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Freitag, 13. August 2021
Siehe, ich mache alles neu!
c. fabry, 14:39h
Da lag sie nun. Die erste von sechs bissigen Stuten, die ihr seit einem halben Jahr das Leben zur Hölle machten. Heute hatte Franziska es auf die Spitze getrieben. Ihre Dienstanweisung die Teilnehmenden ihrer Kindergruppe vor Programmbeginn auf Corona zu testen, hatte sie schlicht ignoriert. "Das ist nicht nötig.", hatte sie überlegen geantwortet, "Alles völliger Quatsch. Hier bei uns hat das keiner, wir leben hier auf dem Dorf. Ich kenne jedenfalls noch keinen einzigen Menschen, der es schon hatte und die Kinder auch nicht."
"Deine persönliche Einschätzung ist in diesem Fall irrelevant.", hatte Charlotte verärgert geantwortet. "Ich bin Deine Dienstvorgesetzte und habe dir eine Anweisung erteilt, die du nicht befolgt hast. Hast du mittlerweile wenigstens einen Impftermin vereinbart?"
"Das geht dich gar nichts an.", hatte Franziska gefaucht. "Das ist meine Privatangelegenheit und außerdem bist nicht du meine Dienstvorgesetzte sondern der Leitende Jugendreferent des Kirchenkreises. Du hast mir gar nichts zu sagen."
Charlotte hatte es die Sprache verschlagen. Wie konnte diese Pädagogin so frech werden? Schließlich war sie als Pfarrerin für alles verantwortlich, was sich in ihrer Gemeinde abspielte. Auch wenn die Jugendreferentin, die eine ganze Region versorgte, ihr nicht direkt unterstand, so musste sie sich doch an Vorgaben der Gemeindeleitung halten. Gegenüber einem Mann hätte sie sich eine derartige Aufsässigkeit sicher nicht herausgenommen. Charlotte hatte tief durchgeatmet und dann gesagt: "Ich kläre das mit deinem Vorgesetzten. Bis dahin betrittst du bis auf Weiteres nicht mehr das Kirchengrundstück dieser Gemeinde."
Franziska hatte den Kopf schiefgelegt und leise drohend erwidert: "So ist es mit euch wissenschaftlich ausgerichteten Großstadt-Theologen. Euch fehlt einfach das gesunde Gottvertrauen."
Dann war sie deutlich zu nah an Charlotte herangetreten und hatte sie demonstrativ angehustet. Da war der Damm gebrochen und Charlotte hatte nach dem ersten Besten gegriffen, das ihr in die Hände gekommen war und hatte besinnungslos auf sie eingedroschen, bis sie sich nicht mehr gerührt hatte. Es war ein Waldhorn, ein schadhaftes Instrument, das zu Dekorationszwecken im Kinder- und Jugendraum herumstand. Jetzt war es verbeult und blutverschmiert. Wie hatte sie sich nur so vergessen können?
Dabei hatte alles so vielversprechend angefangen, damals, vor einem halben Jahr...
"Endlich angekommen", dachte Charlotte, als sie zum ersten Mal in ihrem neuen Zuhause von den Sonnenstrahlen wachgeküsst wurde. Hendrik war schon auf dem Weg zur Frühschicht und sie war heilfroh, dass sie, die sie eine unverbesserliche Nachteule war, nicht in einem Beruf im Gesundheitswesen sondern in Verkündigung und Seelsorge gelandet war. Das Arbeiten in den Abendstunden hatte ihr noch nie etwas ausgemacht und berufliche Besprechungen hatten allerfrühestens um 09.00 Uhr stattgefunden, meistens sogar erst um 10.00 Uhr.
Trotzdem hatte sie ihren Beruf in den letzten Jahren zunehmend gehasst. Profilierungsneurotische Kollegen, die ständig auf der Jagd nach dem neuesten Trend waren, eifrig bemüht im vorauseilenden Gehorsam die brandaktuellsten Bedürfnisse der Konsumgesellschaft zu befriedigen. Nein, das hätten sie niemals zugegeben, sie reagierten nur auf die neuesten Impulse, nahmen Anregungen auf, kamen den Bedürfnissen der Gemeindeglieder entgegen, holten sie ab...
Erschwerend war hinzu gekommen, dass in ihrer Gemeinde nahezu ausschließlich Männer am Werk gewesen waren: Ein weiterer Pfarrkollege, ein grantelnder Küster, ein selbstverliebter Jugendreferent, ein kleinkarierter Kirchmeister und ein Haufen männlicher Presbyter, die ihr "Ministerium" in einer Weise zu ihrem Lebensinhalt erklärt hatten, dass sie mit ihren überambitionierten Projekten ständig sämtliche Arbeitsabläufe durcheinandergebracht hatten. Lauter eitle Gockel, von denen jeder versuchte am lautesten zu krähen und sein Gefieder aufs effektivste im strahlenden Licht auszubreiten. Nur die Kirchenmusikerin war angenehm im Umgang, freundlich und zurückhaltend gewesen und die Verwaltungsfachkraft im Büro eine patente, aufgeweckte, humorvolle, junge Frau.
Hektik, Leistungs- und Erfolgsdruck, permanente Kritik und Abwertung, Optimierungswahn und Lifestyle-Theologie - das hatte sie einfach nicht mehr ausgehalten. Und die Zeiten, in denen sie das Leben in der Großstadt mit den vielfältigen kulturellen, gastronomischen und politischen Angeboten in vollen Zügen genießen konnte, waren längst Geschichte. Alles viel zu anstrengend.
Hier ging das Leben langsam und in Ruhe, unaufgeregt, solide, aufs Wesentliche konzentriert. Keine Paradiesvögel, kein sozialer Brennpunkt. Und das Beste: hier arbeiteten fast ausschließlich Frauen! Sie hatte die einzige Pfarrstelle in dieser Gemeinde, eine Teilzeitjugendreferentin, unterstützt von zwei jungen, erwachsenen Ehrenamtlichen, ein Quotenpresbyterium mit Kirchmeisterin, eine Kirchenmusikerin und eine Küsterin.
Die ersten Wochen waren herrlich. Alle waren freundlich, gemütlich, niemand übte Druck aus, niemand musste irgendetwas beweisen.
Doch dann bekam die Idylle erste Risse. Die Kirchenmusikerin rümpfte die Nase, als Charlotte ein paar frische, neue Gemeindelieder mitbrachte, die sie auf einer Fortbildung begeistert gelernt hatte. Sie weigerte sich, die Lieder zu spielen, zuerst hatte sie angeblich keine Zeit zum Üben, dann hatte sie die Noten verlegt und als Charlotte ihr neue Kopien gegeben hatte, hieß es, das sei eine ganz unmögliche Tonart, da würde sie sicher dauernd daneben greifen und nein, transponieren könne man das auch nicht, dann klinge das vollkommen anders und sei auch nicht vernünftig zu singen.
Als nächstes fiel ihr die spießige Arroganz der Verwaltungsfachkraft auf, die mit Betonfrisur und millimetergenauem Lidstrich wie ein Kerberos über das Gemeindebüro herrschte. Einmal hatte Charlotte ihr ein Formular hereingereicht, das sie am Frühstückstisch ausgefüllt hatte und auf das ein Tröpfchen Tee gekleckert war. Mit der gesamten Verachtung, die die gestrenge Sekretärin aufbringen konnte, hatte sie ihr den Zettel über den Schreibtisch geschleudert und spitz erklärt: "So etwas kommt mir nicht in die Unterlagen, so eine Schlamperei. Das füllen sie bitte auf einem sauberen Formular noch einmal aus, am besten gleich hier, damit nicht das nächste Malheur passiert."
Immer einsilbiger war die piefige Tante geworden, weil Charlotte nun einmal nicht so ein blitzsauberes, wohlorganisiertes, akkurates Frauchen war wie sie selbst vor zwei Dekaden.
Und dann diese ehrenamtlichen Hobbytheologinnen in der Jugendarbeit. Beide waren mit Puddingabitur direkt in die Ausbildung gegangen und hielten an den Ritualen ihrer Kindheit und Jugend fest, konservativer als jeder Seniorenclub. Innovative Methoden im Kindergottesdienst lehnten sie kategorisch ab. Abgespeckte Liturgie, Geschichte erzählen, in altershomogenen Gruppen zur Vertiefung Ausmalbilder colorieren, etwas basteln oder reden, gemeinsamer Abschluss, fertig. Neue Methoden überforderten sie, neue Mitarbeitende empfanden sie als Konkurrenz, die sie von ihrem angestammten Platz verdrängten.
Wenigstens die Küsterin war freundlich, auch sehr akkurat, aber viel wohlwollender und toleranter als die übrigen verängstigten Frusthennen. Sie hatte es versucht mit empathischem Entgegenkommen, aber sie hatten sie einfach auflaufen lassen.
Und jetzt war sie ausgerastet und ihre Zeit war um. Es sei denn?
Sie hörte Annalena und Lisa-Marie die Treppe hoch gehen. Ihre Hand griff nach dem Instrument. Es war noch nicht zu Ende.
"Deine persönliche Einschätzung ist in diesem Fall irrelevant.", hatte Charlotte verärgert geantwortet. "Ich bin Deine Dienstvorgesetzte und habe dir eine Anweisung erteilt, die du nicht befolgt hast. Hast du mittlerweile wenigstens einen Impftermin vereinbart?"
"Das geht dich gar nichts an.", hatte Franziska gefaucht. "Das ist meine Privatangelegenheit und außerdem bist nicht du meine Dienstvorgesetzte sondern der Leitende Jugendreferent des Kirchenkreises. Du hast mir gar nichts zu sagen."
Charlotte hatte es die Sprache verschlagen. Wie konnte diese Pädagogin so frech werden? Schließlich war sie als Pfarrerin für alles verantwortlich, was sich in ihrer Gemeinde abspielte. Auch wenn die Jugendreferentin, die eine ganze Region versorgte, ihr nicht direkt unterstand, so musste sie sich doch an Vorgaben der Gemeindeleitung halten. Gegenüber einem Mann hätte sie sich eine derartige Aufsässigkeit sicher nicht herausgenommen. Charlotte hatte tief durchgeatmet und dann gesagt: "Ich kläre das mit deinem Vorgesetzten. Bis dahin betrittst du bis auf Weiteres nicht mehr das Kirchengrundstück dieser Gemeinde."
Franziska hatte den Kopf schiefgelegt und leise drohend erwidert: "So ist es mit euch wissenschaftlich ausgerichteten Großstadt-Theologen. Euch fehlt einfach das gesunde Gottvertrauen."
Dann war sie deutlich zu nah an Charlotte herangetreten und hatte sie demonstrativ angehustet. Da war der Damm gebrochen und Charlotte hatte nach dem ersten Besten gegriffen, das ihr in die Hände gekommen war und hatte besinnungslos auf sie eingedroschen, bis sie sich nicht mehr gerührt hatte. Es war ein Waldhorn, ein schadhaftes Instrument, das zu Dekorationszwecken im Kinder- und Jugendraum herumstand. Jetzt war es verbeult und blutverschmiert. Wie hatte sie sich nur so vergessen können?
Dabei hatte alles so vielversprechend angefangen, damals, vor einem halben Jahr...
"Endlich angekommen", dachte Charlotte, als sie zum ersten Mal in ihrem neuen Zuhause von den Sonnenstrahlen wachgeküsst wurde. Hendrik war schon auf dem Weg zur Frühschicht und sie war heilfroh, dass sie, die sie eine unverbesserliche Nachteule war, nicht in einem Beruf im Gesundheitswesen sondern in Verkündigung und Seelsorge gelandet war. Das Arbeiten in den Abendstunden hatte ihr noch nie etwas ausgemacht und berufliche Besprechungen hatten allerfrühestens um 09.00 Uhr stattgefunden, meistens sogar erst um 10.00 Uhr.
Trotzdem hatte sie ihren Beruf in den letzten Jahren zunehmend gehasst. Profilierungsneurotische Kollegen, die ständig auf der Jagd nach dem neuesten Trend waren, eifrig bemüht im vorauseilenden Gehorsam die brandaktuellsten Bedürfnisse der Konsumgesellschaft zu befriedigen. Nein, das hätten sie niemals zugegeben, sie reagierten nur auf die neuesten Impulse, nahmen Anregungen auf, kamen den Bedürfnissen der Gemeindeglieder entgegen, holten sie ab...
Erschwerend war hinzu gekommen, dass in ihrer Gemeinde nahezu ausschließlich Männer am Werk gewesen waren: Ein weiterer Pfarrkollege, ein grantelnder Küster, ein selbstverliebter Jugendreferent, ein kleinkarierter Kirchmeister und ein Haufen männlicher Presbyter, die ihr "Ministerium" in einer Weise zu ihrem Lebensinhalt erklärt hatten, dass sie mit ihren überambitionierten Projekten ständig sämtliche Arbeitsabläufe durcheinandergebracht hatten. Lauter eitle Gockel, von denen jeder versuchte am lautesten zu krähen und sein Gefieder aufs effektivste im strahlenden Licht auszubreiten. Nur die Kirchenmusikerin war angenehm im Umgang, freundlich und zurückhaltend gewesen und die Verwaltungsfachkraft im Büro eine patente, aufgeweckte, humorvolle, junge Frau.
Hektik, Leistungs- und Erfolgsdruck, permanente Kritik und Abwertung, Optimierungswahn und Lifestyle-Theologie - das hatte sie einfach nicht mehr ausgehalten. Und die Zeiten, in denen sie das Leben in der Großstadt mit den vielfältigen kulturellen, gastronomischen und politischen Angeboten in vollen Zügen genießen konnte, waren längst Geschichte. Alles viel zu anstrengend.
Hier ging das Leben langsam und in Ruhe, unaufgeregt, solide, aufs Wesentliche konzentriert. Keine Paradiesvögel, kein sozialer Brennpunkt. Und das Beste: hier arbeiteten fast ausschließlich Frauen! Sie hatte die einzige Pfarrstelle in dieser Gemeinde, eine Teilzeitjugendreferentin, unterstützt von zwei jungen, erwachsenen Ehrenamtlichen, ein Quotenpresbyterium mit Kirchmeisterin, eine Kirchenmusikerin und eine Küsterin.
Die ersten Wochen waren herrlich. Alle waren freundlich, gemütlich, niemand übte Druck aus, niemand musste irgendetwas beweisen.
Doch dann bekam die Idylle erste Risse. Die Kirchenmusikerin rümpfte die Nase, als Charlotte ein paar frische, neue Gemeindelieder mitbrachte, die sie auf einer Fortbildung begeistert gelernt hatte. Sie weigerte sich, die Lieder zu spielen, zuerst hatte sie angeblich keine Zeit zum Üben, dann hatte sie die Noten verlegt und als Charlotte ihr neue Kopien gegeben hatte, hieß es, das sei eine ganz unmögliche Tonart, da würde sie sicher dauernd daneben greifen und nein, transponieren könne man das auch nicht, dann klinge das vollkommen anders und sei auch nicht vernünftig zu singen.
Als nächstes fiel ihr die spießige Arroganz der Verwaltungsfachkraft auf, die mit Betonfrisur und millimetergenauem Lidstrich wie ein Kerberos über das Gemeindebüro herrschte. Einmal hatte Charlotte ihr ein Formular hereingereicht, das sie am Frühstückstisch ausgefüllt hatte und auf das ein Tröpfchen Tee gekleckert war. Mit der gesamten Verachtung, die die gestrenge Sekretärin aufbringen konnte, hatte sie ihr den Zettel über den Schreibtisch geschleudert und spitz erklärt: "So etwas kommt mir nicht in die Unterlagen, so eine Schlamperei. Das füllen sie bitte auf einem sauberen Formular noch einmal aus, am besten gleich hier, damit nicht das nächste Malheur passiert."
Immer einsilbiger war die piefige Tante geworden, weil Charlotte nun einmal nicht so ein blitzsauberes, wohlorganisiertes, akkurates Frauchen war wie sie selbst vor zwei Dekaden.
Und dann diese ehrenamtlichen Hobbytheologinnen in der Jugendarbeit. Beide waren mit Puddingabitur direkt in die Ausbildung gegangen und hielten an den Ritualen ihrer Kindheit und Jugend fest, konservativer als jeder Seniorenclub. Innovative Methoden im Kindergottesdienst lehnten sie kategorisch ab. Abgespeckte Liturgie, Geschichte erzählen, in altershomogenen Gruppen zur Vertiefung Ausmalbilder colorieren, etwas basteln oder reden, gemeinsamer Abschluss, fertig. Neue Methoden überforderten sie, neue Mitarbeitende empfanden sie als Konkurrenz, die sie von ihrem angestammten Platz verdrängten.
Wenigstens die Küsterin war freundlich, auch sehr akkurat, aber viel wohlwollender und toleranter als die übrigen verängstigten Frusthennen. Sie hatte es versucht mit empathischem Entgegenkommen, aber sie hatten sie einfach auflaufen lassen.
Und jetzt war sie ausgerastet und ihre Zeit war um. Es sei denn?
Sie hörte Annalena und Lisa-Marie die Treppe hoch gehen. Ihre Hand griff nach dem Instrument. Es war noch nicht zu Ende.
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Freitag, 6. August 2021
Pechmarie
c. fabry, 11:44h
Die Bauarbeiten auf dem Turm kamen nicht ungelegen. Die Minipaletten mit den tönernen Dachziegeln waren nicht so schwer, sie ließen sich problemlos aus der brüstungsfreien Tür schubsen, mitten auf den malerischen Kirchplatz, der frisch gepflastert von hier oben besonders eindrucksvoll aussah, mit dem Labyrinth von Chartres, aus hellen Steinen auf grauem Grund. Der rote Ziegelstaub würde den weißen Marmor verfärben und damit die Harmonie stören, genauso wie das Blut der trächtigen Kuh, das sich gleich in Strömen über den Platz ergießen würde.
"Lea-Marie", sagte sie nun leise zu sich selbst. "Du kannst doch keine Schwangere töten. Wenn Christian das klar wird, hast du ihn für immer verloren."
Sie setzte sich auf den Boden und atmete hektisch ein und aus. Noch war nichts geschehen, noch hatte sie sich nichts vorzuwerfen. Sie könnte einfach wieder runtergehen und die Entscheidung über den Verlauf ihres weiteren Lebens dem Schicksal überlassen. Oder Gott. Oder den Feen. Oder dem Gesetz von Ursache und Wirkung.
"Aber jetzt bin ich dran.", flüsterte sie, und ihre Gedanken wanderten zu den ganz besonderen Momenten: die ersten Eindrücke von dem jungen, neuen Kollegen, der entwaffnende Humor, die definierten Muskeln unter dem T-Shirt, die leuchtenden, hellgrünen Augen, die markanten Linien in seinem verwegenen Gesicht, die respektvolle Aufmerksamkeit, mit der er allen begegnete, wie er roch, als sie sich zum ersten Mal umarmt hatten: frisch, natürlich und gesund. Wie überwältigt sie gewesen war, dass er ihr zu Weihnachten einen Handschmeichler aus Kirschholz geschenkt hatte, selbst geschliffen und geölt. Die gemeinsamen Schulungswochenenden, wo sie am Lagerfeuer halbe, sternenklare Nächte durchgequatscht hatten, über alles, was sie bewegte, und da war so viel Gemeinsames gewesen und auch jetzt noch so viel, das sie sich zu sagen hätten.
Er stand in Flammen, das war nicht zu übersehen, doch sie hatte sich zurückgehalten, immer wieder gebremst, war ihm ausgewichen, hatte ihn am Telefon kurz angebunden abgefertigt, seine Mails ignoriert oder erst eine Woche später beantwortet und ihm sämtliche Möglichkeiten, ihr Avancen zu machen, konsequent verbaut. Denn sie liebte auch Rainer. Immer noch, sogar nach zweiundzwanzig Jahren Ehe, nach achtundzwanzig Jahren als Paar. Sie war nicht mehr verliebt in ihn, schon lange nicht mehr, die Leidenschaft hatte sich aus ihrer Beziehung verabschiedet, war aber einer unverwechselbaren Vertrautheit gewichen, einem Gleichklang der Lebensrythmen, im Alltag genauso wie in den besonderen Momenten, in Krisen wie im Freudentaumel, in der Trauer wie im Abenteuer. Sie liebten die gleichen Urlaubsaktivitäten, im gleichen Tempo, in der gleichen Intensität. Die Kinder waren groß, aber oft zu Besuch oder versuchten sich als reife Gastgeber; auch das bedeutete ein festes Band. Sie waren ein Paar, Eltern, ein Team.
Und dann kam Marie. Goldmarie hatte Papa sie immer genannt, die große Schwester aus Papas erster Ehe, die eigentlich Marie-Christine hieß, aber weil bei ihrem Doppelnamen die Marie vorn stand, war das ihr Rufname, während von Lea-Marie nur noch Lea übrigblieb; nüchtern, kühl, unromantisch. Die ungeliebte, untergeschobene Ehefrau Jakobs. Die unattraktivere Schwester, die viele Söhne gebar, aber nicht die Bedeutenden.
Die biblische Lea war die Ältere gewesen, darin unterschieden sie sich und vielleicht im Grad der Blutsverwandtschaft. Vielleicht war die biblische Lea aber auch nur eine Halbschwester der begehrten Rahel, die Monogamie hatte sich damals noch nicht durchgesetzt. Hatte sie offensichtlich bis heute nicht. Oder doch?
Marie hatte den freundlichen Rainer systematisch eingewickelt. Zuerst war sie zufällig zu Besuch gekommen, als Lea wegen einer Jugendfreizeit verreist war. Sie hatte mit dem Strohwitwer Rainer Radtouren in die Umgebung unternommen und ihm ihr Herz ausgeschüttet über ihren depressiven Ehemann, den zu ertragen ihr täglich schwerer fiel. Das beteuerte Bedauern Marie-Christines über Leas Abwesenheit hatte sie ihr tatsächlich abgekauft, hatte arglos zur Kenntnis genommen, dass Rainer sich um sie kümmerte und an ihrem freien Nachmittag die kunstgewerblichen Töpfereien nach einem besonders schönen Teapot abgesucht, um ihrer vermeintlich gebeutelten Schwester eine wirksame Aufmunterung zukommen zu lassen. Marie liebte Tee und Handgetöpfertes, war aber in beiden Fällen äußerst anspruchsvoll mit einer ausgeprägten Neigung, alles gnadenlos abzuwerten, was nicht ihren persönlichen Vorstellungen entsprach. Sie war Lea von Anfang an in allem überlegen gewesen, ganz besonders in der Stilsicherheit und sie legte bis heute größten Wert darauf, nicht nur unübertroffen, sondern unerreichbar zu bleiben.
Von allem nahm Marie-Christine sich zuerst und immer das Beste: bei den Weihnachtsplätzchen, den Schaukeln auf dem Spielplatz, den Freundinnen und dem eigenen Zimmer in der neuen Wohnung. Sie machte den besseren Schulabschluss, studierte erfolgreich Diplompädagogik an der Uni, während es bei Lea nur für die Fachhochschule gereicht hatte. Und während die Ältere interessante Projekte in Kooperation mit der Düsseldorfer Kunstakademie auf den Weg brachte und dafür regelmäßig in allen Medien gefeiert wurde, verausgabte Lea sich für die Evangelische Jugend, arbeitete härter für weniger Geld und noch weniger Anerkennung und alterte vor der Zeit. Jetzt sah die Ältere sogar jünger aus als sie, war sportlicher, fitter, strahlender, attraktiver.
Ob sie wohl einen Weg finden würde, sich Christian reinzuziehen, wenn sie mit Rainer fertig war?
Die trächtige Kuh trat aus der Kirche. "Jetzt.", dachte Lea-Marie. "Sonst ist es zu spät."
Und die Welt hielt den Atem an.
"Lea-Marie", sagte sie nun leise zu sich selbst. "Du kannst doch keine Schwangere töten. Wenn Christian das klar wird, hast du ihn für immer verloren."
Sie setzte sich auf den Boden und atmete hektisch ein und aus. Noch war nichts geschehen, noch hatte sie sich nichts vorzuwerfen. Sie könnte einfach wieder runtergehen und die Entscheidung über den Verlauf ihres weiteren Lebens dem Schicksal überlassen. Oder Gott. Oder den Feen. Oder dem Gesetz von Ursache und Wirkung.
"Aber jetzt bin ich dran.", flüsterte sie, und ihre Gedanken wanderten zu den ganz besonderen Momenten: die ersten Eindrücke von dem jungen, neuen Kollegen, der entwaffnende Humor, die definierten Muskeln unter dem T-Shirt, die leuchtenden, hellgrünen Augen, die markanten Linien in seinem verwegenen Gesicht, die respektvolle Aufmerksamkeit, mit der er allen begegnete, wie er roch, als sie sich zum ersten Mal umarmt hatten: frisch, natürlich und gesund. Wie überwältigt sie gewesen war, dass er ihr zu Weihnachten einen Handschmeichler aus Kirschholz geschenkt hatte, selbst geschliffen und geölt. Die gemeinsamen Schulungswochenenden, wo sie am Lagerfeuer halbe, sternenklare Nächte durchgequatscht hatten, über alles, was sie bewegte, und da war so viel Gemeinsames gewesen und auch jetzt noch so viel, das sie sich zu sagen hätten.
Er stand in Flammen, das war nicht zu übersehen, doch sie hatte sich zurückgehalten, immer wieder gebremst, war ihm ausgewichen, hatte ihn am Telefon kurz angebunden abgefertigt, seine Mails ignoriert oder erst eine Woche später beantwortet und ihm sämtliche Möglichkeiten, ihr Avancen zu machen, konsequent verbaut. Denn sie liebte auch Rainer. Immer noch, sogar nach zweiundzwanzig Jahren Ehe, nach achtundzwanzig Jahren als Paar. Sie war nicht mehr verliebt in ihn, schon lange nicht mehr, die Leidenschaft hatte sich aus ihrer Beziehung verabschiedet, war aber einer unverwechselbaren Vertrautheit gewichen, einem Gleichklang der Lebensrythmen, im Alltag genauso wie in den besonderen Momenten, in Krisen wie im Freudentaumel, in der Trauer wie im Abenteuer. Sie liebten die gleichen Urlaubsaktivitäten, im gleichen Tempo, in der gleichen Intensität. Die Kinder waren groß, aber oft zu Besuch oder versuchten sich als reife Gastgeber; auch das bedeutete ein festes Band. Sie waren ein Paar, Eltern, ein Team.
Und dann kam Marie. Goldmarie hatte Papa sie immer genannt, die große Schwester aus Papas erster Ehe, die eigentlich Marie-Christine hieß, aber weil bei ihrem Doppelnamen die Marie vorn stand, war das ihr Rufname, während von Lea-Marie nur noch Lea übrigblieb; nüchtern, kühl, unromantisch. Die ungeliebte, untergeschobene Ehefrau Jakobs. Die unattraktivere Schwester, die viele Söhne gebar, aber nicht die Bedeutenden.
Die biblische Lea war die Ältere gewesen, darin unterschieden sie sich und vielleicht im Grad der Blutsverwandtschaft. Vielleicht war die biblische Lea aber auch nur eine Halbschwester der begehrten Rahel, die Monogamie hatte sich damals noch nicht durchgesetzt. Hatte sie offensichtlich bis heute nicht. Oder doch?
Marie hatte den freundlichen Rainer systematisch eingewickelt. Zuerst war sie zufällig zu Besuch gekommen, als Lea wegen einer Jugendfreizeit verreist war. Sie hatte mit dem Strohwitwer Rainer Radtouren in die Umgebung unternommen und ihm ihr Herz ausgeschüttet über ihren depressiven Ehemann, den zu ertragen ihr täglich schwerer fiel. Das beteuerte Bedauern Marie-Christines über Leas Abwesenheit hatte sie ihr tatsächlich abgekauft, hatte arglos zur Kenntnis genommen, dass Rainer sich um sie kümmerte und an ihrem freien Nachmittag die kunstgewerblichen Töpfereien nach einem besonders schönen Teapot abgesucht, um ihrer vermeintlich gebeutelten Schwester eine wirksame Aufmunterung zukommen zu lassen. Marie liebte Tee und Handgetöpfertes, war aber in beiden Fällen äußerst anspruchsvoll mit einer ausgeprägten Neigung, alles gnadenlos abzuwerten, was nicht ihren persönlichen Vorstellungen entsprach. Sie war Lea von Anfang an in allem überlegen gewesen, ganz besonders in der Stilsicherheit und sie legte bis heute größten Wert darauf, nicht nur unübertroffen, sondern unerreichbar zu bleiben.
Von allem nahm Marie-Christine sich zuerst und immer das Beste: bei den Weihnachtsplätzchen, den Schaukeln auf dem Spielplatz, den Freundinnen und dem eigenen Zimmer in der neuen Wohnung. Sie machte den besseren Schulabschluss, studierte erfolgreich Diplompädagogik an der Uni, während es bei Lea nur für die Fachhochschule gereicht hatte. Und während die Ältere interessante Projekte in Kooperation mit der Düsseldorfer Kunstakademie auf den Weg brachte und dafür regelmäßig in allen Medien gefeiert wurde, verausgabte Lea sich für die Evangelische Jugend, arbeitete härter für weniger Geld und noch weniger Anerkennung und alterte vor der Zeit. Jetzt sah die Ältere sogar jünger aus als sie, war sportlicher, fitter, strahlender, attraktiver.
Ob sie wohl einen Weg finden würde, sich Christian reinzuziehen, wenn sie mit Rainer fertig war?
Die trächtige Kuh trat aus der Kirche. "Jetzt.", dachte Lea-Marie. "Sonst ist es zu spät."
Und die Welt hielt den Atem an.
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Freitag, 30. Juli 2021
Einkaufsbummel
c. fabry, 14:27h
Trotz steigender Inzidenz ist die Stadt voller Leute, als wäre alles wieder normal. Die Sonne scheint, ein Lüftchen weht und vor der Altstädter Kirche liegt ein Obdachloser. War wohl die ganze kühle Nacht lang wach und entspannt jetzt seine geschundenen Muskeln in der wärmenden Sonne. Menschen strömen in die offene Kirche und wieder hinaus. So auch ich. Eine Kerze für meinen Sohn, den Prokrastinations-Studenten. War es meine Schuld? Aber Eltern sind auch nicht immer für alles verantwortlich. Wir haben uns immer gekümmert, gefördert, gefordert und Fünfe gerade sein lassen. Wenn irgendwo die Dosis nicht gestimmt hat, muss er das mit seinem Therapeuten ausmachen. Aber ich sorge mich.
Dann trete ich wieder in die gleißende Sonne. Der Obdachlose liegt immer noch genauso da, wie eine Skulptur und die Sonne grillt erbarmungslos sein Gehirn. Ich habe noch einen alten Knirps in der Tasche, ich könnte mir gleich einen neuen kaufen, die Farbe hat mir sowieso nie gefallen; pink stinks.
Ich baue den Schattenspender über seinem Kopf auf. Ich betrachte ihn, wie er so vollkommen reglos daliegt. Nicht einmal Atembewegungen nehme ich wahr. Ich halte meine Hand vor seine Nase. Nicht der leiseste Hauch.
Ich fasse ihn an die Schulter. Trotz der Sonne fühlt er sich kühl an. Und hart. Und dann sehe ich den Fleck: rotbraun direkt neben seinem erstarrten Körper. Ich rufe sofort die Polizei, dauert auch nur wenige Minuten und zwei Streifenbeamte sichern den Fundort. Ob es auch der Tatort ist, wird sich zeigen. Er muss schon etliche Stunden so daliegen. Vor der Kirche. Zwischen all den frommen Menschen. Und auch zwischen den Unfrommen. Keiner besser als die Andere. Ich auch nicht. Hätte die Sonne nicht so geknallt oder hätte ich den alten Knirps nicht dabei gehabt, wäre ich wohl auch schulterzuckend von dannen gezogen.
Ich muss mich bereithalten für die Befragung durch die leitenden Ermittler*innen. Eigentlich wollte ich ja ein neues Kleid kaufen, Geschenke für diverse Geburtstage, einen riesigen Cappuccino in meinem Lieblingscafé trinken, Überweisungen tätigen, Kosmetikbestände auffüllen, Lotto spielen. Kann ich für heute keinen Haken dran machen. Wäre ich einfach weitergegangen wie alle anderen, stände ich jetzt schon in der Umkleide oder säße beim Cappuccio. Welch unwürdige Gedanken sich doch gelegentlich in mein räudiges Gehirn schleichen.
"Armer Teufel", grunzt der grantelnde leitende Beamte im fortgeschrittenen Alter, der desillusioniert seiner Pensionierung entgegenwartet. Der wird sich nicht krummlegen, um den Mörder des Opfers zu ermitteln. Wäre womöglich auch mit allergrößtem Engagement nicht von Erfolg gekrönt. Das hat vermutlich jemand im Affekt getan, aus einer Laune heraus. Messer haben viele in der Tasche. Wieder einer weg, dem keiner nachweint. Traurig.
Und dann denke ich an meinen Sohn. Und fürchte mich.
Dann trete ich wieder in die gleißende Sonne. Der Obdachlose liegt immer noch genauso da, wie eine Skulptur und die Sonne grillt erbarmungslos sein Gehirn. Ich habe noch einen alten Knirps in der Tasche, ich könnte mir gleich einen neuen kaufen, die Farbe hat mir sowieso nie gefallen; pink stinks.
Ich baue den Schattenspender über seinem Kopf auf. Ich betrachte ihn, wie er so vollkommen reglos daliegt. Nicht einmal Atembewegungen nehme ich wahr. Ich halte meine Hand vor seine Nase. Nicht der leiseste Hauch.
Ich fasse ihn an die Schulter. Trotz der Sonne fühlt er sich kühl an. Und hart. Und dann sehe ich den Fleck: rotbraun direkt neben seinem erstarrten Körper. Ich rufe sofort die Polizei, dauert auch nur wenige Minuten und zwei Streifenbeamte sichern den Fundort. Ob es auch der Tatort ist, wird sich zeigen. Er muss schon etliche Stunden so daliegen. Vor der Kirche. Zwischen all den frommen Menschen. Und auch zwischen den Unfrommen. Keiner besser als die Andere. Ich auch nicht. Hätte die Sonne nicht so geknallt oder hätte ich den alten Knirps nicht dabei gehabt, wäre ich wohl auch schulterzuckend von dannen gezogen.
Ich muss mich bereithalten für die Befragung durch die leitenden Ermittler*innen. Eigentlich wollte ich ja ein neues Kleid kaufen, Geschenke für diverse Geburtstage, einen riesigen Cappuccino in meinem Lieblingscafé trinken, Überweisungen tätigen, Kosmetikbestände auffüllen, Lotto spielen. Kann ich für heute keinen Haken dran machen. Wäre ich einfach weitergegangen wie alle anderen, stände ich jetzt schon in der Umkleide oder säße beim Cappuccio. Welch unwürdige Gedanken sich doch gelegentlich in mein räudiges Gehirn schleichen.
"Armer Teufel", grunzt der grantelnde leitende Beamte im fortgeschrittenen Alter, der desillusioniert seiner Pensionierung entgegenwartet. Der wird sich nicht krummlegen, um den Mörder des Opfers zu ermitteln. Wäre womöglich auch mit allergrößtem Engagement nicht von Erfolg gekrönt. Das hat vermutlich jemand im Affekt getan, aus einer Laune heraus. Messer haben viele in der Tasche. Wieder einer weg, dem keiner nachweint. Traurig.
Und dann denke ich an meinen Sohn. Und fürchte mich.
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Freitag, 23. Juli 2021
Flut
c. fabry, 08:43h
Sie war entkommen. Ihre Instinkte arbeiteten noch einwandfrei, trotz ihres fortgeschrittenen Alters. Die Arthrose hatte sie im Augenblick der Flucht nicht gespürt, das Bloß-weg-hier hatte alles beherrscht. Aber die, die sie liebte hatte sie nicht retten können, sie hoffte von Herzen, dass sie sich ebenfalls rechtzeitig in Sicherheit hatten bringen können.
Das Wasser war etwas brackig, aber trinkbar. Mäuse gab es hier jetzt reichlich, sie konnte hier ausharren, bis alles wieder abgeflossen war. Sie ahnte noch nicht, dass der Ort, an dem sie gewohnt hatte, für immer verschwunden war.
Und dann sah sie sie: Henriette. Gestern morgen hatte sie ihr noch ihr Lieblingsmenü kredenzt: Lachs in würziger Sauce. Sie sah so anders aus: bleich und nass und irgendwie aufgebläht. An der Stirn hatte sie eine hässliche Delle; die Spitze von Ludwigs gepflegtem Dachdeckerhammer hätte perfekt hineingepasst.
Henriette würde kein Menü mehr servieren, das spürte sie deutlich. Ludwig hatte ihr nie etwas spendiert, wenn sie Glück hatte, hatte er sie einfach nicht beachtet, sie hatte sich vor ihm hüten müssen, wenn sie nicht mit einem Tritt an einen anderen Ort befördert werden wollte.
Mit Henriette hatte er das auch gemacht, aber Henriette war nie geflogen, sondern gestürzt und dann hatte sie geschrien und geweint und Ludwig hatte erst zu treten aufgehört, wenn Henriette keinen Mucks mehr von sich gegeben hatte.
Sie ahnte, dass niemand fragen würde, wie Henriette gestorben war. Ludwig war sicher davongekommen und sie würde sich nach einem anderen Zuhause umsehen müssen. Das würde sich finden. Mäuse gab es ja vorerst genug.
Das Wasser war etwas brackig, aber trinkbar. Mäuse gab es hier jetzt reichlich, sie konnte hier ausharren, bis alles wieder abgeflossen war. Sie ahnte noch nicht, dass der Ort, an dem sie gewohnt hatte, für immer verschwunden war.
Und dann sah sie sie: Henriette. Gestern morgen hatte sie ihr noch ihr Lieblingsmenü kredenzt: Lachs in würziger Sauce. Sie sah so anders aus: bleich und nass und irgendwie aufgebläht. An der Stirn hatte sie eine hässliche Delle; die Spitze von Ludwigs gepflegtem Dachdeckerhammer hätte perfekt hineingepasst.
Henriette würde kein Menü mehr servieren, das spürte sie deutlich. Ludwig hatte ihr nie etwas spendiert, wenn sie Glück hatte, hatte er sie einfach nicht beachtet, sie hatte sich vor ihm hüten müssen, wenn sie nicht mit einem Tritt an einen anderen Ort befördert werden wollte.
Mit Henriette hatte er das auch gemacht, aber Henriette war nie geflogen, sondern gestürzt und dann hatte sie geschrien und geweint und Ludwig hatte erst zu treten aufgehört, wenn Henriette keinen Mucks mehr von sich gegeben hatte.
Sie ahnte, dass niemand fragen würde, wie Henriette gestorben war. Ludwig war sicher davongekommen und sie würde sich nach einem anderen Zuhause umsehen müssen. Das würde sich finden. Mäuse gab es ja vorerst genug.
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