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Freitag, 23. April 2021
Raserei
c. fabry, 12:18h
Sie hatte extra keine schwarzen Sachen angezogen. Hier war ja zunächst einmal Notfallseelsorge angesagt, kein Trauergespräch. Kirchenmausgrau und der Verzicht auf den obligatorischen bunten Seidenschal mussten reichen. Sie hatte die Kleidung wie eine Rüstung angelegt, um sich gegen die Angriffe auf ihre Seele zu wappnen, denn die standen unweigerlich bevor, in einer solchen Situation. Gedeckt, dezent und bieder - das war nicht sie und darum konnte sie auch nicht verletzt werden. Zumindest bestand darin der Plan.
Der Vorgarten war ungepflegt oder eher verwahrlost. Vor ihrem inneren Auge entstanden Bilder von aufgedunsenen, nach billigem Tabak und Schnaps stinkenden Erwachsenen mit Trauerkloßmienen in bequemer Discounter-Kleidung umgeben von ungewaschenen, verhaltensauffälligen Kindern inmitten von halbvollen und leer getrunkenen Flaschen, Pizzakartons, Chipstüten. Sie atmete tief durch. Und wenn schon, dachte sie, die brauchen erst recht meine Hilfe.
Ein Polizeibeamter öffnete die Tür. Sie blickte in eine lieblos eingerichtete Wohnung, allerdings nicht in ein prekäres Chaos. Stattdessen wurde sie von einem gepflegten, schwanzwedelnden Mischlingshund begrüßt, die Umgebung wirkte sauber und wohlgeordnet. Es gab eben Menschen, die hielten sich nicht mit Dekoration auf. Im Wohnzimmer stieß sie auf zwei erwachsene Häufchen Elend, die blass, zitternd und mit roten Augen auf dem Sofa saßen und sich aneinander festhielten. Sie kannte die Familie bisher nicht und fragte einen der anwesenden Polizeibeamten im Flüsterton: ?Wo sind die anderen Kinder??
"Gibt keine.", erwiderte der Beamte. "Die Spurensicherung im Kinderzimmer ist noch nicht abgeschlossen, das heißt, die Kleine liegt da noch und die Große wurde bereits in eine Einrichtung verbracht."
Sie war so dankbar, dass er nicht von Opfer und Täterin gesprochen hatte. Die Große war auch nicht wirklich groß, gerade mal elf Jahre alt.
Sie stellte sich vor. "Darf ich hier auf dem Sessel Platz nehmen?", fragte sie höflich.
Die Eltern nickten. Sie hätte fragen können, was passiert war, aber sie wusste es bereits, die Elfjährige hatte der Fünfjährigen den Schädel zertrümmert. Die Eltern hatten das alles bereits der Polizei erzählt und jede Wiederholung des Berichts würde sich anfühlen, als drehe ihnen jemand das Messer in der Wunde um.
Das Kind, das noch lebte, war vorerst versorgt. Niemand wusste, wie es zu dieser unfassbaren Gewalttat gekommen war und es war auch nicht ihre Aufgabe, das herauszufinden. Sie musste helfen, die Eltern emotional zu stabilisieren, damit sie dieses Drama überlebten und zu gegebener Zeit wieder voll uns ganz für ihre Tochter da sein konnten. Sie musste jetzt da sitzen und darauf warten, dass einer von beiden von sich aus etwas sagte.
"Warum hat sie das nur gemacht?" flüsterte der Vater mit brüchiger Stimme.
"Sie war so wütend in letzter Zeit.", sagte die Mutter. "Alles ging ihr auf die Nerven. Ihr fehlte der Ausgleich. Sie konnte sich nicht mit ihren Freundinnen treffen, die hatten alle eine andere beste Freundin, die sie für die Eins-zu-Eins-Treffen ausgesucht hatten. Zum Stall durfte sie auch nicht mehr. Sie war ja praktisch nur noch im Haus.?
"Zum Stall?", fragte die Seelsorgerin. "Hat sie eine Reitbeteiligung?"
"So etwas ähnliches. Ein kleiner Hof, die ein paar Pferde halten und Kindern für schmales Geld die Möglichkeit geben, mit den Tieren zusammen zu sein. Keine Reitpferde, nur Shetland-Ponys. Aber die Besitzerin gehört zur Corona-Risiko-Gruppe, hat aber noch keinen Impftermin. Zwischendurch sah sie das etwas lockerer, sind ja immer alle draußen, aber seitdem die Zahlen wieder steigen, hat sie auf die Bremse getreten. Lilly war praktisch täglich bei den Tieren und jetzt hat sie nur Lernstoff, Videokonferenzen und das Haus.?
In diesem Haus würde ich auch aggressiv werden, dachte die Pfarrerin. Hier gibt es einfach nichts Schönes. Außer vielleicht den Hund.
"Konnte sie nicht mal mit dem Hund raus gehen?"
"In dieser Gegend?", die Mutter sah sie an, als habe sie vorgeschlagen, Kinder nachts in den Stadtpark zu schicken. "Wir würden sie nicht einmal allein in den Garten lassen, nachher erregen sie noch die Aufmerksamkeit eines Kinderschänders."
Die Pfarrerin fragte sich, ob sie nicht gelegentlich Ausflüge unternommen hatten, befürchtete aber, das könne nach einem Vorwurf klingen. Darum schwieg sie.
"Sie hat auch ihre Musik.", sagte der Vater.
"Das ist wohl eher dein Projekt.", fuhr die Mutter ihn an.
"Lilly spielt Klarinette.", erklärte der Vater. "Wir sind beide selbst Musiker, das heißt, ich bin eher Musiklehrer und meine Frau spielt im Orchester."
"Aber dann hat sie doch eine schöne Ablenkung."
"Als Ventil hat es aber offenkundig nicht gereicht.", erklärte die Mutter. "Wir hätten etwas unternehmen müssen, als sie immer wieder ausflippte."
"Wie ist sie denn ausgeflippt?"
"Sie warf mit Sachen um sich, brüllte aus Leibeskräften, stieß Schimpfwörter aus, stampfte auf den Boden, knallte die Türen, weil die kleine Schwester sie beim Lesen störte, weil ich ihre Schulsachen irgendwo hin gelegt hatte, wo sie sie nicht wieder fand, weil eine der wenigen Freundinnen ein Treffen absagte. Aber wir haben ihr nicht geholfen, sie nur zurechtgewiesen, als wäre sie eine Erwachsene."
"Was sollten wir auch tun?", fragte der Vater. "Selbst wenn wir uns therapeutische Hilfe geholt hätten, bis ein Platz frei gewesen wäre, wäre das alles trotzdem längst passiert."
"Es hilft niemandem, wenn Sie sich jetzt Vorwürfe machen.", erklärte die Theologin. "Sie müssen nicht die Schuld auf sich nehmen. Das hilft Ihnen nicht, weil sie am Ende daran zerbrechen, das hilft ihrer zornigen Tochter nicht, denn die braucht Eltern, die sie lieben und die Kraft haben, für sie da zu sein, und das rettet auch ihre kleine Tochter nicht."
Die Mutter begann herzerweichend zu weinen, die Pfarrerin konnte es kaum ertragen; vor allem ,weil sie fast nichts tun konnte außer zuzuhören und auszuhalten. Und das war schon fast zu viel.
Der Vorgarten war ungepflegt oder eher verwahrlost. Vor ihrem inneren Auge entstanden Bilder von aufgedunsenen, nach billigem Tabak und Schnaps stinkenden Erwachsenen mit Trauerkloßmienen in bequemer Discounter-Kleidung umgeben von ungewaschenen, verhaltensauffälligen Kindern inmitten von halbvollen und leer getrunkenen Flaschen, Pizzakartons, Chipstüten. Sie atmete tief durch. Und wenn schon, dachte sie, die brauchen erst recht meine Hilfe.
Ein Polizeibeamter öffnete die Tür. Sie blickte in eine lieblos eingerichtete Wohnung, allerdings nicht in ein prekäres Chaos. Stattdessen wurde sie von einem gepflegten, schwanzwedelnden Mischlingshund begrüßt, die Umgebung wirkte sauber und wohlgeordnet. Es gab eben Menschen, die hielten sich nicht mit Dekoration auf. Im Wohnzimmer stieß sie auf zwei erwachsene Häufchen Elend, die blass, zitternd und mit roten Augen auf dem Sofa saßen und sich aneinander festhielten. Sie kannte die Familie bisher nicht und fragte einen der anwesenden Polizeibeamten im Flüsterton: ?Wo sind die anderen Kinder??
"Gibt keine.", erwiderte der Beamte. "Die Spurensicherung im Kinderzimmer ist noch nicht abgeschlossen, das heißt, die Kleine liegt da noch und die Große wurde bereits in eine Einrichtung verbracht."
Sie war so dankbar, dass er nicht von Opfer und Täterin gesprochen hatte. Die Große war auch nicht wirklich groß, gerade mal elf Jahre alt.
Sie stellte sich vor. "Darf ich hier auf dem Sessel Platz nehmen?", fragte sie höflich.
Die Eltern nickten. Sie hätte fragen können, was passiert war, aber sie wusste es bereits, die Elfjährige hatte der Fünfjährigen den Schädel zertrümmert. Die Eltern hatten das alles bereits der Polizei erzählt und jede Wiederholung des Berichts würde sich anfühlen, als drehe ihnen jemand das Messer in der Wunde um.
Das Kind, das noch lebte, war vorerst versorgt. Niemand wusste, wie es zu dieser unfassbaren Gewalttat gekommen war und es war auch nicht ihre Aufgabe, das herauszufinden. Sie musste helfen, die Eltern emotional zu stabilisieren, damit sie dieses Drama überlebten und zu gegebener Zeit wieder voll uns ganz für ihre Tochter da sein konnten. Sie musste jetzt da sitzen und darauf warten, dass einer von beiden von sich aus etwas sagte.
"Warum hat sie das nur gemacht?" flüsterte der Vater mit brüchiger Stimme.
"Sie war so wütend in letzter Zeit.", sagte die Mutter. "Alles ging ihr auf die Nerven. Ihr fehlte der Ausgleich. Sie konnte sich nicht mit ihren Freundinnen treffen, die hatten alle eine andere beste Freundin, die sie für die Eins-zu-Eins-Treffen ausgesucht hatten. Zum Stall durfte sie auch nicht mehr. Sie war ja praktisch nur noch im Haus.?
"Zum Stall?", fragte die Seelsorgerin. "Hat sie eine Reitbeteiligung?"
"So etwas ähnliches. Ein kleiner Hof, die ein paar Pferde halten und Kindern für schmales Geld die Möglichkeit geben, mit den Tieren zusammen zu sein. Keine Reitpferde, nur Shetland-Ponys. Aber die Besitzerin gehört zur Corona-Risiko-Gruppe, hat aber noch keinen Impftermin. Zwischendurch sah sie das etwas lockerer, sind ja immer alle draußen, aber seitdem die Zahlen wieder steigen, hat sie auf die Bremse getreten. Lilly war praktisch täglich bei den Tieren und jetzt hat sie nur Lernstoff, Videokonferenzen und das Haus.?
In diesem Haus würde ich auch aggressiv werden, dachte die Pfarrerin. Hier gibt es einfach nichts Schönes. Außer vielleicht den Hund.
"Konnte sie nicht mal mit dem Hund raus gehen?"
"In dieser Gegend?", die Mutter sah sie an, als habe sie vorgeschlagen, Kinder nachts in den Stadtpark zu schicken. "Wir würden sie nicht einmal allein in den Garten lassen, nachher erregen sie noch die Aufmerksamkeit eines Kinderschänders."
Die Pfarrerin fragte sich, ob sie nicht gelegentlich Ausflüge unternommen hatten, befürchtete aber, das könne nach einem Vorwurf klingen. Darum schwieg sie.
"Sie hat auch ihre Musik.", sagte der Vater.
"Das ist wohl eher dein Projekt.", fuhr die Mutter ihn an.
"Lilly spielt Klarinette.", erklärte der Vater. "Wir sind beide selbst Musiker, das heißt, ich bin eher Musiklehrer und meine Frau spielt im Orchester."
"Aber dann hat sie doch eine schöne Ablenkung."
"Als Ventil hat es aber offenkundig nicht gereicht.", erklärte die Mutter. "Wir hätten etwas unternehmen müssen, als sie immer wieder ausflippte."
"Wie ist sie denn ausgeflippt?"
"Sie warf mit Sachen um sich, brüllte aus Leibeskräften, stieß Schimpfwörter aus, stampfte auf den Boden, knallte die Türen, weil die kleine Schwester sie beim Lesen störte, weil ich ihre Schulsachen irgendwo hin gelegt hatte, wo sie sie nicht wieder fand, weil eine der wenigen Freundinnen ein Treffen absagte. Aber wir haben ihr nicht geholfen, sie nur zurechtgewiesen, als wäre sie eine Erwachsene."
"Was sollten wir auch tun?", fragte der Vater. "Selbst wenn wir uns therapeutische Hilfe geholt hätten, bis ein Platz frei gewesen wäre, wäre das alles trotzdem längst passiert."
"Es hilft niemandem, wenn Sie sich jetzt Vorwürfe machen.", erklärte die Theologin. "Sie müssen nicht die Schuld auf sich nehmen. Das hilft Ihnen nicht, weil sie am Ende daran zerbrechen, das hilft ihrer zornigen Tochter nicht, denn die braucht Eltern, die sie lieben und die Kraft haben, für sie da zu sein, und das rettet auch ihre kleine Tochter nicht."
Die Mutter begann herzerweichend zu weinen, die Pfarrerin konnte es kaum ertragen; vor allem ,weil sie fast nichts tun konnte außer zuzuhören und auszuhalten. Und das war schon fast zu viel.
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Freitag, 16. April 2021
Vier Teile - 4. Das Danach
c. fabry, 13:18h
Kerkenbrock hätte heulen können. So ein Massaker hatte sie noch nie angetroffen. Vielleicht mal zwei Verstorbene, Serien, grausame Morde mit unappetitlichen Details. Aber gleich fünf Leichen, allesamt zerhackt, zerstochen oder zerschmettert, überall Blut und dazu dieser Geruch, der sich durch die Wärme des täglich erstarkenden Frühlings stündlich intensivierte.
Die Beamten vor Ort hatten bereits gute Arbeit geleistet. Nicht nur die Spurensicherung steckte mitten in der Arbeit, auch die Kolleginnen und Kollegen, die alles aufnahmen und dokumentierten, hatten bereits ermittelt, um wen es sich bei den Verstorbenen handelte. Gemeindepfarrerin und Gemeindepfarrer, Kirchmeister und Jugendpresbyterin und schließlich die Jugendreferentin. Eine Zeugin hatte beobachtet, wie kurz vor dem Auffinden der Toten die Verwaltungsfachkraft das Gemeindebüro eilig verlassen hatte. Die Fahndung lief bereits.
Der Kirchmeister und die Pfarrerin waren durch heftige Stichwunden verblutet, die Tatwaffe lag am Boden. Jugendpresbyterin und Pfarrer dagegen waren brutal erschlagen worden, mit einer Menorah, die wohl bis dahin unschuldig im Regal gestanden hatte. Im Vorraum lag der zerschmetterte Körper der Jugendreferentin, die offensichtlich über die Brüstung des Obergeschosses gestürzt war.
"Ich glaube, die Sekretärin scheidet als Tatverdächtige aus.", erklärte die Kommissarin. "Wir haben es hier offensichtlich mit einem erweiterten Suzid zu tun, beziehungsweise einem Totschlag im Affekt mit anschließender Selbsttötung.
Als Sabine Kerkenbrock später mit der völlig aufgelösten Hella den Vormittag Revue passieren ließ, bestätigte sich ihre Vermutung.
Die Mitarbeiterin hatte das Gemeindebüro so eilig verlassen, weil sie ihren Sohn aus der Kita abholen musste. Die Tat hatte sich offenkundig wenig später ereignet, denn die Jugendreferentin war zu diesem Zeitpunkt noch nicht zurückgekehrt. Offensichtlich hatten die Opfer gerade über ihre berufliche Zukunft diskutiert, also darüber, sich ihrer zu entledigen, um ihre Stelle einzusparen. Sie war in letzter Zeit besonders reizbar gewesen und hatte vielleicht zufällig mitangehört, was man plante, ihr anzutun. Sie hatte die Kontrolle verloren und alle vier in blinder Wut getötet. Zunächst mit einem Messer, das sie spontan aus der Küche geholt hatte und als die anderen beiden ihr nach der anfänglichen Schockstarre das Messer entwanden, hatte sie nach der Menorah im Regal gegriffen und so brutal um sich geschlagen, dass sie sie nicht zu bändigen vermochten. Angesichts der Folgen hatte sie schließlich selbst ihrem Leben ein Ende gesetzt.
"Nur eins verstehe ich nicht.", sagte Kerkenbrock. "Dass die Entrechteten sich niemals Hilfe holen."
Die Beamten vor Ort hatten bereits gute Arbeit geleistet. Nicht nur die Spurensicherung steckte mitten in der Arbeit, auch die Kolleginnen und Kollegen, die alles aufnahmen und dokumentierten, hatten bereits ermittelt, um wen es sich bei den Verstorbenen handelte. Gemeindepfarrerin und Gemeindepfarrer, Kirchmeister und Jugendpresbyterin und schließlich die Jugendreferentin. Eine Zeugin hatte beobachtet, wie kurz vor dem Auffinden der Toten die Verwaltungsfachkraft das Gemeindebüro eilig verlassen hatte. Die Fahndung lief bereits.
Der Kirchmeister und die Pfarrerin waren durch heftige Stichwunden verblutet, die Tatwaffe lag am Boden. Jugendpresbyterin und Pfarrer dagegen waren brutal erschlagen worden, mit einer Menorah, die wohl bis dahin unschuldig im Regal gestanden hatte. Im Vorraum lag der zerschmetterte Körper der Jugendreferentin, die offensichtlich über die Brüstung des Obergeschosses gestürzt war.
"Ich glaube, die Sekretärin scheidet als Tatverdächtige aus.", erklärte die Kommissarin. "Wir haben es hier offensichtlich mit einem erweiterten Suzid zu tun, beziehungsweise einem Totschlag im Affekt mit anschließender Selbsttötung.
Als Sabine Kerkenbrock später mit der völlig aufgelösten Hella den Vormittag Revue passieren ließ, bestätigte sich ihre Vermutung.
Die Mitarbeiterin hatte das Gemeindebüro so eilig verlassen, weil sie ihren Sohn aus der Kita abholen musste. Die Tat hatte sich offenkundig wenig später ereignet, denn die Jugendreferentin war zu diesem Zeitpunkt noch nicht zurückgekehrt. Offensichtlich hatten die Opfer gerade über ihre berufliche Zukunft diskutiert, also darüber, sich ihrer zu entledigen, um ihre Stelle einzusparen. Sie war in letzter Zeit besonders reizbar gewesen und hatte vielleicht zufällig mitangehört, was man plante, ihr anzutun. Sie hatte die Kontrolle verloren und alle vier in blinder Wut getötet. Zunächst mit einem Messer, das sie spontan aus der Küche geholt hatte und als die anderen beiden ihr nach der anfänglichen Schockstarre das Messer entwanden, hatte sie nach der Menorah im Regal gegriffen und so brutal um sich geschlagen, dass sie sie nicht zu bändigen vermochten. Angesichts der Folgen hatte sie schließlich selbst ihrem Leben ein Ende gesetzt.
"Nur eins verstehe ich nicht.", sagte Kerkenbrock. "Dass die Entrechteten sich niemals Hilfe holen."
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Freitag, 9. April 2021
Vier Teile - 3. Das Davor
c. fabry, 13:15h
Veronika war immer eines von den netten Mädchen gewesen. Eine, die immer tat, was man ihr sagte, jedem die Hand gab und alle anlächelte. Doch für Gleichaltrige ist nett irgendwann die kleine Schwester von Scheiße. Und so sehr Veronika sich die Anerkennung der anderen wünschte, so stand ihr ihre Freundlichkeit und Anpassungsbereitschaft dabei nur im Wege.
Sie ging durch sieben Höllen, ertrug sexualisierte Übergriffe unästhetisch alternder Männer, steckte Spott und Häme Gleichaltriger ein wie ein tägliches Taschengeld, bemühte sich vergeblich um die Anerkennung ihrer Lehrerinnen und Lehrer, strebte nach Höherem und landete doch immer wieder nur in der Mittelmäßigkeit. So sehr sie sich auch abmühte, nie war sie gut genug, geschweige denn beeindruckend. Ihr Vater hatte nicht das geringste Interesse an dem, was sie tat oder was sie bewegte, ihrer Mutter hatte ständig etwas an ihr auszusetzen und die älteren Geschwister nahmen ihr alles aus der Hand, was sie anfing, weil sie zu jung, zu ungeschickt zu unerfahren dafür sei.
Erst in ihrem Ehrenamt in der Evangelischen Jugend erlebte Veronika Wertschätzung und das Gefühl, Teil von etwas zu sein, das lohnenswert war, wo sie sich zeigen konnte, wo sie das Richtige tat.
Doch der Richtungswechsel in den Erfahrungen mit sozialen Kontakten weckte große Erwartungen in ihr. Viel zu große Erwartungen. Und so wurde sie wieder enttäuscht, hatte erneut das Gefühl, zu den Seltsamen zu gehören, den Unerwünschten, den Lästigen. Dieses Stigma würde sie ihr Leben lang nicht loswerden, auch nicht, als sie endlich für sich geklärt hatte, wohin die berufliche Reise gehen sollte, als sie spürte, dass die Dozenten, die sie bewunderte, ihr nichts zutrauten, die Kommiliton*innen, die sie interessant fand, ihr aus dem Weg gingen. Und wenn ihr einmal in zehn Jahren jemand begegnete, bei dem sie das Gefühl hatte, endlich anzukommen, jemanden gefunden zu haben, dem sie sich bedingungslos öffnen konnte und der auch ihr sein Vertrauen schenkte, dann fühlte sich das nur eine kleine Weile so an und schon bald wurden die Reaktionen wieder barscher, die Antworten kurz angebunden, man hielt sie auf Abstand, mindestens auf Armeslänge, die Rückrufe blieben aus, ihre E-Mails wurden gelöscht, die Anderen löschten sie aus ihrem Leben, als habe sie nie existiert.
Sie gab nie auf, kam immer wieder auf die Beine, hielt sich fest an ihrem unerschütterlichen Glauben, suchte Trost und Heilung in biblischen Worten und spirituellen Ritualen, schöpfte Kraft aus den halbwegs guten Momenten, die sie im Rückblick künstlich überhöhte, erschuf sich eine heile Welt, in die sie immer wieder zurückkehrte. Bis es nicht mehr funktionierte.
Sie ging durch sieben Höllen, ertrug sexualisierte Übergriffe unästhetisch alternder Männer, steckte Spott und Häme Gleichaltriger ein wie ein tägliches Taschengeld, bemühte sich vergeblich um die Anerkennung ihrer Lehrerinnen und Lehrer, strebte nach Höherem und landete doch immer wieder nur in der Mittelmäßigkeit. So sehr sie sich auch abmühte, nie war sie gut genug, geschweige denn beeindruckend. Ihr Vater hatte nicht das geringste Interesse an dem, was sie tat oder was sie bewegte, ihrer Mutter hatte ständig etwas an ihr auszusetzen und die älteren Geschwister nahmen ihr alles aus der Hand, was sie anfing, weil sie zu jung, zu ungeschickt zu unerfahren dafür sei.
Erst in ihrem Ehrenamt in der Evangelischen Jugend erlebte Veronika Wertschätzung und das Gefühl, Teil von etwas zu sein, das lohnenswert war, wo sie sich zeigen konnte, wo sie das Richtige tat.
Doch der Richtungswechsel in den Erfahrungen mit sozialen Kontakten weckte große Erwartungen in ihr. Viel zu große Erwartungen. Und so wurde sie wieder enttäuscht, hatte erneut das Gefühl, zu den Seltsamen zu gehören, den Unerwünschten, den Lästigen. Dieses Stigma würde sie ihr Leben lang nicht loswerden, auch nicht, als sie endlich für sich geklärt hatte, wohin die berufliche Reise gehen sollte, als sie spürte, dass die Dozenten, die sie bewunderte, ihr nichts zutrauten, die Kommiliton*innen, die sie interessant fand, ihr aus dem Weg gingen. Und wenn ihr einmal in zehn Jahren jemand begegnete, bei dem sie das Gefühl hatte, endlich anzukommen, jemanden gefunden zu haben, dem sie sich bedingungslos öffnen konnte und der auch ihr sein Vertrauen schenkte, dann fühlte sich das nur eine kleine Weile so an und schon bald wurden die Reaktionen wieder barscher, die Antworten kurz angebunden, man hielt sie auf Abstand, mindestens auf Armeslänge, die Rückrufe blieben aus, ihre E-Mails wurden gelöscht, die Anderen löschten sie aus ihrem Leben, als habe sie nie existiert.
Sie gab nie auf, kam immer wieder auf die Beine, hielt sich fest an ihrem unerschütterlichen Glauben, suchte Trost und Heilung in biblischen Worten und spirituellen Ritualen, schöpfte Kraft aus den halbwegs guten Momenten, die sie im Rückblick künstlich überhöhte, erschuf sich eine heile Welt, in die sie immer wieder zurückkehrte. Bis es nicht mehr funktionierte.
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Freitag, 2. April 2021
Vier Teile - 2. Das Außen
c. fabry, 13:30h
Wie sie schon wieder aussah! Nicht nur der desolate Zustand ihres Outfits, wo wirklich gar nichts zusammen passte. Dazu das meiste kraus, verwaschen und angeschmuddelt. Nein, auch der Gesichtsausdruck, die herabgezogenen Mundwinkel, die hektisch umherblickenden Augen, wie ein Tier, das man in die Enge getrieben hatte. Und so eine ließ man auf Kinder los. Schlimm genug, dass die Unterprivilegierten aus den prekären Verhältnissen hier zunehmend herumlungerten, wo man ständig aufpassen musste, dass die nichts mitgehen ließen und niemandem zu nahe traten, ohne sich dabei zu weit aus dem Fenster zu lehnen und sich damit den Stempel des Unsozialen einzufangen. Jesus war ja vor allem für die Entrechteten eingetreten. Wenn die Mittellosen nur nicht immer auch zu den Geistlosen und Unkultivierten gehörten, die wie Vierjährige nur um ihre eigenen Bedürfnisse kreisten - natürlich, weil sie nicht anders konnten, aber mein Gott, war das anstrengend!
Da brauchte man Mitarbeitende, die rund liefen, mit sich im Lot waren, halfen, den Laden am Laufen und zusammen zu halten. So eine Verstörte mit Altlasten und daraus resultierenden drohenden Totalausfällen, die zusätzlich ein Höchstmaß an Nächstenliebe einforderte, selbst aber nur unbrauchbares Stückwerk, lediglich Ansätze guten Willens zu bieten hatte, die machte die Arbeit unerträglich. Sie hing allen wie ein Mühlstein am Hals und hielt sich dabei selbst für die Lösung aller Probleme, für die streitbare und unbeugsame Anwältin der Kinder und Jugendlichen, für die Speerspitze der Bewegung der unerschrockenen Avantgarde. Und war doch nur eine dilettantische, dreckige Verliererin. Es mussten neue Aufgaben für sie gefunden werden; etwas, wo sie keinen Schaden anrichtete. Für unfähige Theologen gab es schließlich auch allerorten Parkplätze, warum nicht auch für pädagogische Fachkräfte, die doch nur gut die Hälfte kosteten?
"Was war denn mit Veronika los, dass die so eilig aus dem Haus gestürmt ist?", fragte Hella, während sie ganz nebenbei wie eine strickende Multitaskerin Serienbriefe eintütete.
"Ach", antwortete Sabine, "Ich habe ihr gerade erklärt, dass sie die Einladungen zu den Konfirmanden-Andachten unbedingt zum passenden Zeitpunkt raus schicken muss. Jahrelang hat sie die immer viel zu früh abgeschickt, dann hatten die Jugendlichen das schon wieder vergessen und in letzter Zeit gibt sie die immer auf den letzten Drücker in die Post, dann kommen die sehr kurzfristig oder sogar zu spät an. Ständig rufen verärgerte Eltern bei mir an."
?Bei mir auch auch.", seufzte Hella.
Henning betrat das Büro. "Was ist denn mit Veronika los?", fragte er und machte dabei große Augen. "Ich wollte etwas mit ihr wegen des neuen Konfi-Jahrgangs besprechen und sie schrie nur, das sie das schon wisse und lief weg. Dabei konnte sie gar nicht wissen, was ich ihr sagen wollte."
Sabine erklärte ihrem Kollegen die Sachlage. Er blickte betont betroffen. Etwas zu betont für Hellas Geschmack, die sich immer wieder fragte, ob sie eigentlich die Einzige war, die sich beruflich im Gemeindehaus aufhielt, ohne mit ernsthaften psychischen Problemen belastet zu sein.
Reinhard betrat das Büro. "Oh", nuschelte Sabine in ihre FFP2-Maske. "Vier sind einer zu viel, ich gehe dann mal."
"Nein.", sagte Reinhard entschieden. "Ich muss unbedingt mit Euch reden. Olivia rufe ich auch gleich an. Vielleicht können wir uns in den Saal setzen. Ich habe eben Veronika beim Einkaufen getroffen und bevor sie wieder hier auftaucht, würde ich gern mit Euch besprechen, wie wir mit unserem enger werdenden Finanzrahmen umgehen."
"Was hat das mit Veronika zu tun?", fragte Hella.
"Das", erklärte Reinhard herablassend, "wirst du spätestens erfahren, wenn du das Protokoll der nächsten Presbyteriums-Sitzung schreibst."
Jetzt ging es an Veronikas Stelle. War vielleicht nicht die schlechteste Lösung, dann musste man sich nicht mit ihr als Person auseinandersetzen, sondern konnte die Entscheidung auf die finanziellen Zwänge schieben. Sabine straffte die Schultern. Das würde unangenehm, aber sie würde es überleben.
Da brauchte man Mitarbeitende, die rund liefen, mit sich im Lot waren, halfen, den Laden am Laufen und zusammen zu halten. So eine Verstörte mit Altlasten und daraus resultierenden drohenden Totalausfällen, die zusätzlich ein Höchstmaß an Nächstenliebe einforderte, selbst aber nur unbrauchbares Stückwerk, lediglich Ansätze guten Willens zu bieten hatte, die machte die Arbeit unerträglich. Sie hing allen wie ein Mühlstein am Hals und hielt sich dabei selbst für die Lösung aller Probleme, für die streitbare und unbeugsame Anwältin der Kinder und Jugendlichen, für die Speerspitze der Bewegung der unerschrockenen Avantgarde. Und war doch nur eine dilettantische, dreckige Verliererin. Es mussten neue Aufgaben für sie gefunden werden; etwas, wo sie keinen Schaden anrichtete. Für unfähige Theologen gab es schließlich auch allerorten Parkplätze, warum nicht auch für pädagogische Fachkräfte, die doch nur gut die Hälfte kosteten?
"Was war denn mit Veronika los, dass die so eilig aus dem Haus gestürmt ist?", fragte Hella, während sie ganz nebenbei wie eine strickende Multitaskerin Serienbriefe eintütete.
"Ach", antwortete Sabine, "Ich habe ihr gerade erklärt, dass sie die Einladungen zu den Konfirmanden-Andachten unbedingt zum passenden Zeitpunkt raus schicken muss. Jahrelang hat sie die immer viel zu früh abgeschickt, dann hatten die Jugendlichen das schon wieder vergessen und in letzter Zeit gibt sie die immer auf den letzten Drücker in die Post, dann kommen die sehr kurzfristig oder sogar zu spät an. Ständig rufen verärgerte Eltern bei mir an."
?Bei mir auch auch.", seufzte Hella.
Henning betrat das Büro. "Was ist denn mit Veronika los?", fragte er und machte dabei große Augen. "Ich wollte etwas mit ihr wegen des neuen Konfi-Jahrgangs besprechen und sie schrie nur, das sie das schon wisse und lief weg. Dabei konnte sie gar nicht wissen, was ich ihr sagen wollte."
Sabine erklärte ihrem Kollegen die Sachlage. Er blickte betont betroffen. Etwas zu betont für Hellas Geschmack, die sich immer wieder fragte, ob sie eigentlich die Einzige war, die sich beruflich im Gemeindehaus aufhielt, ohne mit ernsthaften psychischen Problemen belastet zu sein.
Reinhard betrat das Büro. "Oh", nuschelte Sabine in ihre FFP2-Maske. "Vier sind einer zu viel, ich gehe dann mal."
"Nein.", sagte Reinhard entschieden. "Ich muss unbedingt mit Euch reden. Olivia rufe ich auch gleich an. Vielleicht können wir uns in den Saal setzen. Ich habe eben Veronika beim Einkaufen getroffen und bevor sie wieder hier auftaucht, würde ich gern mit Euch besprechen, wie wir mit unserem enger werdenden Finanzrahmen umgehen."
"Was hat das mit Veronika zu tun?", fragte Hella.
"Das", erklärte Reinhard herablassend, "wirst du spätestens erfahren, wenn du das Protokoll der nächsten Presbyteriums-Sitzung schreibst."
Jetzt ging es an Veronikas Stelle. War vielleicht nicht die schlechteste Lösung, dann musste man sich nicht mit ihr als Person auseinandersetzen, sondern konnte die Entscheidung auf die finanziellen Zwänge schieben. Sabine straffte die Schultern. Das würde unangenehm, aber sie würde es überleben.
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