Freitag, 27. November 2020
Im freien Fall
Lustige Vögel waren das. Raimund war mal wieder aus ihrem Blickfeld entschwunden. Er entzog sich, wo er nur konnte, war nicht fassbar, entglitt ihr ständig wie ein glitschiger Fisch, auch wenn dieses Bild sich kaum mit ihrer Wahrnehmung deckte, denn eigentlich war er sanft, ruhig, warm, trocken und eher drahtig und knochig als wirbellos und fleischig. Auch seine Bewegungen waren viel zu eckig für so ein Wassertier. Und sie hatte so große Sehnsucht, aber er war nicht da. Als wenn er längst alles ahnte und genau darum vor ihr zurückwich. War ja auch nicht ausgeschlossen.
Also, was soll‘s, dachte sie, er legt ja ohnehin keinen Wert auf mich, die Arbeit für heute ist getan, kann ich auch mit den lustigen Leuten losziehen.
Ja, sie waren lustig und freundlich, aber sie blieben alle seltsam fremd. Später kannte sie keinen einzigen Namen, nicht einmal den Namen des jungen Mannes, der neben ihr auf der Matratze lag. Als seine Hände immer unbeirrbarer über ihren Körper fuhren, wurde ihr bewusst, dass sie nicht einmal sein Gesicht kannte. Jetzt war es dunkel und sie konnte nicht nachsehen. Welcher von den hübschen Modellen war es denn? Sie ließ es einfach geschehen, war zu müde, um aktiv zu werden, in welcher Form auch immer. Zu müde, seine Zärtlichkeiten zu erwidern, aber auch zu müde, ihn zurückzuweisen. Eine leise Reue meldete sich. Dies würde sicher der Todesstoß. In jeglicher Hinsicht.

In der Nacht hatte er sie noch gewarnt, dass sie bloß nicht verschlafen solle. Sicher nicht, hatte sie erwidert. Wie sollte sie in so einer großen Gruppe verschlafen?
Jetzt war es schon fünf vor acht, kaum noch Zeit bis zum Frühstück. Fünf Minuten, um zurückzufinden, zu duschen, ach und dann bemerkte sie, dass nicht nur ihr Bettnachbar der letzten Nacht spurlos verschwunden war, alle rannten aufgeregt umher, niemand schien sie auch nur wahrzunehmen und nebenbei stand da dieses alte, aufpolierte Auto mit offenem Motorblock und überall klebte diese hellgraubraune Masse und sie konnte es nicht erklären, aber sie wusste, dass sie dafür verantwortlich war und erst alles sauber machen musste, bevor sie den Raum verließ.
Sie beeilte sich, aber als sie mit dem Putzen fertig war, war es schon fünf nach acht. Verdammt, sie käme zu spät, was hinterließ das für einen Eindruck bei Raimund? Er würde sie noch mehr verachten, als er es ohnehin schon tat, erst recht, wenn herauskam, dass sie die Nacht woanders verbracht hatte.Wie hatte sie nur so verantwortungslos handeln können? Wenn nun in der Zwischenzeit etwas passiert war und sie war nicht da gewesen?
Sie lief die emsig belebten Treppen hinunter. Schaffte sie noch eine schnelle Dusche wenigstens bis zur Abfahrt? Das Frühstück hatte sie schon abgeschrieben, schlechter Eindruck hin oder her. Und dann ging es irgendwie nicht mehr weiter. Schnitt.

Eine Flutwelle schoss über das Feld. Das Wasser kam bedenklich nahe. Es war ja schon eigentlich immer ihr Traum gewesen, am Meer zu leben oder wenigstens an einem idyllischen See, aber das hier war nicht idyllisch, zu gewaltig für das Landrattengebiet, wie eine Fotomontage wirkten die herein rollenden Wellen, denn schon kam die nächste und eine schwarze, undurchsichtige Brühe rollte über den Garten. Der Garten war nur noch ein einziger Teich. Ob die Hühner sich wenigstens hatten retten können? Und wie sah es an der anderen Seite des Hauses aus? Aus der Richtung kam ja das Wasser, war es durch Tür- und Fensterritzen gedrungen? Mussten sie demnächst den ganzen Fußboden herausreißen?
Auf dem Hof stand es knöchelhoch, doch ins Haus war nichts eingedrungen. Nur den Laptop musste sie schnell in Sicherheit bringen. Er stand zwar schon im Wasser, war aber in einer stabilen Tasche verpackt. Wieso hatte sie ihn auch hier stehen lassen? Es würde Ärger geben, wenn etwas damit passiert war.


Durst, Harndrang, Kopfweh, Rückenschmerzen und trübes Novemberlicht in den sich nur widerwillig öffnenden Augen. Scheißtraum, beschissener, dachte sie. Was soll mir das nun wieder sagen?
Von Raimund hatte sie schon länger nichts gehört und ihr schwante, dass das auch vorläufig so bleiben würde. War vielleicht auch besser so. Ob sie wirklich Gefahr lief, ihn mit einem „Jungspund“ zu „betrügen“? So ein Blödsinn, kein junger Mann, der ihr Sohn sein könnte, würde ihr Avancen machen und sie legte auch keinen Wert darauf, sie hatte sich noch nie nach makellosen, straffen, jugendlichen Körpern gesehnt, außer danach selbst in einem solchen Körper zu leben.

Das Telefon klingelte. Jemand atmete schwer. Dann keuchte eine verstellte Stimme: „Wir wissen, dass du ihn dir reinziehst. Bald wissen es alle.“
Dann wurde aufgelegt. Was war das denn? Wen zog sie sich rein und wer glaubte, davon zu wissen? Sicher ein minderbemittelter Konfirmand im körpereigenen Testosteronrausch. Teenager phantasierten sich gern amouröse Abenteuer ihrer Betreuungspersonen zusammen. Unverschriftlichte Fanfiction sozusagen.

Am Nachmittag fuhr sie auf den Parkplatz. Irgendetwas war anders. Ein Plakat in etwa hundertfacher Ausführung klebte überall: Am Schaukasten, auf den Türen, in den Fenstern, an den Wänden… Sie hatte die Brille noch in der Tasche, sollte sie eigentlich zum Autofahren tragen, hatte es aber vergessen. Sie öffnete das Etui, entnahm die Sehhilfe und nahm die Plakate in Augenschein.

Das Foto war keine Fälschung, aber es erweckte einen falschen Eindruck und sie wusste, ihre Zeit hier war um.

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Freitag, 20. November 2020
Macht
"Ich mach euch alle kaputt.“, brüllte Berti und jetzt bekam sogar Ruben Angst, den doch so leicht nichts aus der Bahn bringen konnte, der noch mit jedem noch so verhaltensauffälligen Kind zurechtgekommen war. Aber Berti war nur noch die wütende Rache. Doch wofür?
Berti hatte neue Spielregeln beim Schrubberhockey eingefordert. Solche, die seine persönlichen Gewinnchancen erhöhten. Er war schnell in der Bewegung, stark und hemmungslos, wenn es darum ging, einen Gegner außer Gefecht zu setzen. Aber wenn er erst eine Rechenaufgabe lösen musste, um herauszufinden, ob er gerade dran war oder ein Junge mit einer anderen Nummer, dann war er rettungslos unterlegen. Das fand er ungerecht. Und darum tobte er. Er tobte nicht zum ersten Mal. Immer, wenn es nicht in seinem Sinne lief, probte er den Aufstand. Manchmal kam er sogar damit durch. Diesmal nicht. Sie hatten ihn einfach überstimmt. Das würden sie teuer bezahlen.
Berti schnappte sich den Schrubber und begann, auf Dominik einzudreschen. Genauer gesagt auf Dominiks Kopf. Ruben war paralysiert – Angst, Überraschung, Entsetzen und Hilflosigkeit rangen in ihm um die Vorherrschaft, Mut und Phantasie hatten sich in die Dunkelheit zurückgezogen.
Ben zog schließlich die Notbremse. Er zertrümmerte einen Stuhl auf Bertis Schädel. Berti machte nichts mehr kaputt. Nie mehr. Aber das, was er zerstört hatte, reichte auch für mehr als ein Leben.

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Samstag, 14. November 2020
Gebrauchsanweisung
Bürobewohner bitte bei Betrieb nicht behelligen.
Bruno ahnte nicht, was „seine“ Jugendlichen ihm da an die Bürotür geklebt hatten. Noch wähnte er sie auf seiner Seite. Die Kündigung wollte er nicht gelten lassen, niemand würde ihn aus seinem Revier vertreiben, das hatte er sich hart erarbeitet, so etwas gab man nicht einfach preis. Gemeindeaufbau, das war seine Sache. Der Pfarrer stolzierte immer nur wie ein Pfau auf dem Gelände herum. Das würde jetzt ein Ende haben. Und dann würden sie die Kündigung stante pede zurückziehen. Einer musste ja dafür sorgen, dass es weiterging.
Als sie den Pfarrer Tage später zu Grabe trugen stellte so mancher die Frage nach der Schuld. Der Täter war gefasst, das Motiv offenkundig, doch die Schuld?
Wer hatte es so weit kommen lassen? Wer hatte bei der Einstellung nicht gründlich geprüft, mit wem man es da zu tun hatte? Wer hatte nicht reagiert und sich weggeduckt, als Arbeitsaufträge zurückgewiesen wurden und stattdessen Projekte aus der Taufe gehoben wurden, deren Sinn sich nur den Wenigsten erschloss? Wer hatte stillgehalten, als es Jahr für Jahr schlimmer wurde – aus Feigheit, aus Desinteresse, als falscher Rücksichtnahme?
Bruno sah sich noch immer als Herrn über den künftigen Gemeindeaufbau. Die fünfzehn Jahre würde er auf einer Pobacke absitzen. Die Zeit nutzen für innovative Konzeptentwicklung.
Ohne ihn ging es ja nicht.

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Freitag, 6. November 2020
Vergebung
Unendlich erschüttert. Bitte um Vergebung. :-)

Diese Messenger-Botschaft war der Gipfel der Geschmacklosigkeit, der schlagende Beweis des fehlenden Fingerspitzengefühls. Rücksichtslos hatte sie seinen guten Willen ausgenutzt, ihn als Seelenmülleimer missbraucht, um ihm ihr ganzes selbst verursachtes Chaos, in das sie sich manövriert hatte, vor die Füße zu kotzen. So wie immer. Wieder einmal war es eine Affäre gewesen, die sie sich nicht hatte verkneifen können und zum diskreten Fremdgehen war sie zu blöd oder vermutlich auch gar nicht willens. Sie sehnte sich nach den Beziehungsproblemen, dann hatte sie wieder einen Grund, dem Seelsorger ihr ach so waidwundes Herz auszuschütten, weil der häusliche Frieden gestört war und die Schuld nun so schwer auf ihr lastete und sie Trost und Zuspruch brauchte.
„Sie kann wohl nicht anders.“, hatte Dirk in sein Tagebuch geschrieben, in dem er alles raus gelassen hatte, das er nicht weiter erzählen durfte, weil es ihm im seelsorgerlichen Gespräch anvertraut worden war. Immer Verständnis, immer Nachsicht.

Und dann hatte sie es eingeschleppt, diese ewig läufige Hündin. Mit Geschlechtskrankheiten hatte sie ihn nicht infizieren können, dafür war er zu treu, aber mit Corona, das hatte sie schließlich geschafft, hatte ihn so lange bekniet, bis er zu einem unmittelbaren Kontaktgespräch bereit gewesen war, hatte ihn zwei volle Stunden lang zugelabert und das ganze Zimmer mit ihren belasteten Aerosolen vollgeatmet. Lüften ging ja nicht, hätte ja jemand etwas hören können.

Sie wusste genau, dass sie ihn getötet hatte. Darum kam jetzt diese Nachricht. Diesmal war sie für den direkten Kontakt zu feige, obwohl sie nun nicht mehr ansteckend war, aber Verantwortung übernehmen, aushalten, dass jemand böse auf sie war, das war nicht so ihre Sache.

„Vergiss es!“, tippte Karin, aber sie schickte die Nachricht nicht ab. Dann wäre sie ja gewarnt. Sie sollte es schon vorher wissen, aber keinesfalls entkommen. Karin schob sich das Tranchiermesser in den Ärmel ihrer leichten Steppjacke und machte sich auf den Weg.

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