Freitag, 27. August 2021
Botolinumtoxin
Am Ende hatte sie noch immer 450 Euro eingebüßt. Und ihre Unschuld. Und außerdem jede Chance auf Glück.

Sie hatte sich nicht ausreichend informiert. Als sie sah, was das Gift im Gesicht ihres Peinigers anrichtete, als ihr klar wurde, dass sie gerade sein Leben ausgelöscht hatte, hätte sie am liebsten alles rückgängig gemacht. Die Scheine steckte sie trotzdem ein. Zu demonstrativ lugte das hochwertige Leder-Portemonnaie aus der Manteltasche an der Garderobe. So sah es wenigstens nach Raub aus.

In 997 von Tausend Fällen lief bei den Patientinnen alles zur vollsten Zufriedenheit. Sie gehörte zu den 3 Promille. Jetzt hatte sie genau das, was sie immer vermeiden wollte: die entstellte Fratze einer Kettenreaktion aus kosmetischer Fehlbehandlung. Zahlen musste sie trotzdem und einen Prozess konnte sie sich nicht leisten.
Aber er würde auch zahlen. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie an diese überschaubare Menge Flusssäure gekommen war, dezent abgefüllt in einer Shampooflasche. Glas wäre ihr lieber gewesen, aber Glas wurde von dieser Flüssigkeit ebenfalls angegriffen. Sie würde sich in acht nehmen müssen, damit sie nicht selbst etwas davon abbekam.

Stolze 700 Euro hatte sie hingeblättert, sie hatte etwas tun wollen, damit die geplanten Durchbrüche klappten - in der Karriere genauso wie in der Liebe. Liebe war vielleicht ein bisschen hoch gegriffen, es ging ja eher um die Optimierung der Paarungschancen, die Erhöhung des eigenen Marktwertes, um gelegentlich so etwas wie echte Leidenschaft und Ekstase erleben zu dürfen, statt der vorgespielten, teuer bezahlten Plastiksex-Events in drittklassigen Hotelzimmern.

Mit Aloe Vera war da nichts mehr zu machen, nicht einmal mit der naturreinen. Aber dieses Rumgeschnippel war auch keine Option, da musste man wochenlang untertauchen, riskierte hässliche Narben oder Infektionen. Darum hatte sie die Kosmetikerin in der Kurzen Straße aufgesucht, die machte so was, aber als sie etwas konkreter nachgefragt hatte und immer so ausweichende Antworten bekam, hatte sie sich entschlossen, etwas tiefer in die Tasche zu greifen und einen Experten aufgesucht.

Dabei war sie doch vor einem halben Jahr noch eine ganz normale Frau gewesen.

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Freitag, 20. August 2021
Lieber Mann
Jens war mit über Fünfzig immer noch der Schwarm aller Schülerinnen. Darüber machten sie im Kollegium gerade Witze. "Ich bin ja der gleiche Jahrgang wie Jens.", sagte Maren mit gespieltem Stolz und warf kokett das Haar zurück.
"Sieht man dir gar nicht an.", meinte der vierzigjährige Gero trocken und nahm einen großen Schluck aus seinem Kaffeebecher.
"Aufgedunsener alter Sack!", dachte Maren erbost. "Hast doch nur Komplexe, weil du nie der Traum irgendeines Mädchens warst, zu keiner Zeit."
Gero war zwar Familienvater, weil er tatsächlich irgendwann die Erste und Einzige gefunden hatte, die sich bei ihm wohl, sicher und wertgeschätzt fühlte, darüber hinaus wurde er aber im besten Fall übersehen und eine Freundin, die ihn von früher kannte, hatte gemeint, dass er schon mit zwanzig ausgesehen habe wie ein Vierzigjähriger und sich auch so verhalten habe.
Man könnte meinen, er sei im Lot mit sich, weil er gegenwärtig mit seinem inneren Alter übereinstimmte. Aber wer im Lot mit sich ist, hat es nicht nötig, andere abzuwerten.

Am Nachmittag kamen alle zur Konferenz zusammen. Maren wäre wie die meisten von ihnen viel lieber nach Hause gegangen, an ihren geliebten Schreibtisch, die neue Unterrichtsreihe zum Thema Abschied und Tod benötigte noch einen letzten Feinschliff und nächste Woche ging es los.

"Wo ist denn unser Pin-up-Boy?", fragte Gudula. Alexander, der Schulleiter, sah sie über die die Gläser seiner Goldrandbrille mahnend an. Gudula zuckte grinsend mit den Schultern, Ellen unterstützte sie: "Der Kollege Liebermann legt seine optischen Vorteile schon sehr auffällig in die Waagschale."

Gero meldete sich zu Wort. "Kann ich vor den ersten Wortmeldungen vielleicht noch die Tagesordnung vorlesen, Herr List?"
Zu Gero hatte der Schulleiter ein betont distanziertes Verhältnis und das lag weder am Dienstalter noch an irgendeiner Art von besonderem Respekt.
"Ich wollte nur anmerken, dass ich gern direkt anfangen würde, statt auf Jens Liebermann zu warten. Wie die meisten hier habe ich heute noch eine Menge Arbeit auf dem Schreibtisch."
"Wer nicht?", seufzte Alexander genervt und setzte an, um die Tagesordnung zu präsentieren, da klopfte es äußerst eindringlich an der Tür des Lehrer*innenzimmers.
"Ja bitte!", rief der Schulleiter und ein Junge aus der Mittelstufe trat ein, mit verstörtem Gesichtsausdruck und hektischem Atem stieß er hervor: "Auf dem Klo liegt einer."

Viel mehr war nicht aus ihm herauszubekommen, also stürmten mehrere Kollegen auf sämtliche Jungen- und Herrentoiletten, bis schließlich Sebastian zurückkam, aschfahl, mit dem Handy am Ohr.
"Ja, danke, dann bis gleich.", sagte er.
Er trat ein, setzte sich wieder auf seinen Stuhl, atmete einmal tief durch und sagte dann: "Es ist Jens. Auf dem Jungenklo am Pausenhof. Sein Kopf steckte noch in der Kloschüssel. Die Polizei ist gleich hier."
Raue und fiepende Laute entwichen den entsetzten Kehlen. Wieso Kloschüssel? Maren musste das erst einmal sortieren. Das konnte kaum ein Unfall sein. Auch kein bizarrer Suizid, zumal Jens nie den Eindruck machte, dies auch nur im entferntesten in Erwägung zu ziehen. Übertriebenes Waterboarding? Aber sie lebten nicht in unter einem Terrorregime, in dem Folter an der Tagesordnung war und Jens mit seinen unpolitischen Fächern, Biologie und Sport, da konnte es doch auch keinen Zusammenstoß mit fehlgeleiteten Geheimdiensten geben, ach, was für ein Quatsch. Jemand musste mächtig sauer auf ihn gewesen sein.

Die Konferenz wurde vertagt, sie warteten auf die Polizei, mussten alle da bleiben, bis der Tatort gesichert war, alle Personalien aufgenommen, alle Kontaktdaten erfasst waren.
Als sie entlassen wurden, ging Maren in einer losen Gruppe nach draußen, bloß an die frische Luft, durch den Haupteingang, möglichst weit weg vom Pausenhof, wo das Ungemach des Todes über dem Asphalt schwebte, wie der Geist Gottes über dem Wasser.
"Man fragt sich natürlich", meinte Gero, "was Jens ausgerechnet auf der Schülertoilette zu suchen hatte. Schließlich war er nicht dran mit Pausenaufsicht."
Gero blickte beifallheischend in die Runde und wartete darauf, dass seine bittere Saat aufging. Jens, ein homosexueller Kinderficker, an dem ein Opfer sich gerächt haben könnte - oder jemand, der einem Opfer nahestand? Diese haltlosen Verdächtigungen fand Maren ungeheuerlich.
Luca Feldmann, der Schülersprecher, hatte die Bemerkung mitgekommen und sagte ruhig und sehr deutlich im Vorbeigehen: "Genauso, wie wir uns alle fragen, was der Herr List auf dem Jungenklo zu suchen hatte."

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Freitag, 13. August 2021
Siehe, ich mache alles neu!
Da lag sie nun. Die erste von sechs bissigen Stuten, die ihr seit einem halben Jahr das Leben zur Hölle machten. Heute hatte Franziska es auf die Spitze getrieben. Ihre Dienstanweisung die Teilnehmenden ihrer Kindergruppe vor Programmbeginn auf Corona zu testen, hatte sie schlicht ignoriert. "Das ist nicht nötig.", hatte sie überlegen geantwortet, "Alles völliger Quatsch. Hier bei uns hat das keiner, wir leben hier auf dem Dorf. Ich kenne jedenfalls noch keinen einzigen Menschen, der es schon hatte und die Kinder auch nicht."
"Deine persönliche Einschätzung ist in diesem Fall irrelevant.", hatte Charlotte verärgert geantwortet. "Ich bin Deine Dienstvorgesetzte und habe dir eine Anweisung erteilt, die du nicht befolgt hast. Hast du mittlerweile wenigstens einen Impftermin vereinbart?"
"Das geht dich gar nichts an.", hatte Franziska gefaucht. "Das ist meine Privatangelegenheit und außerdem bist nicht du meine Dienstvorgesetzte sondern der Leitende Jugendreferent des Kirchenkreises. Du hast mir gar nichts zu sagen."
Charlotte hatte es die Sprache verschlagen. Wie konnte diese Pädagogin so frech werden? Schließlich war sie als Pfarrerin für alles verantwortlich, was sich in ihrer Gemeinde abspielte. Auch wenn die Jugendreferentin, die eine ganze Region versorgte, ihr nicht direkt unterstand, so musste sie sich doch an Vorgaben der Gemeindeleitung halten. Gegenüber einem Mann hätte sie sich eine derartige Aufsässigkeit sicher nicht herausgenommen. Charlotte hatte tief durchgeatmet und dann gesagt: "Ich kläre das mit deinem Vorgesetzten. Bis dahin betrittst du bis auf Weiteres nicht mehr das Kirchengrundstück dieser Gemeinde."
Franziska hatte den Kopf schiefgelegt und leise drohend erwidert: "So ist es mit euch wissenschaftlich ausgerichteten Großstadt-Theologen. Euch fehlt einfach das gesunde Gottvertrauen."
Dann war sie deutlich zu nah an Charlotte herangetreten und hatte sie demonstrativ angehustet. Da war der Damm gebrochen und Charlotte hatte nach dem ersten Besten gegriffen, das ihr in die Hände gekommen war und hatte besinnungslos auf sie eingedroschen, bis sie sich nicht mehr gerührt hatte. Es war ein Waldhorn, ein schadhaftes Instrument, das zu Dekorationszwecken im Kinder- und Jugendraum herumstand. Jetzt war es verbeult und blutverschmiert. Wie hatte sie sich nur so vergessen können?

Dabei hatte alles so vielversprechend angefangen, damals, vor einem halben Jahr...
"Endlich angekommen", dachte Charlotte, als sie zum ersten Mal in ihrem neuen Zuhause von den Sonnenstrahlen wachgeküsst wurde. Hendrik war schon auf dem Weg zur Frühschicht und sie war heilfroh, dass sie, die sie eine unverbesserliche Nachteule war, nicht in einem Beruf im Gesundheitswesen sondern in Verkündigung und Seelsorge gelandet war. Das Arbeiten in den Abendstunden hatte ihr noch nie etwas ausgemacht und berufliche Besprechungen hatten allerfrühestens um 09.00 Uhr stattgefunden, meistens sogar erst um 10.00 Uhr.

Trotzdem hatte sie ihren Beruf in den letzten Jahren zunehmend gehasst. Profilierungsneurotische Kollegen, die ständig auf der Jagd nach dem neuesten Trend waren, eifrig bemüht im vorauseilenden Gehorsam die brandaktuellsten Bedürfnisse der Konsumgesellschaft zu befriedigen. Nein, das hätten sie niemals zugegeben, sie reagierten nur auf die neuesten Impulse, nahmen Anregungen auf, kamen den Bedürfnissen der Gemeindeglieder entgegen, holten sie ab...

Erschwerend war hinzu gekommen, dass in ihrer Gemeinde nahezu ausschließlich Männer am Werk gewesen waren: Ein weiterer Pfarrkollege, ein grantelnder Küster, ein selbstverliebter Jugendreferent, ein kleinkarierter Kirchmeister und ein Haufen männlicher Presbyter, die ihr "Ministerium" in einer Weise zu ihrem Lebensinhalt erklärt hatten, dass sie mit ihren überambitionierten Projekten ständig sämtliche Arbeitsabläufe durcheinandergebracht hatten. Lauter eitle Gockel, von denen jeder versuchte am lautesten zu krähen und sein Gefieder aufs effektivste im strahlenden Licht auszubreiten. Nur die Kirchenmusikerin war angenehm im Umgang, freundlich und zurückhaltend gewesen und die Verwaltungsfachkraft im Büro eine patente, aufgeweckte, humorvolle, junge Frau.
Hektik, Leistungs- und Erfolgsdruck, permanente Kritik und Abwertung, Optimierungswahn und Lifestyle-Theologie - das hatte sie einfach nicht mehr ausgehalten. Und die Zeiten, in denen sie das Leben in der Großstadt mit den vielfältigen kulturellen, gastronomischen und politischen Angeboten in vollen Zügen genießen konnte, waren längst Geschichte. Alles viel zu anstrengend.

Hier ging das Leben langsam und in Ruhe, unaufgeregt, solide, aufs Wesentliche konzentriert. Keine Paradiesvögel, kein sozialer Brennpunkt. Und das Beste: hier arbeiteten fast ausschließlich Frauen! Sie hatte die einzige Pfarrstelle in dieser Gemeinde, eine Teilzeitjugendreferentin, unterstützt von zwei jungen, erwachsenen Ehrenamtlichen, ein Quotenpresbyterium mit Kirchmeisterin, eine Kirchenmusikerin und eine Küsterin.

Die ersten Wochen waren herrlich. Alle waren freundlich, gemütlich, niemand übte Druck aus, niemand musste irgendetwas beweisen.

Doch dann bekam die Idylle erste Risse. Die Kirchenmusikerin rümpfte die Nase, als Charlotte ein paar frische, neue Gemeindelieder mitbrachte, die sie auf einer Fortbildung begeistert gelernt hatte. Sie weigerte sich, die Lieder zu spielen, zuerst hatte sie angeblich keine Zeit zum Üben, dann hatte sie die Noten verlegt und als Charlotte ihr neue Kopien gegeben hatte, hieß es, das sei eine ganz unmögliche Tonart, da würde sie sicher dauernd daneben greifen und nein, transponieren könne man das auch nicht, dann klinge das vollkommen anders und sei auch nicht vernünftig zu singen.

Als nächstes fiel ihr die spießige Arroganz der Verwaltungsfachkraft auf, die mit Betonfrisur und millimetergenauem Lidstrich wie ein Kerberos über das Gemeindebüro herrschte. Einmal hatte Charlotte ihr ein Formular hereingereicht, das sie am Frühstückstisch ausgefüllt hatte und auf das ein Tröpfchen Tee gekleckert war. Mit der gesamten Verachtung, die die gestrenge Sekretärin aufbringen konnte, hatte sie ihr den Zettel über den Schreibtisch geschleudert und spitz erklärt: "So etwas kommt mir nicht in die Unterlagen, so eine Schlamperei. Das füllen sie bitte auf einem sauberen Formular noch einmal aus, am besten gleich hier, damit nicht das nächste Malheur passiert."
Immer einsilbiger war die piefige Tante geworden, weil Charlotte nun einmal nicht so ein blitzsauberes, wohlorganisiertes, akkurates Frauchen war wie sie selbst vor zwei Dekaden.

Und dann diese ehrenamtlichen Hobbytheologinnen in der Jugendarbeit. Beide waren mit Puddingabitur direkt in die Ausbildung gegangen und hielten an den Ritualen ihrer Kindheit und Jugend fest, konservativer als jeder Seniorenclub. Innovative Methoden im Kindergottesdienst lehnten sie kategorisch ab. Abgespeckte Liturgie, Geschichte erzählen, in altershomogenen Gruppen zur Vertiefung Ausmalbilder colorieren, etwas basteln oder reden, gemeinsamer Abschluss, fertig. Neue Methoden überforderten sie, neue Mitarbeitende empfanden sie als Konkurrenz, die sie von ihrem angestammten Platz verdrängten.

Wenigstens die Küsterin war freundlich, auch sehr akkurat, aber viel wohlwollender und toleranter als die übrigen verängstigten Frusthennen. Sie hatte es versucht mit empathischem Entgegenkommen, aber sie hatten sie einfach auflaufen lassen.

Und jetzt war sie ausgerastet und ihre Zeit war um. Es sei denn?
Sie hörte Annalena und Lisa-Marie die Treppe hoch gehen. Ihre Hand griff nach dem Instrument. Es war noch nicht zu Ende.

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Freitag, 6. August 2021
Pechmarie
Die Bauarbeiten auf dem Turm kamen nicht ungelegen. Die Minipaletten mit den tönernen Dachziegeln waren nicht so schwer, sie ließen sich problemlos aus der brüstungsfreien Tür schubsen, mitten auf den malerischen Kirchplatz, der frisch gepflastert von hier oben besonders eindrucksvoll aussah, mit dem Labyrinth von Chartres, aus hellen Steinen auf grauem Grund. Der rote Ziegelstaub würde den weißen Marmor verfärben und damit die Harmonie stören, genauso wie das Blut der trächtigen Kuh, das sich gleich in Strömen über den Platz ergießen würde.
"Lea-Marie", sagte sie nun leise zu sich selbst. "Du kannst doch keine Schwangere töten. Wenn Christian das klar wird, hast du ihn für immer verloren."
Sie setzte sich auf den Boden und atmete hektisch ein und aus. Noch war nichts geschehen, noch hatte sie sich nichts vorzuwerfen. Sie könnte einfach wieder runtergehen und die Entscheidung über den Verlauf ihres weiteren Lebens dem Schicksal überlassen. Oder Gott. Oder den Feen. Oder dem Gesetz von Ursache und Wirkung.
"Aber jetzt bin ich dran.", flüsterte sie, und ihre Gedanken wanderten zu den ganz besonderen Momenten: die ersten Eindrücke von dem jungen, neuen Kollegen, der entwaffnende Humor, die definierten Muskeln unter dem T-Shirt, die leuchtenden, hellgrünen Augen, die markanten Linien in seinem verwegenen Gesicht, die respektvolle Aufmerksamkeit, mit der er allen begegnete, wie er roch, als sie sich zum ersten Mal umarmt hatten: frisch, natürlich und gesund. Wie überwältigt sie gewesen war, dass er ihr zu Weihnachten einen Handschmeichler aus Kirschholz geschenkt hatte, selbst geschliffen und geölt. Die gemeinsamen Schulungswochenenden, wo sie am Lagerfeuer halbe, sternenklare Nächte durchgequatscht hatten, über alles, was sie bewegte, und da war so viel Gemeinsames gewesen und auch jetzt noch so viel, das sie sich zu sagen hätten.
Er stand in Flammen, das war nicht zu übersehen, doch sie hatte sich zurückgehalten, immer wieder gebremst, war ihm ausgewichen, hatte ihn am Telefon kurz angebunden abgefertigt, seine Mails ignoriert oder erst eine Woche später beantwortet und ihm sämtliche Möglichkeiten, ihr Avancen zu machen, konsequent verbaut. Denn sie liebte auch Rainer. Immer noch, sogar nach zweiundzwanzig Jahren Ehe, nach achtundzwanzig Jahren als Paar. Sie war nicht mehr verliebt in ihn, schon lange nicht mehr, die Leidenschaft hatte sich aus ihrer Beziehung verabschiedet, war aber einer unverwechselbaren Vertrautheit gewichen, einem Gleichklang der Lebensrythmen, im Alltag genauso wie in den besonderen Momenten, in Krisen wie im Freudentaumel, in der Trauer wie im Abenteuer. Sie liebten die gleichen Urlaubsaktivitäten, im gleichen Tempo, in der gleichen Intensität. Die Kinder waren groß, aber oft zu Besuch oder versuchten sich als reife Gastgeber; auch das bedeutete ein festes Band. Sie waren ein Paar, Eltern, ein Team.
Und dann kam Marie. Goldmarie hatte Papa sie immer genannt, die große Schwester aus Papas erster Ehe, die eigentlich Marie-Christine hieß, aber weil bei ihrem Doppelnamen die Marie vorn stand, war das ihr Rufname, während von Lea-Marie nur noch Lea übrigblieb; nüchtern, kühl, unromantisch. Die ungeliebte, untergeschobene Ehefrau Jakobs. Die unattraktivere Schwester, die viele Söhne gebar, aber nicht die Bedeutenden.
Die biblische Lea war die Ältere gewesen, darin unterschieden sie sich und vielleicht im Grad der Blutsverwandtschaft. Vielleicht war die biblische Lea aber auch nur eine Halbschwester der begehrten Rahel, die Monogamie hatte sich damals noch nicht durchgesetzt. Hatte sie offensichtlich bis heute nicht. Oder doch?
Marie hatte den freundlichen Rainer systematisch eingewickelt. Zuerst war sie zufällig zu Besuch gekommen, als Lea wegen einer Jugendfreizeit verreist war. Sie hatte mit dem Strohwitwer Rainer Radtouren in die Umgebung unternommen und ihm ihr Herz ausgeschüttet über ihren depressiven Ehemann, den zu ertragen ihr täglich schwerer fiel. Das beteuerte Bedauern Marie-Christines über Leas Abwesenheit hatte sie ihr tatsächlich abgekauft, hatte arglos zur Kenntnis genommen, dass Rainer sich um sie kümmerte und an ihrem freien Nachmittag die kunstgewerblichen Töpfereien nach einem besonders schönen Teapot abgesucht, um ihrer vermeintlich gebeutelten Schwester eine wirksame Aufmunterung zukommen zu lassen. Marie liebte Tee und Handgetöpfertes, war aber in beiden Fällen äußerst anspruchsvoll mit einer ausgeprägten Neigung, alles gnadenlos abzuwerten, was nicht ihren persönlichen Vorstellungen entsprach. Sie war Lea von Anfang an in allem überlegen gewesen, ganz besonders in der Stilsicherheit und sie legte bis heute größten Wert darauf, nicht nur unübertroffen, sondern unerreichbar zu bleiben.
Von allem nahm Marie-Christine sich zuerst und immer das Beste: bei den Weihnachtsplätzchen, den Schaukeln auf dem Spielplatz, den Freundinnen und dem eigenen Zimmer in der neuen Wohnung. Sie machte den besseren Schulabschluss, studierte erfolgreich Diplompädagogik an der Uni, während es bei Lea nur für die Fachhochschule gereicht hatte. Und während die Ältere interessante Projekte in Kooperation mit der Düsseldorfer Kunstakademie auf den Weg brachte und dafür regelmäßig in allen Medien gefeiert wurde, verausgabte Lea sich für die Evangelische Jugend, arbeitete härter für weniger Geld und noch weniger Anerkennung und alterte vor der Zeit. Jetzt sah die Ältere sogar jünger aus als sie, war sportlicher, fitter, strahlender, attraktiver.
Ob sie wohl einen Weg finden würde, sich Christian reinzuziehen, wenn sie mit Rainer fertig war?
Die trächtige Kuh trat aus der Kirche. "Jetzt.", dachte Lea-Marie. "Sonst ist es zu spät."

Und die Welt hielt den Atem an.

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