Freitag, 11. Dezember 2020
Videokonferenz mit Katze
War das zu glauben? Die Katze die bei dem einen Kollegen aus dem Bild gelaufen war, war bei der anderen Kollegin wieder aufgetaucht. Warum mir solche Details auffielen? Weil das Thema gerade mal wieder komplett an mir vorbeiging. Alle warfen mit von Konzernen erfundenen Pseudo-Fachtermini um sich und fühlten sich unglaublich professionell. Nervnasen. Mich interessierte das Leben. Das echte Leben. Und schon war ich mit den Gedanken woanders und raus.

Die Katzen meiner Mutter waren Meisterinnen des sozial verträglichen Ablebens: bevor sie altersbedingt horrende Tierarztkosten verursachten, warfen sie sich vors Auto, vor den Trecker oder unter den Hund. War auch kein Problem, gab immer wieder Nachschub. Meine Mutter wollte keine Katzen, aber sie zog sie magisch an, wie eine Wurzelfrau. Die Viecher rückten ihr auf die Pelle, mauzten herzzerreißend, bis sie sich ihrer erbarmte und ihnen eine Kleinigkeit zu essen reichte. Dann blieben sie. Nisteten sich ein. Zuerst durften sie ausschließlich im Fahrradschuppen residieren, dann kam das Futter regelmäßiger, dann durften sie auch mal für einen Moment ins Haus kommen, dann wurde doch anständiges Trockenfutter angeschafft, der alte abgeschnittene Eimer durch zwei ordentliche Tröge ersetzt – einer für die Brekkies, einer für das Wasser – und dann wurde es Winter und ach im ersten Jahr gab es dann eine ausgepolsterte Kiste im Fahrradschuppen, im zweiten Jahr durfte die Katze in den besonders kalten Nächten ins Haus. Das Katzenklo war auch längst angeschafft.
Dann, nach ein paar Jahren, suizidierte sich die Mieze oder verschwand spurlos. „Ich will keine neue Katze.“, sage meine Mutter täglich. Wie ein Mantra wiederholte sie es. Und wir wussten alle: es würde kein Jahr vergehen, bis der nächste Tiger sich in ihr Leben schlich.

„Heike, kannst Du noch einmal was zu Deinen Erfahrungen mit dem Kinderprogramm berichten?“
Ich zuckte zusammen. Was wollten sie hören? Meine ersten digitalen Gehversuche oder die analogen Alternativen? Da sie aber gerade noch in masturbatorischer Hingabe über diverse „tools“ schwadroniert hatten - diese Anglizismus-Fetischisten, konnten die nicht einfach Werkzeug sagen? - vermutete ich, dass es um meine Jungschar-Videokonferenzen ging. Also pokerte ich und erklärte: „Ich habe hier ja eine behütete, kleinbürgerliche Zielgruppe, wo die Eltern sich hingebungsvoll engagieren und ihren Kindern alles ermöglichen. Die sorgen dann dafür, dass die Kurzen zur passenden Zeit vor dem Laptop sitzen und eingewählt sind. Ich mache nur eine Stunde Programm, das reicht vollkommen und dann lasse ich erst einmal alle von sich erzählen, was sie gerade so loswerden wollen, da gibt es auch immer einen großen Bedarf, dann mache ich was mit Bewegung, zum Beispiel das Kaufhausspiel, wo man möglichst schnell einen bestimmten Gegenstand herbeischaffen muss, dann ein Ratespiel oder eben eine Basteleinheit, das Material habe ich den Kindern vorher persönlich vorbei gebracht und zum Schluss singe ich was vor oder lasse einzelne Kinder abwechselnd singen oder lese eine kurze Geschichte vor.“
Unbeeindrucktes Schweigen. Was zu erwarten war. Ich nutzte ja nur die Webcam. Na gut, auch das Whiteboard und den Chat, aber davon berichtete ich nicht, das war mir zu blöd. Ich schaltete mich stumm und entdeckte die Katze erneut. Aber die Kollegin fehlte. Ein Raunen tönte aus dem Computer. „Wo ist denn Lisa hin?“ Eckhart kicherte: „Ich glaube Lisa ist ‘ne Hexe und hat sich in eine Katze verwandelt.“
„Ein Animagus.“, präzisierte Oliver.
Die Katze sprang vom Stuhl.
„Lisa hat keinen Bock mehr.“, sagte Alex trocken.
Erst jetzt fiel mir auf, dass Henning vollkommen reglos vor dem Bildschirm saß, als wäre er eine Wachsfigur. Dann wurde der Bildschirm kurz schwarz, danach war er zurück.
„Sorry“, sagte Henning, die Verbindung ist instabil, ich war kurz eingefroren, hab‘ mich noch mal neu eingewählt.“

Die Katze sprang auf Hennings Schoß.
„Hallo Lisa:“, sagte Alex und kicherte. Henning zuckte zusammen. Da wusste ich was passiert war.

Ihr auch?

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Freitag, 4. Dezember 2020
Ungelebtes Leben – oder ein Motiv
Ich wollte immer ganz viel Nähe
doch ich bekam nur einen Hauch
und dort wo ich sogar
auf der Flucht vor ihm war
holte er mich ein
nahm mir die Luft zum Atmen
versetzte mich in Todesangst
erstickte meine Wut
wurde zu Schlamm
zu Stein
zu Eisen

Der Hauch dessen
wonach ich mich sehnte
zog vorbei
ließ mich zurück
hinter Gittern
begraben unter Steinen
unter Schlamm
unter Gestank

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Freitag, 27. November 2020
Im freien Fall
Lustige Vögel waren das. Raimund war mal wieder aus ihrem Blickfeld entschwunden. Er entzog sich, wo er nur konnte, war nicht fassbar, entglitt ihr ständig wie ein glitschiger Fisch, auch wenn dieses Bild sich kaum mit ihrer Wahrnehmung deckte, denn eigentlich war er sanft, ruhig, warm, trocken und eher drahtig und knochig als wirbellos und fleischig. Auch seine Bewegungen waren viel zu eckig für so ein Wassertier. Und sie hatte so große Sehnsucht, aber er war nicht da. Als wenn er längst alles ahnte und genau darum vor ihr zurückwich. War ja auch nicht ausgeschlossen.
Also, was soll‘s, dachte sie, er legt ja ohnehin keinen Wert auf mich, die Arbeit für heute ist getan, kann ich auch mit den lustigen Leuten losziehen.
Ja, sie waren lustig und freundlich, aber sie blieben alle seltsam fremd. Später kannte sie keinen einzigen Namen, nicht einmal den Namen des jungen Mannes, der neben ihr auf der Matratze lag. Als seine Hände immer unbeirrbarer über ihren Körper fuhren, wurde ihr bewusst, dass sie nicht einmal sein Gesicht kannte. Jetzt war es dunkel und sie konnte nicht nachsehen. Welcher von den hübschen Modellen war es denn? Sie ließ es einfach geschehen, war zu müde, um aktiv zu werden, in welcher Form auch immer. Zu müde, seine Zärtlichkeiten zu erwidern, aber auch zu müde, ihn zurückzuweisen. Eine leise Reue meldete sich. Dies würde sicher der Todesstoß. In jeglicher Hinsicht.

In der Nacht hatte er sie noch gewarnt, dass sie bloß nicht verschlafen solle. Sicher nicht, hatte sie erwidert. Wie sollte sie in so einer großen Gruppe verschlafen?
Jetzt war es schon fünf vor acht, kaum noch Zeit bis zum Frühstück. Fünf Minuten, um zurückzufinden, zu duschen, ach und dann bemerkte sie, dass nicht nur ihr Bettnachbar der letzten Nacht spurlos verschwunden war, alle rannten aufgeregt umher, niemand schien sie auch nur wahrzunehmen und nebenbei stand da dieses alte, aufpolierte Auto mit offenem Motorblock und überall klebte diese hellgraubraune Masse und sie konnte es nicht erklären, aber sie wusste, dass sie dafür verantwortlich war und erst alles sauber machen musste, bevor sie den Raum verließ.
Sie beeilte sich, aber als sie mit dem Putzen fertig war, war es schon fünf nach acht. Verdammt, sie käme zu spät, was hinterließ das für einen Eindruck bei Raimund? Er würde sie noch mehr verachten, als er es ohnehin schon tat, erst recht, wenn herauskam, dass sie die Nacht woanders verbracht hatte.Wie hatte sie nur so verantwortungslos handeln können? Wenn nun in der Zwischenzeit etwas passiert war und sie war nicht da gewesen?
Sie lief die emsig belebten Treppen hinunter. Schaffte sie noch eine schnelle Dusche wenigstens bis zur Abfahrt? Das Frühstück hatte sie schon abgeschrieben, schlechter Eindruck hin oder her. Und dann ging es irgendwie nicht mehr weiter. Schnitt.

Eine Flutwelle schoss über das Feld. Das Wasser kam bedenklich nahe. Es war ja schon eigentlich immer ihr Traum gewesen, am Meer zu leben oder wenigstens an einem idyllischen See, aber das hier war nicht idyllisch, zu gewaltig für das Landrattengebiet, wie eine Fotomontage wirkten die herein rollenden Wellen, denn schon kam die nächste und eine schwarze, undurchsichtige Brühe rollte über den Garten. Der Garten war nur noch ein einziger Teich. Ob die Hühner sich wenigstens hatten retten können? Und wie sah es an der anderen Seite des Hauses aus? Aus der Richtung kam ja das Wasser, war es durch Tür- und Fensterritzen gedrungen? Mussten sie demnächst den ganzen Fußboden herausreißen?
Auf dem Hof stand es knöchelhoch, doch ins Haus war nichts eingedrungen. Nur den Laptop musste sie schnell in Sicherheit bringen. Er stand zwar schon im Wasser, war aber in einer stabilen Tasche verpackt. Wieso hatte sie ihn auch hier stehen lassen? Es würde Ärger geben, wenn etwas damit passiert war.


Durst, Harndrang, Kopfweh, Rückenschmerzen und trübes Novemberlicht in den sich nur widerwillig öffnenden Augen. Scheißtraum, beschissener, dachte sie. Was soll mir das nun wieder sagen?
Von Raimund hatte sie schon länger nichts gehört und ihr schwante, dass das auch vorläufig so bleiben würde. War vielleicht auch besser so. Ob sie wirklich Gefahr lief, ihn mit einem „Jungspund“ zu „betrügen“? So ein Blödsinn, kein junger Mann, der ihr Sohn sein könnte, würde ihr Avancen machen und sie legte auch keinen Wert darauf, sie hatte sich noch nie nach makellosen, straffen, jugendlichen Körpern gesehnt, außer danach selbst in einem solchen Körper zu leben.

Das Telefon klingelte. Jemand atmete schwer. Dann keuchte eine verstellte Stimme: „Wir wissen, dass du ihn dir reinziehst. Bald wissen es alle.“
Dann wurde aufgelegt. Was war das denn? Wen zog sie sich rein und wer glaubte, davon zu wissen? Sicher ein minderbemittelter Konfirmand im körpereigenen Testosteronrausch. Teenager phantasierten sich gern amouröse Abenteuer ihrer Betreuungspersonen zusammen. Unverschriftlichte Fanfiction sozusagen.

Am Nachmittag fuhr sie auf den Parkplatz. Irgendetwas war anders. Ein Plakat in etwa hundertfacher Ausführung klebte überall: Am Schaukasten, auf den Türen, in den Fenstern, an den Wänden… Sie hatte die Brille noch in der Tasche, sollte sie eigentlich zum Autofahren tragen, hatte es aber vergessen. Sie öffnete das Etui, entnahm die Sehhilfe und nahm die Plakate in Augenschein.

Das Foto war keine Fälschung, aber es erweckte einen falschen Eindruck und sie wusste, ihre Zeit hier war um.

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Freitag, 20. November 2020
Macht
"Ich mach euch alle kaputt.“, brüllte Berti und jetzt bekam sogar Ruben Angst, den doch so leicht nichts aus der Bahn bringen konnte, der noch mit jedem noch so verhaltensauffälligen Kind zurechtgekommen war. Aber Berti war nur noch die wütende Rache. Doch wofür?
Berti hatte neue Spielregeln beim Schrubberhockey eingefordert. Solche, die seine persönlichen Gewinnchancen erhöhten. Er war schnell in der Bewegung, stark und hemmungslos, wenn es darum ging, einen Gegner außer Gefecht zu setzen. Aber wenn er erst eine Rechenaufgabe lösen musste, um herauszufinden, ob er gerade dran war oder ein Junge mit einer anderen Nummer, dann war er rettungslos unterlegen. Das fand er ungerecht. Und darum tobte er. Er tobte nicht zum ersten Mal. Immer, wenn es nicht in seinem Sinne lief, probte er den Aufstand. Manchmal kam er sogar damit durch. Diesmal nicht. Sie hatten ihn einfach überstimmt. Das würden sie teuer bezahlen.
Berti schnappte sich den Schrubber und begann, auf Dominik einzudreschen. Genauer gesagt auf Dominiks Kopf. Ruben war paralysiert – Angst, Überraschung, Entsetzen und Hilflosigkeit rangen in ihm um die Vorherrschaft, Mut und Phantasie hatten sich in die Dunkelheit zurückgezogen.
Ben zog schließlich die Notbremse. Er zertrümmerte einen Stuhl auf Bertis Schädel. Berti machte nichts mehr kaputt. Nie mehr. Aber das, was er zerstört hatte, reichte auch für mehr als ein Leben.

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