karin entdeckt hatte, das konnte doch kein Zufall sein, das war eine Fügung des Himmels.
Eigentlich hatte sie sich entschlossen, die Finger von Uwe zu lassen, das sechste Gebot hatte schon seinen Sinn. Aber manchmal gingen Ehen einfach so in die Brüche, dann wurden stabile Freundschaften gebraucht und aus Freundschaften wurde leicht mehr, vor allem, wenn man verletzt und allein war.
Wenig später hatte sie im Cafe am Hafen gesessen und zufällig beobachtet, wie Uwe und Karin ihre Einkäufe aus dem Supermarkt zur Ferienwohnung getragen hatten. Sie hatte hastig bezahlt, hatte versucht, sie einzuholen, aber als sie dann plötzlich in einem der alten Fischerhäuser verschwunden waren, hatte sie der Mut verlassen. Unruhig war sie gewesen. Sie wusste, wo er wohnte, wenn auch nicht, für wie lange. Dann war ihr die Idee mit den Pfeilschäften aus hiesigem Schneeball, den sie am Rand eines Waldstücks entdeckt hatte, in den Sinn gekommen.
Ein gänzlich anderes Verfahren, mühsame Handarbeit, aber ein lohnendes Unterfangen. Beherzt war sie in das Gebiet geradelt, hatte kräftige Zweige geschnitten, am Strand in Form geschnitzt und über einem kleinen Feuer aus Treibholz gerade gebogen und ausgerichtet. Drei behielt sie für sich, drei waren für Uwe - Spitzen hatte sie dabei, ebenso Kleber und Material für die Befiederung.
Als sie fertig waren, war sie einen Moment in Sorge gewesen, das Paar könne mittlerweile abgereist sein - aber sie waren da. Und da kam er auch schon, lächelte sie über Karins kalte Schulter hinweg an.
"Das ist ja eine Überraschung. Bist du etwa auch hier im Urlaub?"
"Ja, ich wohne in der Bungalow-Siedlung, nicht so gediegen wie ihr. War aber auch ein Schnäppchen."
"Woher wusstest du denn, wo wir wohnen?"
"Ich habe euch vor zwei Tagen zufällig gesehen, ich wollte euch noch begrüßen, aber da wart ihr schon im Haus verschwunden, da wollte ich nicht stören."
Karin schnaubte verächtlich und Anja gab sich Mühe, es zu ignorieren. Sie hielt Uwe die Pfeile hin. "Hier. Sonderanfertigungen aus hiesigem Schneeball. Probier sie gleich mal aus und sag mir dann bei Gelegenheit, wie zufrieden du damit bist."
"Ich habe gar keinen Bogen dabei."
"Ich kann dir meinen leihen."
"Dazu hat Uwe gar keine Zeit.", mischte Karin sich ein. " Wir haben genug auf dem Programm. Schießen kann er wieder zu Hause. "
Uwe zuckte lächelnd mit den Schultern. "Ja, ich gehe morgen Segeln, Karin macht einen Malkurs, und anschließend wollen wir im Yachtclub zusammen essen und dann vom Dorf aus an den Strand im Naturschutzgebiet wandern. In dem Stil geht es täglich weiter. Wir sind durchgetaktet. Aber danke, dass du an mich gedacht hast, ich teste die Pfeile zu Hause. Was bekommst du von mir?"
"Nichts. ", antwortete Anja und verbarg nur unzureichend ihre Enttäuschung. "Sind ja erste Prototypen. "
Uwe wurde allmählich unruhig. Hoffentlich blieb das Wetter beständig und der Malkurs wurde nicht abgesagt. Nur so bestand die Chance auf ein Treffen. Zu lange wartete er schon, zu lange hatte er die Sehnsucht unter dem Deckel halten müssen. Er war nun einmal ein leidenschaftlicher Typ, da war nichts zu machen. Und so viel er Karin auch verdankte, sie war längst von der großen Liebe zur vertrauten Gefährtin und von der vertrauten Gefährtin zur Alltagsstatistin mutiert. Anstrengend war sie geworden, fordernd, launisch und an allem hatte sie etwas auszusetzen.
Er sehnte sich nach Leichtigkeit, Übereinstimmung, Fröhlichkeit und Harmonie, nach freigiebiger Zärtlichkeit und selbstloser Zuwendung. Von Karin war all das schon lange nicht mehr zu erwarten.
Karin hatte nicht gut geschlafen. Sie hatte ihrem naiven Ehemann gründlich die Leviten gelesen, er mache der liebeskranken Pfeilmacherin nur falsche Hoffnungen. Sie würde weiterhin lästig fallen und selbst wäre sie am Ende verletzt. Uwe hatte erwidert, das sei eine grobe Überbewertung der Ereignisse, er gebe Anja in keinster Weise auch nur den geringsten Anlass zu der Annahme, er wolle ihr Avancen machen. Damit hatte er das Gespräch für beendet erklärt. Wie immer.
Anja hatte ebenfalls die halbe Nacht wach gelegen. In der zweiten Hälfte hatte sie sich aufs Rad geschwungen und die Umgebung erkundet, ein paar Informationen aus dem Internet und schließlich stand ihr Plan. Uwe wagte nicht, seine Frau zu verlassen , dafür hielt sie viel zu erbittert an ihm fest. Also musste seine Frau ihn verlassen. Und sie, Anja, würde dafür sorgen.
Karins Malkurs fand in einem architektonisch ansprechenden Holzneubau in den Dünen statt. Es war ein Leichtes, eine geeignete Anhöhe zu finden, um sich h im Schutz der fruchtig duftenden Sanddornbüsche auf die Lauer zu legen. Anja machte Dehn- und Aufwärmübungen, um im richtigen Moment mit blitzschneller Präzision zu Werke zu gehen.
Kein Schneeball-Pfeil, der hätte sie verraten, einer aus Carbon, die nahm sie gern zum Üben, das wusste aber niemand und wer käme schon darauf, dass hinter einem Carbon-Pfeil eine Holzpfeilbauerin steckte?
Uwes Haare waren ganz klebrig und strähnig von der feucht-salzigen Luft. Mit jedem Schritt, mit dem er dem futuristischen Künstlerdom näher kam, wich seine eben noch empfundene Leichtigkeit der vertrauten Schwere. Eine Gestalt, die Ähnlichkeit mit Karin hatte, stand an einem Geländer der Außenterrasse und sackte plötzlich zusammen. Zunächst blieb alles ruhig,dann beugte sich jemand über die Stelle, an der sie hinter der Brüstung verschwunden war. Aufgeregte Rufe, mehr Menschen, die sich näherten und Uwe beschlich ein unheimliches Gefühl, eine Mischung aus Angst, Entsetzen und Vorfreude, das ihn vor selbst erschrecken ließ.
Als Karin sah, was sie sah, spürte sie nur noch Verzweiflung. Die alte Geschichte lag Jahrzehnte zurück und jetzt war sie plötzlich wieder da. Sie war jünger, schöner, strahlender und schon immer um ein Vielfaches interessanter. Und sie hatte es nicht nötig, einem Mann nachzustellen, sie war einfach Lilly und die Männer stellten ihr nach. Aber nicht einmal das hatte Uwe nötig. Er verschlang sie einfach mit seinen weichen Lippen und sie ließ sich verschlingen.
Jetzt war der Moment gekommen. Anja zog die Sehne bis an ihr Herz, fixierte das Ziel, schloss konzentriert die Augen und ließ los. Im nächsten Moment sank Karin zusammen.
"Es ist getan. ", dachte sie, schob den Bogen ins Futeral und ging ruhig und lässig zu ihrem Fahrrad. Jetzt bloß nicht auffallen. Niemand achtete auf sie auf ihrem Weg durch die Dünen. Was nun wohl geschehen würde? War das wirklich richtig, was sie da getan hatte? Vielleicht hatte sie dem Mann, den sie über alles liebte, am Ende den schlimmsten Schmerz seines Lebens zugefügt. Vielleicht würde er sich doch zusammenreimen, dass Anja hinter dem Anschlag steckte und sie für den Rest ihres Lebens dafür hassen. Und selbst wenn er vollkommen ahnungslos war, so wollte er womöglich gar nicht von ihr getröstet werden, wollte sich lieber in seine Trauer zurückziehen und nicht gestört werden. Am Ende würde sie den Punkt verpassen, an dem er wieder bereit war für Kontakt, gute Gespräche, Nähe und Zärtlichkeit. Wie viel leichter wäre es doch gewesen, ihn von ihrer Einzigartigkeit und Kompatibilität zu überzeugen, solange die zänkische, missgünstige Karin tagtäglich ihr wahres Gesicht offenbarte. Nun würde die Verstorbene auf ewig in einem verklärten Licht erscheinen, eine perfekte Ikone, gegen die eine durchschnittliche Anja aus Fleisch und Blut nicht den Hauch einer Chance hatte.
Uwe kam zeitgleich mit dem Notarzt auf der Terrasse an, er konnte Karin nirgends finden. Und dann lag sie da. Jemand versuchte, sie zu reanimieren, doch der Arzt konnte nur noch den Tod feststellen. Sie war einfach so umgefallen, vielleicht ein heftiger Schlaganfall oder ein Herzstillstand infolge einer Embolie. Man würde sie untersuchen müssen.
In den Dünen lag Murkel, Annekes ausgerissenes Kaninchen. Es hatte ein schönes Leben. Und einen schönen Tod, getroffen von einem Carbon-Pfeil. Mitten ins Herz.
... link (0 Kommentare) ... comment
Freitag, 27. August 2021
Botolinumtoxin
c. fabry, 10:55h
Am Ende hatte sie noch immer 450 Euro eingebüßt. Und ihre Unschuld. Und außerdem jede Chance auf Glück.
Sie hatte sich nicht ausreichend informiert. Als sie sah, was das Gift im Gesicht ihres Peinigers anrichtete, als ihr klar wurde, dass sie gerade sein Leben ausgelöscht hatte, hätte sie am liebsten alles rückgängig gemacht. Die Scheine steckte sie trotzdem ein. Zu demonstrativ lugte das hochwertige Leder-Portemonnaie aus der Manteltasche an der Garderobe. So sah es wenigstens nach Raub aus.
In 997 von Tausend Fällen lief bei den Patientinnen alles zur vollsten Zufriedenheit. Sie gehörte zu den 3 Promille. Jetzt hatte sie genau das, was sie immer vermeiden wollte: die entstellte Fratze einer Kettenreaktion aus kosmetischer Fehlbehandlung. Zahlen musste sie trotzdem und einen Prozess konnte sie sich nicht leisten.
Aber er würde auch zahlen. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie an diese überschaubare Menge Flusssäure gekommen war, dezent abgefüllt in einer Shampooflasche. Glas wäre ihr lieber gewesen, aber Glas wurde von dieser Flüssigkeit ebenfalls angegriffen. Sie würde sich in acht nehmen müssen, damit sie nicht selbst etwas davon abbekam.
Stolze 700 Euro hatte sie hingeblättert, sie hatte etwas tun wollen, damit die geplanten Durchbrüche klappten - in der Karriere genauso wie in der Liebe. Liebe war vielleicht ein bisschen hoch gegriffen, es ging ja eher um die Optimierung der Paarungschancen, die Erhöhung des eigenen Marktwertes, um gelegentlich so etwas wie echte Leidenschaft und Ekstase erleben zu dürfen, statt der vorgespielten, teuer bezahlten Plastiksex-Events in drittklassigen Hotelzimmern.
Mit Aloe Vera war da nichts mehr zu machen, nicht einmal mit der naturreinen. Aber dieses Rumgeschnippel war auch keine Option, da musste man wochenlang untertauchen, riskierte hässliche Narben oder Infektionen. Darum hatte sie die Kosmetikerin in der Kurzen Straße aufgesucht, die machte so was, aber als sie etwas konkreter nachgefragt hatte und immer so ausweichende Antworten bekam, hatte sie sich entschlossen, etwas tiefer in die Tasche zu greifen und einen Experten aufgesucht.
Dabei war sie doch vor einem halben Jahr noch eine ganz normale Frau gewesen.
Sie hatte sich nicht ausreichend informiert. Als sie sah, was das Gift im Gesicht ihres Peinigers anrichtete, als ihr klar wurde, dass sie gerade sein Leben ausgelöscht hatte, hätte sie am liebsten alles rückgängig gemacht. Die Scheine steckte sie trotzdem ein. Zu demonstrativ lugte das hochwertige Leder-Portemonnaie aus der Manteltasche an der Garderobe. So sah es wenigstens nach Raub aus.
In 997 von Tausend Fällen lief bei den Patientinnen alles zur vollsten Zufriedenheit. Sie gehörte zu den 3 Promille. Jetzt hatte sie genau das, was sie immer vermeiden wollte: die entstellte Fratze einer Kettenreaktion aus kosmetischer Fehlbehandlung. Zahlen musste sie trotzdem und einen Prozess konnte sie sich nicht leisten.
Aber er würde auch zahlen. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie an diese überschaubare Menge Flusssäure gekommen war, dezent abgefüllt in einer Shampooflasche. Glas wäre ihr lieber gewesen, aber Glas wurde von dieser Flüssigkeit ebenfalls angegriffen. Sie würde sich in acht nehmen müssen, damit sie nicht selbst etwas davon abbekam.
Stolze 700 Euro hatte sie hingeblättert, sie hatte etwas tun wollen, damit die geplanten Durchbrüche klappten - in der Karriere genauso wie in der Liebe. Liebe war vielleicht ein bisschen hoch gegriffen, es ging ja eher um die Optimierung der Paarungschancen, die Erhöhung des eigenen Marktwertes, um gelegentlich so etwas wie echte Leidenschaft und Ekstase erleben zu dürfen, statt der vorgespielten, teuer bezahlten Plastiksex-Events in drittklassigen Hotelzimmern.
Mit Aloe Vera war da nichts mehr zu machen, nicht einmal mit der naturreinen. Aber dieses Rumgeschnippel war auch keine Option, da musste man wochenlang untertauchen, riskierte hässliche Narben oder Infektionen. Darum hatte sie die Kosmetikerin in der Kurzen Straße aufgesucht, die machte so was, aber als sie etwas konkreter nachgefragt hatte und immer so ausweichende Antworten bekam, hatte sie sich entschlossen, etwas tiefer in die Tasche zu greifen und einen Experten aufgesucht.
Dabei war sie doch vor einem halben Jahr noch eine ganz normale Frau gewesen.
... link (0 Kommentare) ... comment
Freitag, 20. August 2021
Lieber Mann
c. fabry, 12:32h
Jens war mit über Fünfzig immer noch der Schwarm aller Schülerinnen. Darüber machten sie im Kollegium gerade Witze. "Ich bin ja der gleiche Jahrgang wie Jens.", sagte Maren mit gespieltem Stolz und warf kokett das Haar zurück.
"Sieht man dir gar nicht an.", meinte der vierzigjährige Gero trocken und nahm einen großen Schluck aus seinem Kaffeebecher.
"Aufgedunsener alter Sack!", dachte Maren erbost. "Hast doch nur Komplexe, weil du nie der Traum irgendeines Mädchens warst, zu keiner Zeit."
Gero war zwar Familienvater, weil er tatsächlich irgendwann die Erste und Einzige gefunden hatte, die sich bei ihm wohl, sicher und wertgeschätzt fühlte, darüber hinaus wurde er aber im besten Fall übersehen und eine Freundin, die ihn von früher kannte, hatte gemeint, dass er schon mit zwanzig ausgesehen habe wie ein Vierzigjähriger und sich auch so verhalten habe.
Man könnte meinen, er sei im Lot mit sich, weil er gegenwärtig mit seinem inneren Alter übereinstimmte. Aber wer im Lot mit sich ist, hat es nicht nötig, andere abzuwerten.
Am Nachmittag kamen alle zur Konferenz zusammen. Maren wäre wie die meisten von ihnen viel lieber nach Hause gegangen, an ihren geliebten Schreibtisch, die neue Unterrichtsreihe zum Thema Abschied und Tod benötigte noch einen letzten Feinschliff und nächste Woche ging es los.
"Wo ist denn unser Pin-up-Boy?", fragte Gudula. Alexander, der Schulleiter, sah sie über die die Gläser seiner Goldrandbrille mahnend an. Gudula zuckte grinsend mit den Schultern, Ellen unterstützte sie: "Der Kollege Liebermann legt seine optischen Vorteile schon sehr auffällig in die Waagschale."
Gero meldete sich zu Wort. "Kann ich vor den ersten Wortmeldungen vielleicht noch die Tagesordnung vorlesen, Herr List?"
Zu Gero hatte der Schulleiter ein betont distanziertes Verhältnis und das lag weder am Dienstalter noch an irgendeiner Art von besonderem Respekt.
"Ich wollte nur anmerken, dass ich gern direkt anfangen würde, statt auf Jens Liebermann zu warten. Wie die meisten hier habe ich heute noch eine Menge Arbeit auf dem Schreibtisch."
"Wer nicht?", seufzte Alexander genervt und setzte an, um die Tagesordnung zu präsentieren, da klopfte es äußerst eindringlich an der Tür des Lehrer*innenzimmers.
"Ja bitte!", rief der Schulleiter und ein Junge aus der Mittelstufe trat ein, mit verstörtem Gesichtsausdruck und hektischem Atem stieß er hervor: "Auf dem Klo liegt einer."
Viel mehr war nicht aus ihm herauszubekommen, also stürmten mehrere Kollegen auf sämtliche Jungen- und Herrentoiletten, bis schließlich Sebastian zurückkam, aschfahl, mit dem Handy am Ohr.
"Ja, danke, dann bis gleich.", sagte er.
Er trat ein, setzte sich wieder auf seinen Stuhl, atmete einmal tief durch und sagte dann: "Es ist Jens. Auf dem Jungenklo am Pausenhof. Sein Kopf steckte noch in der Kloschüssel. Die Polizei ist gleich hier."
Raue und fiepende Laute entwichen den entsetzten Kehlen. Wieso Kloschüssel? Maren musste das erst einmal sortieren. Das konnte kaum ein Unfall sein. Auch kein bizarrer Suizid, zumal Jens nie den Eindruck machte, dies auch nur im entferntesten in Erwägung zu ziehen. Übertriebenes Waterboarding? Aber sie lebten nicht in unter einem Terrorregime, in dem Folter an der Tagesordnung war und Jens mit seinen unpolitischen Fächern, Biologie und Sport, da konnte es doch auch keinen Zusammenstoß mit fehlgeleiteten Geheimdiensten geben, ach, was für ein Quatsch. Jemand musste mächtig sauer auf ihn gewesen sein.
Die Konferenz wurde vertagt, sie warteten auf die Polizei, mussten alle da bleiben, bis der Tatort gesichert war, alle Personalien aufgenommen, alle Kontaktdaten erfasst waren.
Als sie entlassen wurden, ging Maren in einer losen Gruppe nach draußen, bloß an die frische Luft, durch den Haupteingang, möglichst weit weg vom Pausenhof, wo das Ungemach des Todes über dem Asphalt schwebte, wie der Geist Gottes über dem Wasser.
"Man fragt sich natürlich", meinte Gero, "was Jens ausgerechnet auf der Schülertoilette zu suchen hatte. Schließlich war er nicht dran mit Pausenaufsicht."
Gero blickte beifallheischend in die Runde und wartete darauf, dass seine bittere Saat aufging. Jens, ein homosexueller Kinderficker, an dem ein Opfer sich gerächt haben könnte - oder jemand, der einem Opfer nahestand? Diese haltlosen Verdächtigungen fand Maren ungeheuerlich.
Luca Feldmann, der Schülersprecher, hatte die Bemerkung mitgekommen und sagte ruhig und sehr deutlich im Vorbeigehen: "Genauso, wie wir uns alle fragen, was der Herr List auf dem Jungenklo zu suchen hatte."
"Sieht man dir gar nicht an.", meinte der vierzigjährige Gero trocken und nahm einen großen Schluck aus seinem Kaffeebecher.
"Aufgedunsener alter Sack!", dachte Maren erbost. "Hast doch nur Komplexe, weil du nie der Traum irgendeines Mädchens warst, zu keiner Zeit."
Gero war zwar Familienvater, weil er tatsächlich irgendwann die Erste und Einzige gefunden hatte, die sich bei ihm wohl, sicher und wertgeschätzt fühlte, darüber hinaus wurde er aber im besten Fall übersehen und eine Freundin, die ihn von früher kannte, hatte gemeint, dass er schon mit zwanzig ausgesehen habe wie ein Vierzigjähriger und sich auch so verhalten habe.
Man könnte meinen, er sei im Lot mit sich, weil er gegenwärtig mit seinem inneren Alter übereinstimmte. Aber wer im Lot mit sich ist, hat es nicht nötig, andere abzuwerten.
Am Nachmittag kamen alle zur Konferenz zusammen. Maren wäre wie die meisten von ihnen viel lieber nach Hause gegangen, an ihren geliebten Schreibtisch, die neue Unterrichtsreihe zum Thema Abschied und Tod benötigte noch einen letzten Feinschliff und nächste Woche ging es los.
"Wo ist denn unser Pin-up-Boy?", fragte Gudula. Alexander, der Schulleiter, sah sie über die die Gläser seiner Goldrandbrille mahnend an. Gudula zuckte grinsend mit den Schultern, Ellen unterstützte sie: "Der Kollege Liebermann legt seine optischen Vorteile schon sehr auffällig in die Waagschale."
Gero meldete sich zu Wort. "Kann ich vor den ersten Wortmeldungen vielleicht noch die Tagesordnung vorlesen, Herr List?"
Zu Gero hatte der Schulleiter ein betont distanziertes Verhältnis und das lag weder am Dienstalter noch an irgendeiner Art von besonderem Respekt.
"Ich wollte nur anmerken, dass ich gern direkt anfangen würde, statt auf Jens Liebermann zu warten. Wie die meisten hier habe ich heute noch eine Menge Arbeit auf dem Schreibtisch."
"Wer nicht?", seufzte Alexander genervt und setzte an, um die Tagesordnung zu präsentieren, da klopfte es äußerst eindringlich an der Tür des Lehrer*innenzimmers.
"Ja bitte!", rief der Schulleiter und ein Junge aus der Mittelstufe trat ein, mit verstörtem Gesichtsausdruck und hektischem Atem stieß er hervor: "Auf dem Klo liegt einer."
Viel mehr war nicht aus ihm herauszubekommen, also stürmten mehrere Kollegen auf sämtliche Jungen- und Herrentoiletten, bis schließlich Sebastian zurückkam, aschfahl, mit dem Handy am Ohr.
"Ja, danke, dann bis gleich.", sagte er.
Er trat ein, setzte sich wieder auf seinen Stuhl, atmete einmal tief durch und sagte dann: "Es ist Jens. Auf dem Jungenklo am Pausenhof. Sein Kopf steckte noch in der Kloschüssel. Die Polizei ist gleich hier."
Raue und fiepende Laute entwichen den entsetzten Kehlen. Wieso Kloschüssel? Maren musste das erst einmal sortieren. Das konnte kaum ein Unfall sein. Auch kein bizarrer Suizid, zumal Jens nie den Eindruck machte, dies auch nur im entferntesten in Erwägung zu ziehen. Übertriebenes Waterboarding? Aber sie lebten nicht in unter einem Terrorregime, in dem Folter an der Tagesordnung war und Jens mit seinen unpolitischen Fächern, Biologie und Sport, da konnte es doch auch keinen Zusammenstoß mit fehlgeleiteten Geheimdiensten geben, ach, was für ein Quatsch. Jemand musste mächtig sauer auf ihn gewesen sein.
Die Konferenz wurde vertagt, sie warteten auf die Polizei, mussten alle da bleiben, bis der Tatort gesichert war, alle Personalien aufgenommen, alle Kontaktdaten erfasst waren.
Als sie entlassen wurden, ging Maren in einer losen Gruppe nach draußen, bloß an die frische Luft, durch den Haupteingang, möglichst weit weg vom Pausenhof, wo das Ungemach des Todes über dem Asphalt schwebte, wie der Geist Gottes über dem Wasser.
"Man fragt sich natürlich", meinte Gero, "was Jens ausgerechnet auf der Schülertoilette zu suchen hatte. Schließlich war er nicht dran mit Pausenaufsicht."
Gero blickte beifallheischend in die Runde und wartete darauf, dass seine bittere Saat aufging. Jens, ein homosexueller Kinderficker, an dem ein Opfer sich gerächt haben könnte - oder jemand, der einem Opfer nahestand? Diese haltlosen Verdächtigungen fand Maren ungeheuerlich.
Luca Feldmann, der Schülersprecher, hatte die Bemerkung mitgekommen und sagte ruhig und sehr deutlich im Vorbeigehen: "Genauso, wie wir uns alle fragen, was der Herr List auf dem Jungenklo zu suchen hatte."
... link (0 Kommentare) ... comment
Freitag, 13. August 2021
Siehe, ich mache alles neu!
c. fabry, 14:39h
Da lag sie nun. Die erste von sechs bissigen Stuten, die ihr seit einem halben Jahr das Leben zur Hölle machten. Heute hatte Franziska es auf die Spitze getrieben. Ihre Dienstanweisung die Teilnehmenden ihrer Kindergruppe vor Programmbeginn auf Corona zu testen, hatte sie schlicht ignoriert. "Das ist nicht nötig.", hatte sie überlegen geantwortet, "Alles völliger Quatsch. Hier bei uns hat das keiner, wir leben hier auf dem Dorf. Ich kenne jedenfalls noch keinen einzigen Menschen, der es schon hatte und die Kinder auch nicht."
"Deine persönliche Einschätzung ist in diesem Fall irrelevant.", hatte Charlotte verärgert geantwortet. "Ich bin Deine Dienstvorgesetzte und habe dir eine Anweisung erteilt, die du nicht befolgt hast. Hast du mittlerweile wenigstens einen Impftermin vereinbart?"
"Das geht dich gar nichts an.", hatte Franziska gefaucht. "Das ist meine Privatangelegenheit und außerdem bist nicht du meine Dienstvorgesetzte sondern der Leitende Jugendreferent des Kirchenkreises. Du hast mir gar nichts zu sagen."
Charlotte hatte es die Sprache verschlagen. Wie konnte diese Pädagogin so frech werden? Schließlich war sie als Pfarrerin für alles verantwortlich, was sich in ihrer Gemeinde abspielte. Auch wenn die Jugendreferentin, die eine ganze Region versorgte, ihr nicht direkt unterstand, so musste sie sich doch an Vorgaben der Gemeindeleitung halten. Gegenüber einem Mann hätte sie sich eine derartige Aufsässigkeit sicher nicht herausgenommen. Charlotte hatte tief durchgeatmet und dann gesagt: "Ich kläre das mit deinem Vorgesetzten. Bis dahin betrittst du bis auf Weiteres nicht mehr das Kirchengrundstück dieser Gemeinde."
Franziska hatte den Kopf schiefgelegt und leise drohend erwidert: "So ist es mit euch wissenschaftlich ausgerichteten Großstadt-Theologen. Euch fehlt einfach das gesunde Gottvertrauen."
Dann war sie deutlich zu nah an Charlotte herangetreten und hatte sie demonstrativ angehustet. Da war der Damm gebrochen und Charlotte hatte nach dem ersten Besten gegriffen, das ihr in die Hände gekommen war und hatte besinnungslos auf sie eingedroschen, bis sie sich nicht mehr gerührt hatte. Es war ein Waldhorn, ein schadhaftes Instrument, das zu Dekorationszwecken im Kinder- und Jugendraum herumstand. Jetzt war es verbeult und blutverschmiert. Wie hatte sie sich nur so vergessen können?
Dabei hatte alles so vielversprechend angefangen, damals, vor einem halben Jahr...
"Endlich angekommen", dachte Charlotte, als sie zum ersten Mal in ihrem neuen Zuhause von den Sonnenstrahlen wachgeküsst wurde. Hendrik war schon auf dem Weg zur Frühschicht und sie war heilfroh, dass sie, die sie eine unverbesserliche Nachteule war, nicht in einem Beruf im Gesundheitswesen sondern in Verkündigung und Seelsorge gelandet war. Das Arbeiten in den Abendstunden hatte ihr noch nie etwas ausgemacht und berufliche Besprechungen hatten allerfrühestens um 09.00 Uhr stattgefunden, meistens sogar erst um 10.00 Uhr.
Trotzdem hatte sie ihren Beruf in den letzten Jahren zunehmend gehasst. Profilierungsneurotische Kollegen, die ständig auf der Jagd nach dem neuesten Trend waren, eifrig bemüht im vorauseilenden Gehorsam die brandaktuellsten Bedürfnisse der Konsumgesellschaft zu befriedigen. Nein, das hätten sie niemals zugegeben, sie reagierten nur auf die neuesten Impulse, nahmen Anregungen auf, kamen den Bedürfnissen der Gemeindeglieder entgegen, holten sie ab...
Erschwerend war hinzu gekommen, dass in ihrer Gemeinde nahezu ausschließlich Männer am Werk gewesen waren: Ein weiterer Pfarrkollege, ein grantelnder Küster, ein selbstverliebter Jugendreferent, ein kleinkarierter Kirchmeister und ein Haufen männlicher Presbyter, die ihr "Ministerium" in einer Weise zu ihrem Lebensinhalt erklärt hatten, dass sie mit ihren überambitionierten Projekten ständig sämtliche Arbeitsabläufe durcheinandergebracht hatten. Lauter eitle Gockel, von denen jeder versuchte am lautesten zu krähen und sein Gefieder aufs effektivste im strahlenden Licht auszubreiten. Nur die Kirchenmusikerin war angenehm im Umgang, freundlich und zurückhaltend gewesen und die Verwaltungsfachkraft im Büro eine patente, aufgeweckte, humorvolle, junge Frau.
Hektik, Leistungs- und Erfolgsdruck, permanente Kritik und Abwertung, Optimierungswahn und Lifestyle-Theologie - das hatte sie einfach nicht mehr ausgehalten. Und die Zeiten, in denen sie das Leben in der Großstadt mit den vielfältigen kulturellen, gastronomischen und politischen Angeboten in vollen Zügen genießen konnte, waren längst Geschichte. Alles viel zu anstrengend.
Hier ging das Leben langsam und in Ruhe, unaufgeregt, solide, aufs Wesentliche konzentriert. Keine Paradiesvögel, kein sozialer Brennpunkt. Und das Beste: hier arbeiteten fast ausschließlich Frauen! Sie hatte die einzige Pfarrstelle in dieser Gemeinde, eine Teilzeitjugendreferentin, unterstützt von zwei jungen, erwachsenen Ehrenamtlichen, ein Quotenpresbyterium mit Kirchmeisterin, eine Kirchenmusikerin und eine Küsterin.
Die ersten Wochen waren herrlich. Alle waren freundlich, gemütlich, niemand übte Druck aus, niemand musste irgendetwas beweisen.
Doch dann bekam die Idylle erste Risse. Die Kirchenmusikerin rümpfte die Nase, als Charlotte ein paar frische, neue Gemeindelieder mitbrachte, die sie auf einer Fortbildung begeistert gelernt hatte. Sie weigerte sich, die Lieder zu spielen, zuerst hatte sie angeblich keine Zeit zum Üben, dann hatte sie die Noten verlegt und als Charlotte ihr neue Kopien gegeben hatte, hieß es, das sei eine ganz unmögliche Tonart, da würde sie sicher dauernd daneben greifen und nein, transponieren könne man das auch nicht, dann klinge das vollkommen anders und sei auch nicht vernünftig zu singen.
Als nächstes fiel ihr die spießige Arroganz der Verwaltungsfachkraft auf, die mit Betonfrisur und millimetergenauem Lidstrich wie ein Kerberos über das Gemeindebüro herrschte. Einmal hatte Charlotte ihr ein Formular hereingereicht, das sie am Frühstückstisch ausgefüllt hatte und auf das ein Tröpfchen Tee gekleckert war. Mit der gesamten Verachtung, die die gestrenge Sekretärin aufbringen konnte, hatte sie ihr den Zettel über den Schreibtisch geschleudert und spitz erklärt: "So etwas kommt mir nicht in die Unterlagen, so eine Schlamperei. Das füllen sie bitte auf einem sauberen Formular noch einmal aus, am besten gleich hier, damit nicht das nächste Malheur passiert."
Immer einsilbiger war die piefige Tante geworden, weil Charlotte nun einmal nicht so ein blitzsauberes, wohlorganisiertes, akkurates Frauchen war wie sie selbst vor zwei Dekaden.
Und dann diese ehrenamtlichen Hobbytheologinnen in der Jugendarbeit. Beide waren mit Puddingabitur direkt in die Ausbildung gegangen und hielten an den Ritualen ihrer Kindheit und Jugend fest, konservativer als jeder Seniorenclub. Innovative Methoden im Kindergottesdienst lehnten sie kategorisch ab. Abgespeckte Liturgie, Geschichte erzählen, in altershomogenen Gruppen zur Vertiefung Ausmalbilder colorieren, etwas basteln oder reden, gemeinsamer Abschluss, fertig. Neue Methoden überforderten sie, neue Mitarbeitende empfanden sie als Konkurrenz, die sie von ihrem angestammten Platz verdrängten.
Wenigstens die Küsterin war freundlich, auch sehr akkurat, aber viel wohlwollender und toleranter als die übrigen verängstigten Frusthennen. Sie hatte es versucht mit empathischem Entgegenkommen, aber sie hatten sie einfach auflaufen lassen.
Und jetzt war sie ausgerastet und ihre Zeit war um. Es sei denn?
Sie hörte Annalena und Lisa-Marie die Treppe hoch gehen. Ihre Hand griff nach dem Instrument. Es war noch nicht zu Ende.
"Deine persönliche Einschätzung ist in diesem Fall irrelevant.", hatte Charlotte verärgert geantwortet. "Ich bin Deine Dienstvorgesetzte und habe dir eine Anweisung erteilt, die du nicht befolgt hast. Hast du mittlerweile wenigstens einen Impftermin vereinbart?"
"Das geht dich gar nichts an.", hatte Franziska gefaucht. "Das ist meine Privatangelegenheit und außerdem bist nicht du meine Dienstvorgesetzte sondern der Leitende Jugendreferent des Kirchenkreises. Du hast mir gar nichts zu sagen."
Charlotte hatte es die Sprache verschlagen. Wie konnte diese Pädagogin so frech werden? Schließlich war sie als Pfarrerin für alles verantwortlich, was sich in ihrer Gemeinde abspielte. Auch wenn die Jugendreferentin, die eine ganze Region versorgte, ihr nicht direkt unterstand, so musste sie sich doch an Vorgaben der Gemeindeleitung halten. Gegenüber einem Mann hätte sie sich eine derartige Aufsässigkeit sicher nicht herausgenommen. Charlotte hatte tief durchgeatmet und dann gesagt: "Ich kläre das mit deinem Vorgesetzten. Bis dahin betrittst du bis auf Weiteres nicht mehr das Kirchengrundstück dieser Gemeinde."
Franziska hatte den Kopf schiefgelegt und leise drohend erwidert: "So ist es mit euch wissenschaftlich ausgerichteten Großstadt-Theologen. Euch fehlt einfach das gesunde Gottvertrauen."
Dann war sie deutlich zu nah an Charlotte herangetreten und hatte sie demonstrativ angehustet. Da war der Damm gebrochen und Charlotte hatte nach dem ersten Besten gegriffen, das ihr in die Hände gekommen war und hatte besinnungslos auf sie eingedroschen, bis sie sich nicht mehr gerührt hatte. Es war ein Waldhorn, ein schadhaftes Instrument, das zu Dekorationszwecken im Kinder- und Jugendraum herumstand. Jetzt war es verbeult und blutverschmiert. Wie hatte sie sich nur so vergessen können?
Dabei hatte alles so vielversprechend angefangen, damals, vor einem halben Jahr...
"Endlich angekommen", dachte Charlotte, als sie zum ersten Mal in ihrem neuen Zuhause von den Sonnenstrahlen wachgeküsst wurde. Hendrik war schon auf dem Weg zur Frühschicht und sie war heilfroh, dass sie, die sie eine unverbesserliche Nachteule war, nicht in einem Beruf im Gesundheitswesen sondern in Verkündigung und Seelsorge gelandet war. Das Arbeiten in den Abendstunden hatte ihr noch nie etwas ausgemacht und berufliche Besprechungen hatten allerfrühestens um 09.00 Uhr stattgefunden, meistens sogar erst um 10.00 Uhr.
Trotzdem hatte sie ihren Beruf in den letzten Jahren zunehmend gehasst. Profilierungsneurotische Kollegen, die ständig auf der Jagd nach dem neuesten Trend waren, eifrig bemüht im vorauseilenden Gehorsam die brandaktuellsten Bedürfnisse der Konsumgesellschaft zu befriedigen. Nein, das hätten sie niemals zugegeben, sie reagierten nur auf die neuesten Impulse, nahmen Anregungen auf, kamen den Bedürfnissen der Gemeindeglieder entgegen, holten sie ab...
Erschwerend war hinzu gekommen, dass in ihrer Gemeinde nahezu ausschließlich Männer am Werk gewesen waren: Ein weiterer Pfarrkollege, ein grantelnder Küster, ein selbstverliebter Jugendreferent, ein kleinkarierter Kirchmeister und ein Haufen männlicher Presbyter, die ihr "Ministerium" in einer Weise zu ihrem Lebensinhalt erklärt hatten, dass sie mit ihren überambitionierten Projekten ständig sämtliche Arbeitsabläufe durcheinandergebracht hatten. Lauter eitle Gockel, von denen jeder versuchte am lautesten zu krähen und sein Gefieder aufs effektivste im strahlenden Licht auszubreiten. Nur die Kirchenmusikerin war angenehm im Umgang, freundlich und zurückhaltend gewesen und die Verwaltungsfachkraft im Büro eine patente, aufgeweckte, humorvolle, junge Frau.
Hektik, Leistungs- und Erfolgsdruck, permanente Kritik und Abwertung, Optimierungswahn und Lifestyle-Theologie - das hatte sie einfach nicht mehr ausgehalten. Und die Zeiten, in denen sie das Leben in der Großstadt mit den vielfältigen kulturellen, gastronomischen und politischen Angeboten in vollen Zügen genießen konnte, waren längst Geschichte. Alles viel zu anstrengend.
Hier ging das Leben langsam und in Ruhe, unaufgeregt, solide, aufs Wesentliche konzentriert. Keine Paradiesvögel, kein sozialer Brennpunkt. Und das Beste: hier arbeiteten fast ausschließlich Frauen! Sie hatte die einzige Pfarrstelle in dieser Gemeinde, eine Teilzeitjugendreferentin, unterstützt von zwei jungen, erwachsenen Ehrenamtlichen, ein Quotenpresbyterium mit Kirchmeisterin, eine Kirchenmusikerin und eine Küsterin.
Die ersten Wochen waren herrlich. Alle waren freundlich, gemütlich, niemand übte Druck aus, niemand musste irgendetwas beweisen.
Doch dann bekam die Idylle erste Risse. Die Kirchenmusikerin rümpfte die Nase, als Charlotte ein paar frische, neue Gemeindelieder mitbrachte, die sie auf einer Fortbildung begeistert gelernt hatte. Sie weigerte sich, die Lieder zu spielen, zuerst hatte sie angeblich keine Zeit zum Üben, dann hatte sie die Noten verlegt und als Charlotte ihr neue Kopien gegeben hatte, hieß es, das sei eine ganz unmögliche Tonart, da würde sie sicher dauernd daneben greifen und nein, transponieren könne man das auch nicht, dann klinge das vollkommen anders und sei auch nicht vernünftig zu singen.
Als nächstes fiel ihr die spießige Arroganz der Verwaltungsfachkraft auf, die mit Betonfrisur und millimetergenauem Lidstrich wie ein Kerberos über das Gemeindebüro herrschte. Einmal hatte Charlotte ihr ein Formular hereingereicht, das sie am Frühstückstisch ausgefüllt hatte und auf das ein Tröpfchen Tee gekleckert war. Mit der gesamten Verachtung, die die gestrenge Sekretärin aufbringen konnte, hatte sie ihr den Zettel über den Schreibtisch geschleudert und spitz erklärt: "So etwas kommt mir nicht in die Unterlagen, so eine Schlamperei. Das füllen sie bitte auf einem sauberen Formular noch einmal aus, am besten gleich hier, damit nicht das nächste Malheur passiert."
Immer einsilbiger war die piefige Tante geworden, weil Charlotte nun einmal nicht so ein blitzsauberes, wohlorganisiertes, akkurates Frauchen war wie sie selbst vor zwei Dekaden.
Und dann diese ehrenamtlichen Hobbytheologinnen in der Jugendarbeit. Beide waren mit Puddingabitur direkt in die Ausbildung gegangen und hielten an den Ritualen ihrer Kindheit und Jugend fest, konservativer als jeder Seniorenclub. Innovative Methoden im Kindergottesdienst lehnten sie kategorisch ab. Abgespeckte Liturgie, Geschichte erzählen, in altershomogenen Gruppen zur Vertiefung Ausmalbilder colorieren, etwas basteln oder reden, gemeinsamer Abschluss, fertig. Neue Methoden überforderten sie, neue Mitarbeitende empfanden sie als Konkurrenz, die sie von ihrem angestammten Platz verdrängten.
Wenigstens die Küsterin war freundlich, auch sehr akkurat, aber viel wohlwollender und toleranter als die übrigen verängstigten Frusthennen. Sie hatte es versucht mit empathischem Entgegenkommen, aber sie hatten sie einfach auflaufen lassen.
Und jetzt war sie ausgerastet und ihre Zeit war um. Es sei denn?
Sie hörte Annalena und Lisa-Marie die Treppe hoch gehen. Ihre Hand griff nach dem Instrument. Es war noch nicht zu Ende.
... link (0 Kommentare) ... comment
... older stories