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Freitag, 4. Juni 2021
Impfchaos
c. fabry, 02:25h
"Ihr Impftermin muss leider abgesagt werden, weil die erwarteten Mengen an Impfdosen nicht zur Verfügung stehen. Wir werden Ihnen zu gegebener Zeit einen Ersatztermin anbieten."
Viktoria war wütend. Jetzt hatte sie endlich die Bescheinigung bekommen, dass sie zu den priorisierten Gruppen gehörte, jetzt stockten die Lieferungen. Das konnte doch nicht wahr sein! Und wenn sie es stumpf einfach noch einmal versuchte?
Janev war enttäuscht. Er hatte sich so gefreut, dass es jetzt endlich losgehen sollte. Dann würde er wohl noch warten müssen.
Carina konnte es nicht glauben. Sie ging wieder auf die Website des Impfzentrums und stellte fest, dass sie erneut direkt einen Termin hätte buchen können. Was war da los? Sie rief einfach direkt beim Betreiber an.
?Das ist aber eine komische Mail.?, erklärte der freundliche Herr am anderen Ende der Leitung. ?Ich sehe Sie hier fest eingebucht, und wir haben auch genug Impfstoff. Sie können gern kommen.?
Als Peter sah, dass es am Impfzentrum zwar etwas leerer war als vor einer Woche, aber dennoch nach wie vor Hunderte anrückten, um sich ihre Spritze abzuholen, erkannte er, dass seine Unternehmung gescheitert war. So ließen sich die verirrten Seelen nicht aufhalten. Sie glaubten, mit etwas in den Oberarmmuskel gespritztem Gift könnten sie der gerechten Strafe des HERRN entgehen. Diese Narren! Am Ende würde der Weltenrichter ja doch Rechenschaft von ihnen fordern. Aber er gönnte ihnen diesen Aufschub nicht. Sie sollten endlich aufhören, die Welt mit schändlichen Sünden zu überziehen, mit Unzucht und Abtreibung, mit Blasphemie und falschen Göttern, mit Müßiggang, Alkohol und Drogen. Gott hatte die Welt nicht erschaffen, damit sie sich mit ihr amüsierten, sich maßlos an ihr bereicherten und alles Schöne und Gute verzerrten und verhöhnten. Er wollte nicht länger warten, er wollte, dass es jetzt passierte, auf der Stelle sollte die Spreu vom Weizen getrennt werden. Wer des HERRN war, der würde sich nicht anstecken oder zumindest nicht schwer erkranken, sondern das Virus unbeschadet überleben. Diejenigen aber, die sich versündigt hatten, die würden sich schwach fühlen, vielleicht für lange Zeit, vielleicht sogar für den Rest ihres Lebens und vielleicht würden sie sogar daran ersticken. Wenn das der Wille des HERRN war, dann musste es eben geschehen. Diesem heiligen Zorn Gottes sollte sich niemand in den Weg stellen.
Am Ende würden die sogenannten Demokraten noch fordern, dass sich alle mit diesen Medikamenten vergiften ließen, diesem Gebräu, von dem die Menschen unfruchtbar wurden, schwach, anfällig und schließlich krebskrank. Jemand musste verhindern, dass dieser Wahnsinnsauftrag ausgeführt wurde. Sie hatten es schon mit Luftnummer-Buchungen versucht, aber es gab einfach zu viele Termine und die Ärzte verimpften das, was übrig war, dann einfach wild.
Die Briefe hatten offensichtlich auch nicht viele abgehalten. Jetzt half nur noch Chaos. Das System musste zusammenbrechen. Er würde gleich Alex anrufen. Gemeinsam würde ihnen schon etwas einfallen.
Viktoria war wütend. Jetzt hatte sie endlich die Bescheinigung bekommen, dass sie zu den priorisierten Gruppen gehörte, jetzt stockten die Lieferungen. Das konnte doch nicht wahr sein! Und wenn sie es stumpf einfach noch einmal versuchte?
Janev war enttäuscht. Er hatte sich so gefreut, dass es jetzt endlich losgehen sollte. Dann würde er wohl noch warten müssen.
Carina konnte es nicht glauben. Sie ging wieder auf die Website des Impfzentrums und stellte fest, dass sie erneut direkt einen Termin hätte buchen können. Was war da los? Sie rief einfach direkt beim Betreiber an.
?Das ist aber eine komische Mail.?, erklärte der freundliche Herr am anderen Ende der Leitung. ?Ich sehe Sie hier fest eingebucht, und wir haben auch genug Impfstoff. Sie können gern kommen.?
Als Peter sah, dass es am Impfzentrum zwar etwas leerer war als vor einer Woche, aber dennoch nach wie vor Hunderte anrückten, um sich ihre Spritze abzuholen, erkannte er, dass seine Unternehmung gescheitert war. So ließen sich die verirrten Seelen nicht aufhalten. Sie glaubten, mit etwas in den Oberarmmuskel gespritztem Gift könnten sie der gerechten Strafe des HERRN entgehen. Diese Narren! Am Ende würde der Weltenrichter ja doch Rechenschaft von ihnen fordern. Aber er gönnte ihnen diesen Aufschub nicht. Sie sollten endlich aufhören, die Welt mit schändlichen Sünden zu überziehen, mit Unzucht und Abtreibung, mit Blasphemie und falschen Göttern, mit Müßiggang, Alkohol und Drogen. Gott hatte die Welt nicht erschaffen, damit sie sich mit ihr amüsierten, sich maßlos an ihr bereicherten und alles Schöne und Gute verzerrten und verhöhnten. Er wollte nicht länger warten, er wollte, dass es jetzt passierte, auf der Stelle sollte die Spreu vom Weizen getrennt werden. Wer des HERRN war, der würde sich nicht anstecken oder zumindest nicht schwer erkranken, sondern das Virus unbeschadet überleben. Diejenigen aber, die sich versündigt hatten, die würden sich schwach fühlen, vielleicht für lange Zeit, vielleicht sogar für den Rest ihres Lebens und vielleicht würden sie sogar daran ersticken. Wenn das der Wille des HERRN war, dann musste es eben geschehen. Diesem heiligen Zorn Gottes sollte sich niemand in den Weg stellen.
Am Ende würden die sogenannten Demokraten noch fordern, dass sich alle mit diesen Medikamenten vergiften ließen, diesem Gebräu, von dem die Menschen unfruchtbar wurden, schwach, anfällig und schließlich krebskrank. Jemand musste verhindern, dass dieser Wahnsinnsauftrag ausgeführt wurde. Sie hatten es schon mit Luftnummer-Buchungen versucht, aber es gab einfach zu viele Termine und die Ärzte verimpften das, was übrig war, dann einfach wild.
Die Briefe hatten offensichtlich auch nicht viele abgehalten. Jetzt half nur noch Chaos. Das System musste zusammenbrechen. Er würde gleich Alex anrufen. Gemeinsam würde ihnen schon etwas einfallen.
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Freitag, 28. Mai 2021
Nazgul
c. fabry, 12:49h
Christian genoss die Stille des Augenblicks. Keine Geräuschlosigkeit, keine Reglosigkeit wie in einem aufgeräumten Zen-Zimmer. Das Rauschen des Windes in den Blättern, die Pfiffe der Vögel, in der Ferne das Blöken der Schafe. Und alles war in Bewegung: die wiegenden Wipfel, die flatternden Falter, das gurgelnde Wasser im Bachlauf. Aber nichts davon wirkte aufschreckend, irritierend, bedrohlich oder enervierend. Es war alles so, wie Gott es gemacht hatte und es war sehr gut. Hier war der perfekte Ort, um die Pfeile über die Lichtung zu schicken, auf das weit entfernte Ziel, dann gemächlich zu wandern, sich an der Anzahl der Treffer zu erfreuen, die Geschosse wieder einzusammeln, zurückzulaufen und erneut in höchster Konzentration die Bogensehne zu spannen, eins zu werden mit dem Langbogen und im richtigen Moment, im richtigen Winkel loszulassen und den Pfeil in die Freiheit zu schicken, sich selbst seinen Weg zu suchen.
So musste man es auch mit seinen Kindern machen: sie in die passende Startposition versetzen, sie lange genug festhalten, bis man sicher war, dass die Richtung stimmte und dann loslassen, unwiederbringlich, und darauf vertrauen, dass sie sich ihren Weg suchten und das Ziel nicht verfehlten. Und wenn ungünstige Seitenwinde einen Strich durch die Rechnung machten und sie knapp daneben landeten, so war das nicht das Ende, dann gab es eben einen nächsten Versuch. Und noch einen, bis sie dort ankamen, wo sie ankommen sollten.
Miriam würde sich auch zu gegebener Zeit von Julius trennen, sie würde schon merken, dass der leichtfüßige Geselle ihr nicht guttat. Er sorgte sich nur manchmal, dass Julius mit seinen waghalsigen Unternehmungen Miriam mit in den Abgrund ziehen könnte und dann hätte sie vielleicht keine Gelegenheit zu merken, wie schädlich er für sie war.
Patrick fühlte sich großartig. Endlich wieder oben, nur das Rauschen des Windes in den Ohren, unter sich die zweidimensionale Landschaft, wie eine Insel aus der Perspektive eine Fährschiffs, alles klar und deutlich zu erkennen, aber in sicherer Entfernung, außer Hörweite, nahezu unwirklich, wie eine fremde Welt, zu der es keine Verbindung gab und aus der man auch nicht behelligt werden konnte. Dies war die beste Möglichkeit, allem Schweren und Düsteren zu entkommen, die Muskeln zu entspannen und den Kopf frei zu kriegen. Drei Starts würde er sich heute mindestens gönnen, danach gut essen und früh, fest und lange schlafen. So gestärkt würde er die kommende Woche problemlos überstehen.
Sie flogen wieder. Kaum erlaubte ein sonniger Tag, entspannt auf der Terrasse zu sitzen, schon kreisten die fliegenden Männer bedrohlich über dem Kaffeetisch. Genaugenommen waren sie nur gleitende Männer, fliegen konnte man das, was sie da taten, schwerlich nennen, denn es geschah nicht nur ohne eigene Kraftanstrengung, sie schraubten sich, die Thermik über dem frisch gepflügten Feld ausnutzend in großen Kreisen langsam zurück in weniger tragende Luftschichten, um schließlich sanft zu landen und sich erneut mit der Winde hochziehen zu lassen.
Norbert hatte stets Angst, dass eines Tages einer von ihnen aus heiterem Himmel auf seine Schultern krachte. Schlimm genug, wenn sich der Angeber den Hals brach, aber wenn er ihn dabei gleich noch mitnahm, war das mehr als nur ein unangenehmes Ärgernis.
Ein gewaltiger Schatten flog über die Lichtung. Christians Nackenhaare stellten sich auf. Manchmal fragte er sich, ob es sich da um rudimentäre Kleintier-Instinkte handelte, waren doch Kaninchen, Hasen, Katzen, Hühner, Fasane und natürlich Ratten und Mäuse von Angriffen großer Vögel bedroht. Menschen hatten so etwas ja nie erlebt. Als der Mensch sich entwickelte, waren die Flugsaurier schon ausgestorben. Und die drachenartigen Reittiere, auf denen die Ringgeister in J.R.R. Tolkiens Meisterwerk die Lüfte unsicher machten, existierten nur in Legenden und Phantasien. Doch es war schaurig, bei einem so riesigen Schatten kein verdächtiges Geräusch zu hören. Er blickte nach oben und erkannte den Paraglider. Das gehörte auch zu Julius Halsbrecher-Hobbys. Es wäre ihm ja egal gewesen, hätte er nicht so eine furchtbare Angst um seine einzige Tochter. Es war nur eine Frage der Zeit, er würde sie zu einem Tandemflug überreden und dann zu noch einem? bis es schließlich schiefging. Warum mussten Menschen so leichtfertig und ohne Not die eigene Gesundheit, wenn nicht sogar ihr Leben und das ihrer Mitmenschen aufs Spiel setzen?
Riesige Kreise waren heute möglich, viel Zeit um die Welt auf Abstand zu halten und sich ihr doch nicht vollständig zu entziehen. Patrick bewunderte die Landschaft aus der Vogelperspektive: Zuerst die trockene, braune Erde, über der die von der Sonne aufgeheizte Luft flimmerte, dann das Gras der Weide, die blühenden Büsche und Stauden des angrenzenden Gartens, ein frisches, grünes Getreidefeld und noch ein Stück Wald, der eine sonnendurchflutete Lichtung umschloss. Es war ein kleines Areal, aber es wirkte auf ihn, als kreise er mehrmals um die ganze Welt und mit jeder Runde wurde sein Atem tiefer und sein Geist freier.
Der Waldschrat richtete seinen Blick sehnsüchtig nach oben. Ja, er würde auch neidvoll in den Himmel blicken, wenn er jetzt mit seiner ganzen, körperlich Schwere an den Boden gefesselt wäre, nur langsam Schritt für Schritt vorankäme, mit dem eingeschränkten Gesichtsfeld der Fußgängerperspektive. Jeder Baum, jeder Busch, Jede kleine Hütte ein Hindernis. Manchmal kamen Muggel an die Winde geschlichen und erkundigten sich devot, wie das alles funktionierte und wenn sie etwas dreister waren, gern auch mal, ob sie es auch einmal probieren dürften. Die hatten keine Vorstellung davon, wie viel Aufwand man im Vorfeld betreiben musste und wie teuer der Spaß war. Er zog dann immer mit einem freundlichen Grinsen eine Karte aus der Brusttasche und erklärte: ?Das ist die Webseite unseres Vereins. Da finden Sie alle Informationen über Anmeldung und Preise für Tandemflüge und Anfängerkurse.? Dann hielten sie die Klappe und fragten nicht weiter. Zahlen oder sich Mühe geben wollte ja niemand. Alles Schmarotzer.
Norbert goss sich eine zweite Tasse Kaffee ein. Schon zum zweiten Mal hielt der Segler auf sein Haus zu, hatte einen ganz schönen Zahn drauf und wurde um einiges sichtbarer. Gegen neugierige Passanten konnte man Hecken pflanzen, doch sogar darauf hatte er weitestgehend verzichtet, weil er in seinem Garten den weiten Blick liebte, er wollte nicht vor eine grüne Wand starren und diejenigen, die an seinem Haus vorbei kamen, hatten andere Ziele vor Augen, als die undurchsichtige Botanik seines naturnahen Gartens. Aber von oben, die hatten ja sonst nichts, die glotzten einem die Torte vom Teller, das war übergriffig und wenn man nicht im Schatten eines Sonnenschirmes sitzen wollte, gab es dagegen keinen Schutz.
Christian hatte gerade alle Pfeile verschossen, da kam der Verrückte schon wieder angeflogen. Es fehlte nicht mehr viel und seine Füße streiften die Wipfel der Buchen, die weit in den Himmel aufragten. In der nächsten Runde würde er irgendwo hängen bleiben, Bäume beschädigen, Jungvögel aus ihren Nestern kegeln, den Frieden stören. Die vergnügungssüchtigen Geldsäcke machten einfach vor gar nichts halt und die anderen Menschen waren meistens zu höflich, um sich ihnen in den Weg zu stellen.
Patrick staunte über die vielen Nester die er in den hohen Bäumen ausmachen konnte. Beim nächsten Aufstieg würde er sein Smartphone mitnehmen. Spektakuläre Fotos, die er sich ansehen konnte, wenn er einmal nicht mehr in der Lage war, über den Dingen zu schweben.
Bei der dritten Runde kam der Gleitschirmsegler so tief, dass Norbert das Flattern der ultraleichten Textilien deutlich hören konnte. Also konnte der Flieger auch ihn hören. "Sie sind lästig!", brüllte er nach oben. "Ich glotze Ihnen ja auch nicht auf den Kaffeetisch!"
Christian sammelte die Pfeile ein: vier Volltreffer, zwei knapp daneben. Er wurde immer besser, je mehr er das Geschehen um sich herum ausblendete, aber er hätte sicher sechs Volltreffer gelandet, wenn er sich nicht über den Gleitschirm geärgert hätte.
Der Kaffeetischsitzer bellte Patrick etwas entgegen. Er war zu weit weg und hier oben war zu viel Wind, um es zu verstehen. Es klang auf jeden Fall nicht freundlich. Vermutlich hatte er Sorge, der Gleitschirm könne ihm auf die Terrasse stürzen und sein Meißner Porzellan zerdeppern oder Schlimmeres. Ob er sich über die Autos, die mit einem Affenzahn an seinem Grundstück vorbei rasten, genauso viel Sorgen machte? Wie viele waghalsige Überholmanöver hatten wohl schon in seiner Hecke geendet? Aber so waren die Spießer. Immer eine Scheißangst vor dem Ungewohnten. Und vor allem, von dem sie selbst nichts verstanden.
Der Waldschrat dagegen folgte ihm erneut mit seinen sehnsüchtigen Blicken. Er könnte ja in der nächsten Runde versuchen, auf der Lichtung zu landen und ihm eine Karte zustecken. Das wäre doch mal ein schöner Spaß, auch wenn er danach mindestens eine Viertelstunde zu Fuß laufen musste, wenn nicht sogar eine halbe. Er hatte ja noch Zeit, es sich zu überlegen.
Beim vierten Mal sprang Norbert panisch von seiner Gartenbank und flüchtete ins Haus. Es hatte wirklich so ausgesehen, als würde der Verrückte gleich auf sein Grundstück krachen. Hoffentlich knallte er nicht aufs Dach. Ob er die Polizei verständigen sollte? aber die würden ihn nur auslachen.
Christian war fassungslos. Der Idiot war doch beinahe in den Garten gekracht. Gemeingefährlich war der. Man musste diese Wahnsinnigen aufhalten, ein Exempel statuieren.
Patrick konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, denn der Tortenopa rannte panisch ins Haus. Vermutlich klingelte das Telefon. So waren ältere Leute ja. Meinten, sie müssten immer reagieren, wenn es klingelte. Das Mobiltelefon verweigern, sich aber vom Festnetzanschluss terrorisieren lassen. Gut, dass es hier oben so still war.
Norbert wagte sich wieder auf seine Terrasse, denn der Paraglider entfernte sich gerade in Richtung Wald. Selbst in der Entfernung störte das Flugobjekt seine feiertägliche Nachmittagsruhe. Zumal er sich schon oft darüber geärgert hatte, dass diese selbstverliebten Wichtigtuer mit ihrem Equipment den Feldweg blockierten, den er als Radweg nutzte, um an der stark befahrenen Landstraße nicht von einem Raser über den Haufen gefahren zu werden. Wenn die Nazgul ? wie er sie nannte ? hier ihr Unwesen trieben, musste er jedes Mal absteigen und sein Fahrrad über das bestellte Feld tragen; selbst Schieben war nicht möglich zwischen Zuckerrüben, Kartoffelhügeln oder Maispflanzen.
Ein eigenartiges Kribbeln kroch Christians Nacken empor. Das Denken setzte aus. Er war nur noch ein strafender rächender, Gott, eine männliche Artemis. Der Bogen wurde zu einem Glied seines Körpers, die Sehne einer seiner Muskeln und der Pfeil war sein Sohn. Er gab seinem Sohn die Richtige Richtung und dann ließ er ihn los, damit er seinen Weg fand. Und er fand ihn.
Patrick badete im Licht des azurblauen Himmels. Von den Wipfeln der nahenden Buchen startete ein seltsamer Vogel. War das ein Storch? Oder ein Fischreiher? Schlank und stromlinienförmig schoss er wie ein Pfeil durch die Luft. So einen seltsamen Flieger hatte er noch nie gesehen. Er kam direkt auf ihn zu. Hoffentlich verhedderte er sich nicht in den Schnüren, das wäre kein Spaß! Er hörte in seltsames Geräusch, dann pfiff der Wind so laut und der Boden kam viel zu schnell näher.
Norbert traute seinen Augen nicht. Plötzlich und ohne erkennbaren Grund klappte der Gleitschirm zusammen wie ein Stück Tischwäsche, das man vor der Fahrt zur Heißmangel zusammenlegte. Wie ein Stein stürzte der Freizeitsportler vom Himmel. Er kam an der Stelle herunter, an der das Bachbett besonders felsig war. Er rannte wieder ins Haus, um den Notruf zu alarmieren.
Sie hatten alle drei die Stille gesucht, aber nur einer hatte sie endgültig gefunden.
So musste man es auch mit seinen Kindern machen: sie in die passende Startposition versetzen, sie lange genug festhalten, bis man sicher war, dass die Richtung stimmte und dann loslassen, unwiederbringlich, und darauf vertrauen, dass sie sich ihren Weg suchten und das Ziel nicht verfehlten. Und wenn ungünstige Seitenwinde einen Strich durch die Rechnung machten und sie knapp daneben landeten, so war das nicht das Ende, dann gab es eben einen nächsten Versuch. Und noch einen, bis sie dort ankamen, wo sie ankommen sollten.
Miriam würde sich auch zu gegebener Zeit von Julius trennen, sie würde schon merken, dass der leichtfüßige Geselle ihr nicht guttat. Er sorgte sich nur manchmal, dass Julius mit seinen waghalsigen Unternehmungen Miriam mit in den Abgrund ziehen könnte und dann hätte sie vielleicht keine Gelegenheit zu merken, wie schädlich er für sie war.
Patrick fühlte sich großartig. Endlich wieder oben, nur das Rauschen des Windes in den Ohren, unter sich die zweidimensionale Landschaft, wie eine Insel aus der Perspektive eine Fährschiffs, alles klar und deutlich zu erkennen, aber in sicherer Entfernung, außer Hörweite, nahezu unwirklich, wie eine fremde Welt, zu der es keine Verbindung gab und aus der man auch nicht behelligt werden konnte. Dies war die beste Möglichkeit, allem Schweren und Düsteren zu entkommen, die Muskeln zu entspannen und den Kopf frei zu kriegen. Drei Starts würde er sich heute mindestens gönnen, danach gut essen und früh, fest und lange schlafen. So gestärkt würde er die kommende Woche problemlos überstehen.
Sie flogen wieder. Kaum erlaubte ein sonniger Tag, entspannt auf der Terrasse zu sitzen, schon kreisten die fliegenden Männer bedrohlich über dem Kaffeetisch. Genaugenommen waren sie nur gleitende Männer, fliegen konnte man das, was sie da taten, schwerlich nennen, denn es geschah nicht nur ohne eigene Kraftanstrengung, sie schraubten sich, die Thermik über dem frisch gepflügten Feld ausnutzend in großen Kreisen langsam zurück in weniger tragende Luftschichten, um schließlich sanft zu landen und sich erneut mit der Winde hochziehen zu lassen.
Norbert hatte stets Angst, dass eines Tages einer von ihnen aus heiterem Himmel auf seine Schultern krachte. Schlimm genug, wenn sich der Angeber den Hals brach, aber wenn er ihn dabei gleich noch mitnahm, war das mehr als nur ein unangenehmes Ärgernis.
Ein gewaltiger Schatten flog über die Lichtung. Christians Nackenhaare stellten sich auf. Manchmal fragte er sich, ob es sich da um rudimentäre Kleintier-Instinkte handelte, waren doch Kaninchen, Hasen, Katzen, Hühner, Fasane und natürlich Ratten und Mäuse von Angriffen großer Vögel bedroht. Menschen hatten so etwas ja nie erlebt. Als der Mensch sich entwickelte, waren die Flugsaurier schon ausgestorben. Und die drachenartigen Reittiere, auf denen die Ringgeister in J.R.R. Tolkiens Meisterwerk die Lüfte unsicher machten, existierten nur in Legenden und Phantasien. Doch es war schaurig, bei einem so riesigen Schatten kein verdächtiges Geräusch zu hören. Er blickte nach oben und erkannte den Paraglider. Das gehörte auch zu Julius Halsbrecher-Hobbys. Es wäre ihm ja egal gewesen, hätte er nicht so eine furchtbare Angst um seine einzige Tochter. Es war nur eine Frage der Zeit, er würde sie zu einem Tandemflug überreden und dann zu noch einem? bis es schließlich schiefging. Warum mussten Menschen so leichtfertig und ohne Not die eigene Gesundheit, wenn nicht sogar ihr Leben und das ihrer Mitmenschen aufs Spiel setzen?
Riesige Kreise waren heute möglich, viel Zeit um die Welt auf Abstand zu halten und sich ihr doch nicht vollständig zu entziehen. Patrick bewunderte die Landschaft aus der Vogelperspektive: Zuerst die trockene, braune Erde, über der die von der Sonne aufgeheizte Luft flimmerte, dann das Gras der Weide, die blühenden Büsche und Stauden des angrenzenden Gartens, ein frisches, grünes Getreidefeld und noch ein Stück Wald, der eine sonnendurchflutete Lichtung umschloss. Es war ein kleines Areal, aber es wirkte auf ihn, als kreise er mehrmals um die ganze Welt und mit jeder Runde wurde sein Atem tiefer und sein Geist freier.
Der Waldschrat richtete seinen Blick sehnsüchtig nach oben. Ja, er würde auch neidvoll in den Himmel blicken, wenn er jetzt mit seiner ganzen, körperlich Schwere an den Boden gefesselt wäre, nur langsam Schritt für Schritt vorankäme, mit dem eingeschränkten Gesichtsfeld der Fußgängerperspektive. Jeder Baum, jeder Busch, Jede kleine Hütte ein Hindernis. Manchmal kamen Muggel an die Winde geschlichen und erkundigten sich devot, wie das alles funktionierte und wenn sie etwas dreister waren, gern auch mal, ob sie es auch einmal probieren dürften. Die hatten keine Vorstellung davon, wie viel Aufwand man im Vorfeld betreiben musste und wie teuer der Spaß war. Er zog dann immer mit einem freundlichen Grinsen eine Karte aus der Brusttasche und erklärte: ?Das ist die Webseite unseres Vereins. Da finden Sie alle Informationen über Anmeldung und Preise für Tandemflüge und Anfängerkurse.? Dann hielten sie die Klappe und fragten nicht weiter. Zahlen oder sich Mühe geben wollte ja niemand. Alles Schmarotzer.
Norbert goss sich eine zweite Tasse Kaffee ein. Schon zum zweiten Mal hielt der Segler auf sein Haus zu, hatte einen ganz schönen Zahn drauf und wurde um einiges sichtbarer. Gegen neugierige Passanten konnte man Hecken pflanzen, doch sogar darauf hatte er weitestgehend verzichtet, weil er in seinem Garten den weiten Blick liebte, er wollte nicht vor eine grüne Wand starren und diejenigen, die an seinem Haus vorbei kamen, hatten andere Ziele vor Augen, als die undurchsichtige Botanik seines naturnahen Gartens. Aber von oben, die hatten ja sonst nichts, die glotzten einem die Torte vom Teller, das war übergriffig und wenn man nicht im Schatten eines Sonnenschirmes sitzen wollte, gab es dagegen keinen Schutz.
Christian hatte gerade alle Pfeile verschossen, da kam der Verrückte schon wieder angeflogen. Es fehlte nicht mehr viel und seine Füße streiften die Wipfel der Buchen, die weit in den Himmel aufragten. In der nächsten Runde würde er irgendwo hängen bleiben, Bäume beschädigen, Jungvögel aus ihren Nestern kegeln, den Frieden stören. Die vergnügungssüchtigen Geldsäcke machten einfach vor gar nichts halt und die anderen Menschen waren meistens zu höflich, um sich ihnen in den Weg zu stellen.
Patrick staunte über die vielen Nester die er in den hohen Bäumen ausmachen konnte. Beim nächsten Aufstieg würde er sein Smartphone mitnehmen. Spektakuläre Fotos, die er sich ansehen konnte, wenn er einmal nicht mehr in der Lage war, über den Dingen zu schweben.
Bei der dritten Runde kam der Gleitschirmsegler so tief, dass Norbert das Flattern der ultraleichten Textilien deutlich hören konnte. Also konnte der Flieger auch ihn hören. "Sie sind lästig!", brüllte er nach oben. "Ich glotze Ihnen ja auch nicht auf den Kaffeetisch!"
Christian sammelte die Pfeile ein: vier Volltreffer, zwei knapp daneben. Er wurde immer besser, je mehr er das Geschehen um sich herum ausblendete, aber er hätte sicher sechs Volltreffer gelandet, wenn er sich nicht über den Gleitschirm geärgert hätte.
Der Kaffeetischsitzer bellte Patrick etwas entgegen. Er war zu weit weg und hier oben war zu viel Wind, um es zu verstehen. Es klang auf jeden Fall nicht freundlich. Vermutlich hatte er Sorge, der Gleitschirm könne ihm auf die Terrasse stürzen und sein Meißner Porzellan zerdeppern oder Schlimmeres. Ob er sich über die Autos, die mit einem Affenzahn an seinem Grundstück vorbei rasten, genauso viel Sorgen machte? Wie viele waghalsige Überholmanöver hatten wohl schon in seiner Hecke geendet? Aber so waren die Spießer. Immer eine Scheißangst vor dem Ungewohnten. Und vor allem, von dem sie selbst nichts verstanden.
Der Waldschrat dagegen folgte ihm erneut mit seinen sehnsüchtigen Blicken. Er könnte ja in der nächsten Runde versuchen, auf der Lichtung zu landen und ihm eine Karte zustecken. Das wäre doch mal ein schöner Spaß, auch wenn er danach mindestens eine Viertelstunde zu Fuß laufen musste, wenn nicht sogar eine halbe. Er hatte ja noch Zeit, es sich zu überlegen.
Beim vierten Mal sprang Norbert panisch von seiner Gartenbank und flüchtete ins Haus. Es hatte wirklich so ausgesehen, als würde der Verrückte gleich auf sein Grundstück krachen. Hoffentlich knallte er nicht aufs Dach. Ob er die Polizei verständigen sollte? aber die würden ihn nur auslachen.
Christian war fassungslos. Der Idiot war doch beinahe in den Garten gekracht. Gemeingefährlich war der. Man musste diese Wahnsinnigen aufhalten, ein Exempel statuieren.
Patrick konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, denn der Tortenopa rannte panisch ins Haus. Vermutlich klingelte das Telefon. So waren ältere Leute ja. Meinten, sie müssten immer reagieren, wenn es klingelte. Das Mobiltelefon verweigern, sich aber vom Festnetzanschluss terrorisieren lassen. Gut, dass es hier oben so still war.
Norbert wagte sich wieder auf seine Terrasse, denn der Paraglider entfernte sich gerade in Richtung Wald. Selbst in der Entfernung störte das Flugobjekt seine feiertägliche Nachmittagsruhe. Zumal er sich schon oft darüber geärgert hatte, dass diese selbstverliebten Wichtigtuer mit ihrem Equipment den Feldweg blockierten, den er als Radweg nutzte, um an der stark befahrenen Landstraße nicht von einem Raser über den Haufen gefahren zu werden. Wenn die Nazgul ? wie er sie nannte ? hier ihr Unwesen trieben, musste er jedes Mal absteigen und sein Fahrrad über das bestellte Feld tragen; selbst Schieben war nicht möglich zwischen Zuckerrüben, Kartoffelhügeln oder Maispflanzen.
Ein eigenartiges Kribbeln kroch Christians Nacken empor. Das Denken setzte aus. Er war nur noch ein strafender rächender, Gott, eine männliche Artemis. Der Bogen wurde zu einem Glied seines Körpers, die Sehne einer seiner Muskeln und der Pfeil war sein Sohn. Er gab seinem Sohn die Richtige Richtung und dann ließ er ihn los, damit er seinen Weg fand. Und er fand ihn.
Patrick badete im Licht des azurblauen Himmels. Von den Wipfeln der nahenden Buchen startete ein seltsamer Vogel. War das ein Storch? Oder ein Fischreiher? Schlank und stromlinienförmig schoss er wie ein Pfeil durch die Luft. So einen seltsamen Flieger hatte er noch nie gesehen. Er kam direkt auf ihn zu. Hoffentlich verhedderte er sich nicht in den Schnüren, das wäre kein Spaß! Er hörte in seltsames Geräusch, dann pfiff der Wind so laut und der Boden kam viel zu schnell näher.
Norbert traute seinen Augen nicht. Plötzlich und ohne erkennbaren Grund klappte der Gleitschirm zusammen wie ein Stück Tischwäsche, das man vor der Fahrt zur Heißmangel zusammenlegte. Wie ein Stein stürzte der Freizeitsportler vom Himmel. Er kam an der Stelle herunter, an der das Bachbett besonders felsig war. Er rannte wieder ins Haus, um den Notruf zu alarmieren.
Sie hatten alle drei die Stille gesucht, aber nur einer hatte sie endgültig gefunden.
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Freitag, 21. Mai 2021
Lieber nicht
c. fabry, 12:18h
War das etwa Anja? Mein Gott, hatte die abgebaut. Die üppige blonde Mähne, war platinierten Strähnchen gewichen, denen man den Volumenschaum deutlich ansah. Auch von der lebendigen Frische ihres jugendlichen Gesichts war nichts mehr übrig und die Proportionen, des einst so wohlgerundeten Backfischkörpers waren völlig ins Missverhältnis gerutscht.
Aber es war ja auch eine Zeitspanne verstrichen, in der zwei Generationen das Licht der Welt erblickt hatten. Vierzig Jahre! Danach hatten sie sich bald aus den Augen verloren.
Marina hatte damals Wichtigeres im Kopf gehabt. Sie hatte ihr Herz verloren und dann auch noch den Verstand. Die Gemeindeleitung hatte den Pfarrer gefeuert; vordergründig wegen einer Häufung von Verfehlungen, die im Einzelfall verzeihlich, in der Summe aber untragbar waren: finanzielle Ungereimtheiten, vergessene Termine, kleine verbale Entgleisungen und ein etwas zu lässiger Umgang mit der Volksdroge Alkohol.
Aber da waren wohl noch andere Motive im Spiel gewesen, darüber dürfe man nun wirklich nicht reden, hatten die auskunftswilligen Presbyter erklärt, zu ungeheuerlich, als dass sie es leichtfertig hätten ausplaudern dürfen.
Und Marina wusste genau, worum es ging. Damals nicht, aber mit fast vierzig Jahren zusätzlicher Lebenserfahrung, der entsprechenden Ausbildung und vielen gelesenen Büchern, hatte sich einiges in ihrem Kopf geklärt. Sie hatten den Pfarrer gefeuert, um Marina zu schützen. Sie fürchteten, der Theologe könne den Reizen der hingebungsvollen Jugendlichen erliegen und sich zu einer Grenzüberschreitung hinreißen lassen. Vermutlich hatten sie sein Verhalten bereits als Grenzüberschreitung einsortiert. Und heute täte sie das ebenso.
Wo er seine Hände hatte, wenn er mit ihr sprach. Nicht an eindeutigen Stellen, eher an den Schultern, der Taille, auf ihrem Haar..., aber wie er sie eingesetzt hatte: zart, aber intensiv und immer ein wenig länger, als angemessen gewesen wäre. So hatte er es auch mit den tiefen Blicken mitten in die Augen gehalten; besonders mit den wortlosen.
Den Verantwortlichen war wohl eher aufgefallen, dass da ein weiblicher Teenager etwas zu eifrig sämtliche Gottesdienste und Gemeinde-Veranstaltungen besuchte und dass dieser Teenager gern zu zweit mit dem Pfarrrer unterwegs war, um besondere Events in Nachbargemeinden zu besuchen. Daran war nichts Ungesetzliches, nicht einmal etwas Schlüpfriges, aber verdächtig war es ihnen erschienen, das hatte sie schon damals um zwei Ecken herum mitbekommen.
Jetzt kam Anja auf sie zu. Marina hätte sich gern unsichtbar gemacht. Was genau sie in Unbehagen versetzte, vermocht sie nicht zu sagen. Sie wollte nicht alles wieder hochkochen, was zu jahrelangem Schmerz und harter therapeutischer Arbeit geführt hatte, bis es endlich nicht mehr ihr Leben beherrscht hatte.
Da war auch ein schlechtes Gewissen gegenüber Anja, die damals ihre Unterstützung hätte gebrauchen können, sie aber mit ihrer Unberechenbarkeit überfordert hatte. Und auch jetzt spürte sie eine Ahnung, dass diese alte Bekannte sie mit in den Abgrund ziehen würde, in dem sie sich mehr als ihr halbes Leben befand, sobald sie sich in ein Gespräch hineinziehen ließ, das über ein paar höfliche Floskeln hinausging.
"Hallo Marina!", begrüßte die ehemalige Mitkonfirmandin sie freundlich. "Du hast dich ja überhaupt nicht verändert. Ich habe dich sofort wiedererkannt."
"Na, das ist wohl ein bisschen übertrieben. Man sie doch deutlich, dass ich kein Teenager mehr bin."
"Ja, ein paar Falten im Gesicht, ein paar Silberfäden im Haar und schmaler bist du geworden. Aber sonst siehst du immer noch genauso aus."
"Ich hab' dich auch erkannt. Bist auch nicht fett geworden oder der vertrauten Gesichtszüge verlustig gegangen."
"Na, ein bisschen schon. Und was machst du jetzt so?"
"Ich leite eine Altentagesstätte. Und du?"
"Ich arbeite in einer Gärtnerei. Studieren ging ja nicht."
"Wieso nicht?"
"Als ich auf dem Weg zum Abitur hätte sein sollen, war ich in der Klapse und später hatte ich für den komplizierten zweiten Bildungsweg keine Kraft."
"Du warst in der Psychiatrie? Aber ich habe dich doch ab und zu mal gesehen."
"Das war ja kein Knast. Ich war auch nicht durchgehend stationär untergebracht. Das war nur in den ersten Monaten seit dem Zusammenbruch."
Marina musste schlucken. Anja hatte damals einen Suizidversuch unternommen. Sie wusste noch, wie der Pfarrer damals reagiert hatte, als sie es ihm erzählte. Ein mit versteinerter Miene hervorgestoßenes: "Aha. - Na, die war ja schon immer ziemlich durchgeknallt."
Marina war von so viel Herzenskälte zutiefst erschüttert gewesen und hatte sich gefragt, wie er wohl reagiert hätte, wenn sie mit der gleichen Verzweiflung Hand an sich gelegt hätte. Sie hatte damals betont: "Aber das ist doch wirklich schlimm. Anja wäre beinahe gestorben. Und so ein Selbstmordversuch ist doch immer ein Hilferuf."
"Ja", hatte er geantwortet, "das sagt man so. Das ändert aber nichts daran, dass sie total irre ist. So jemandem kann nur von Profis geholfen werden."
Dann hatte er entschieden das Thema gewechselt und Marina ratlos zurückgelassen.
Und jetzt stand die Anja, die sie damals nur bedauert hatte, vor ihr als Leidensgenossin, ein weiteres Opfer der Gnadenlosigkeit eines Mannes, der Hoffnung auf Verständnis geweckt und dann jede Aufmerksamkeit verweigert hatte.
"Ich habe mich damals gar nicht getraut, zu fragen, was dich so verzweifeln lassen hat.", sagte Marina.
"Das Leben.", antwortete Anja. "Da kam so Einiges zusammen. Als wir in das Dorf gezogen sind und mit dem Pastor endlich mal ein Erwachsener da war, der sich dafür interessierte, was wir Jugendlichen dachten und fühlten, da habe ich gehofft, aus dem Sumpf raus zu kommen. Zuerst war er ja auch immer nett zu mir. Einmal war ich sogar zu einem längeren Gespräch bei ihm zu Hause. Aber das nächste Mal hat er einfach nur gefragt: 'Was willst du?' Und als ich sagte, dass ich gern reden würde, hat er barsch geantwortet: 'Ich hab' jetzt keine Zeit.' und einfach die Tür zugeknallt. Das war dann immer so. Auch am Telefon. Und als ich total am Ende war, hab' ich es nochmal versucht. Ich war bei ihm zu Hause, hab' geklingelt. Er hat nicht geöffnet, aber ich konnte durchs Fenster sehen, dass er da war. Dann habe ich Sturm geklingelt. Schließlich hat er ein Fenster aufgerissen und nur geschrien: 'Wenn du nicht sofort verschwindest, rufe ich die Polizei.'
Dann bin ich durch den Regen nach Hause gelaufen, hab bis in die Nacht mit meiner Mutter geredet, aber das hat alles nicht geholfen und darum wollte ich dann doch Schluss machen."
"Meinst du, du hättest nicht...also wenn er mit dir geredet hätte?"
"Ich weiß es nicht. Es wäre vielleicht auch so dazu gekommen, aber es war so, als würdest du schon seit langem mit einem Messer im Bauch rumlaufen und dann bittest du jemanden um Hilfe und der zieht es nur ein bisschen raus und dann bittest du noch einmal und dann dreht er es um und gibt dir einen Tritt in den Hintern und lässt dich im Dreck liegen. Ich habe mich gefühlt wie ein Stück Abfall, unnütz, kaputt und mit Scheiße beschmiert."
Ja, so hatte Marina sich auch gefühlt. Nicht so drastisch, mit weniger radikalen Folgen, doch sie sträubte sich noch immer dagegen, dieses Gefühl zuzugeben. Vielleicht war sie ein bisschen gesünder geblieben als Anja und einfach nicht bereit, sich unterkriegen zu lassen.
"Und wie geht es dir heute?", fragte sie.
"Besser.", sagte Anja. "Vielleicht auch wegen der Genugtuung."
"Welche Genugtuung?"
"Meine Eltern haben dem Sup und dem Presbyterium die Hölle heiß gemacht. Sie haben verlangt, dass er gefeuert wird und nie wieder in diesem Kirchenkreis arbeiten darf. Und er musste ja gehen. Und wie ich gehört habe, ist er nicht wieder auf die Füße gekommen."
Vielleicht war es das, was Marina schon immer innerlich von Anja ferngehalten hatte: Die Erbarmungslosigkeit und die Unfähigkeit, zu vergeben.
Aber es war ja auch eine Zeitspanne verstrichen, in der zwei Generationen das Licht der Welt erblickt hatten. Vierzig Jahre! Danach hatten sie sich bald aus den Augen verloren.
Marina hatte damals Wichtigeres im Kopf gehabt. Sie hatte ihr Herz verloren und dann auch noch den Verstand. Die Gemeindeleitung hatte den Pfarrer gefeuert; vordergründig wegen einer Häufung von Verfehlungen, die im Einzelfall verzeihlich, in der Summe aber untragbar waren: finanzielle Ungereimtheiten, vergessene Termine, kleine verbale Entgleisungen und ein etwas zu lässiger Umgang mit der Volksdroge Alkohol.
Aber da waren wohl noch andere Motive im Spiel gewesen, darüber dürfe man nun wirklich nicht reden, hatten die auskunftswilligen Presbyter erklärt, zu ungeheuerlich, als dass sie es leichtfertig hätten ausplaudern dürfen.
Und Marina wusste genau, worum es ging. Damals nicht, aber mit fast vierzig Jahren zusätzlicher Lebenserfahrung, der entsprechenden Ausbildung und vielen gelesenen Büchern, hatte sich einiges in ihrem Kopf geklärt. Sie hatten den Pfarrer gefeuert, um Marina zu schützen. Sie fürchteten, der Theologe könne den Reizen der hingebungsvollen Jugendlichen erliegen und sich zu einer Grenzüberschreitung hinreißen lassen. Vermutlich hatten sie sein Verhalten bereits als Grenzüberschreitung einsortiert. Und heute täte sie das ebenso.
Wo er seine Hände hatte, wenn er mit ihr sprach. Nicht an eindeutigen Stellen, eher an den Schultern, der Taille, auf ihrem Haar..., aber wie er sie eingesetzt hatte: zart, aber intensiv und immer ein wenig länger, als angemessen gewesen wäre. So hatte er es auch mit den tiefen Blicken mitten in die Augen gehalten; besonders mit den wortlosen.
Den Verantwortlichen war wohl eher aufgefallen, dass da ein weiblicher Teenager etwas zu eifrig sämtliche Gottesdienste und Gemeinde-Veranstaltungen besuchte und dass dieser Teenager gern zu zweit mit dem Pfarrrer unterwegs war, um besondere Events in Nachbargemeinden zu besuchen. Daran war nichts Ungesetzliches, nicht einmal etwas Schlüpfriges, aber verdächtig war es ihnen erschienen, das hatte sie schon damals um zwei Ecken herum mitbekommen.
Jetzt kam Anja auf sie zu. Marina hätte sich gern unsichtbar gemacht. Was genau sie in Unbehagen versetzte, vermocht sie nicht zu sagen. Sie wollte nicht alles wieder hochkochen, was zu jahrelangem Schmerz und harter therapeutischer Arbeit geführt hatte, bis es endlich nicht mehr ihr Leben beherrscht hatte.
Da war auch ein schlechtes Gewissen gegenüber Anja, die damals ihre Unterstützung hätte gebrauchen können, sie aber mit ihrer Unberechenbarkeit überfordert hatte. Und auch jetzt spürte sie eine Ahnung, dass diese alte Bekannte sie mit in den Abgrund ziehen würde, in dem sie sich mehr als ihr halbes Leben befand, sobald sie sich in ein Gespräch hineinziehen ließ, das über ein paar höfliche Floskeln hinausging.
"Hallo Marina!", begrüßte die ehemalige Mitkonfirmandin sie freundlich. "Du hast dich ja überhaupt nicht verändert. Ich habe dich sofort wiedererkannt."
"Na, das ist wohl ein bisschen übertrieben. Man sie doch deutlich, dass ich kein Teenager mehr bin."
"Ja, ein paar Falten im Gesicht, ein paar Silberfäden im Haar und schmaler bist du geworden. Aber sonst siehst du immer noch genauso aus."
"Ich hab' dich auch erkannt. Bist auch nicht fett geworden oder der vertrauten Gesichtszüge verlustig gegangen."
"Na, ein bisschen schon. Und was machst du jetzt so?"
"Ich leite eine Altentagesstätte. Und du?"
"Ich arbeite in einer Gärtnerei. Studieren ging ja nicht."
"Wieso nicht?"
"Als ich auf dem Weg zum Abitur hätte sein sollen, war ich in der Klapse und später hatte ich für den komplizierten zweiten Bildungsweg keine Kraft."
"Du warst in der Psychiatrie? Aber ich habe dich doch ab und zu mal gesehen."
"Das war ja kein Knast. Ich war auch nicht durchgehend stationär untergebracht. Das war nur in den ersten Monaten seit dem Zusammenbruch."
Marina musste schlucken. Anja hatte damals einen Suizidversuch unternommen. Sie wusste noch, wie der Pfarrer damals reagiert hatte, als sie es ihm erzählte. Ein mit versteinerter Miene hervorgestoßenes: "Aha. - Na, die war ja schon immer ziemlich durchgeknallt."
Marina war von so viel Herzenskälte zutiefst erschüttert gewesen und hatte sich gefragt, wie er wohl reagiert hätte, wenn sie mit der gleichen Verzweiflung Hand an sich gelegt hätte. Sie hatte damals betont: "Aber das ist doch wirklich schlimm. Anja wäre beinahe gestorben. Und so ein Selbstmordversuch ist doch immer ein Hilferuf."
"Ja", hatte er geantwortet, "das sagt man so. Das ändert aber nichts daran, dass sie total irre ist. So jemandem kann nur von Profis geholfen werden."
Dann hatte er entschieden das Thema gewechselt und Marina ratlos zurückgelassen.
Und jetzt stand die Anja, die sie damals nur bedauert hatte, vor ihr als Leidensgenossin, ein weiteres Opfer der Gnadenlosigkeit eines Mannes, der Hoffnung auf Verständnis geweckt und dann jede Aufmerksamkeit verweigert hatte.
"Ich habe mich damals gar nicht getraut, zu fragen, was dich so verzweifeln lassen hat.", sagte Marina.
"Das Leben.", antwortete Anja. "Da kam so Einiges zusammen. Als wir in das Dorf gezogen sind und mit dem Pastor endlich mal ein Erwachsener da war, der sich dafür interessierte, was wir Jugendlichen dachten und fühlten, da habe ich gehofft, aus dem Sumpf raus zu kommen. Zuerst war er ja auch immer nett zu mir. Einmal war ich sogar zu einem längeren Gespräch bei ihm zu Hause. Aber das nächste Mal hat er einfach nur gefragt: 'Was willst du?' Und als ich sagte, dass ich gern reden würde, hat er barsch geantwortet: 'Ich hab' jetzt keine Zeit.' und einfach die Tür zugeknallt. Das war dann immer so. Auch am Telefon. Und als ich total am Ende war, hab' ich es nochmal versucht. Ich war bei ihm zu Hause, hab' geklingelt. Er hat nicht geöffnet, aber ich konnte durchs Fenster sehen, dass er da war. Dann habe ich Sturm geklingelt. Schließlich hat er ein Fenster aufgerissen und nur geschrien: 'Wenn du nicht sofort verschwindest, rufe ich die Polizei.'
Dann bin ich durch den Regen nach Hause gelaufen, hab bis in die Nacht mit meiner Mutter geredet, aber das hat alles nicht geholfen und darum wollte ich dann doch Schluss machen."
"Meinst du, du hättest nicht...also wenn er mit dir geredet hätte?"
"Ich weiß es nicht. Es wäre vielleicht auch so dazu gekommen, aber es war so, als würdest du schon seit langem mit einem Messer im Bauch rumlaufen und dann bittest du jemanden um Hilfe und der zieht es nur ein bisschen raus und dann bittest du noch einmal und dann dreht er es um und gibt dir einen Tritt in den Hintern und lässt dich im Dreck liegen. Ich habe mich gefühlt wie ein Stück Abfall, unnütz, kaputt und mit Scheiße beschmiert."
Ja, so hatte Marina sich auch gefühlt. Nicht so drastisch, mit weniger radikalen Folgen, doch sie sträubte sich noch immer dagegen, dieses Gefühl zuzugeben. Vielleicht war sie ein bisschen gesünder geblieben als Anja und einfach nicht bereit, sich unterkriegen zu lassen.
"Und wie geht es dir heute?", fragte sie.
"Besser.", sagte Anja. "Vielleicht auch wegen der Genugtuung."
"Welche Genugtuung?"
"Meine Eltern haben dem Sup und dem Presbyterium die Hölle heiß gemacht. Sie haben verlangt, dass er gefeuert wird und nie wieder in diesem Kirchenkreis arbeiten darf. Und er musste ja gehen. Und wie ich gehört habe, ist er nicht wieder auf die Füße gekommen."
Vielleicht war es das, was Marina schon immer innerlich von Anja ferngehalten hatte: Die Erbarmungslosigkeit und die Unfähigkeit, zu vergeben.
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Freitag, 14. Mai 2021
Kriminell
c. fabry, 18:09h
Wenn der Frontmann der Freien Demokraten von Entlastung spricht und dabei aber meint, dass vor allem diejenigen entlastet werden sollen, die eh wenig zu tragen haben und es stattdessen denen aufbürdet, denen jetzt schon das Kreuz wehtut, weil sie ohnehin fast alles schultern müssen, was in einer Gesellschaft so anfällt, erfüllt das dann nicht eigentlich den Tatbestand der arglistigen Täuschung? Und wird Betrug nicht eigentlich mit Freiheitsentzug bestraft? Vielleicht betont er deshalb so beharrlich, sich für die bürgerlichen Freiheiten einzusetzen. Hat wohl Angst, was ihm blüht, wenn die Mehrheiten ausnahmsweise einmal nicht auf die notorischen Betrüger reinfallen.
Wenn ein verzweifelter Kleinganove, der ein paar mal zu oft im Leben falsch abgebogen ist, einer Oma erzählt, dass die Heizdecke, die er ihr für schmale 498,- ? verkauft, sie von ihrem Rheuma und Bluthochdruck erlöst, in Wirklichkeit aber nur an seinen eigenen Blutdruck denkt, der sich stabilisiert, weil der Deal ihm die Haut rettet und es ihm zwar leidtut, wenn die Oma demnächst in ihrem Bett verbrennt, weil die Heizdecke so schludrig verarbeitet ist, aber er kann sich eben nicht um alles kümmern und muss auch einmal an sich selbst denken, dann kann er damit rechnen, dass ein Gericht ihn dafür wegsperren lässt. Und das findet dann auch jeder richtig.
Muss nur jemand Anzeige erstatten.
Wenn ein verzweifelter Kleinganove, der ein paar mal zu oft im Leben falsch abgebogen ist, einer Oma erzählt, dass die Heizdecke, die er ihr für schmale 498,- ? verkauft, sie von ihrem Rheuma und Bluthochdruck erlöst, in Wirklichkeit aber nur an seinen eigenen Blutdruck denkt, der sich stabilisiert, weil der Deal ihm die Haut rettet und es ihm zwar leidtut, wenn die Oma demnächst in ihrem Bett verbrennt, weil die Heizdecke so schludrig verarbeitet ist, aber er kann sich eben nicht um alles kümmern und muss auch einmal an sich selbst denken, dann kann er damit rechnen, dass ein Gericht ihn dafür wegsperren lässt. Und das findet dann auch jeder richtig.
Muss nur jemand Anzeige erstatten.
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