Freitag, 30. Oktober 2020
Sabotage - eine Peter-Margo-Geschichte
Plötzlich war er einfach da. Eine gewaltige Stille breitete sich in meinem schmucklosen Büro aus, brennend kalter, eisiger Frost schien die Rauchschwaden meiner filterlosen Zigaretten in geordnete Streifen zu zerteilen. Wer war er?
Starr, fast leblos blickte er mich aus trüben Augen an und mit leiser, emotionsloser Stimme fragte er: „Sie sind Privatdetektiv?“
„Sie sagen es.“
„Ermitteln Sie auch bei Sabotageverdacht?“
„Das kommt darauf an.“
„Worauf kommt es an?“
„Auf die näheren Umstände. Wenn Sie sich zum Beispiel von einem politischen Gegner gestört fühlen, kommt es darauf an, wo sie selbst politisch stehen. Ich arbeite nicht für Faschisten.“
„Ich bin kein Faschist.“
„Das behaupten alle Faschisten, mit Ausnahme von Mussolini, aber der behauptet gar nichts mehr.“
„Nein schon lange nicht mehr. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Es geht nicht um Politik.“
„Worum geht es dann?“
„Um das Leben.“
„Sind Sie Arzt?“
„Nein.“
„Heilpraktiker?“
„Nein. Ich bin niemand, der irdisches Leben um jeden Preis verlängert.“

Ich hatte das Rätselraten satt, darum machte ich eine Ansage: „Erklären Sie mir bitte kurz und präzise, worum es bei Ihrem Fall geht, wer was sabotiert, in welcher Form und aus welchen vermeintlichen Gründen und was genau ich für Sie herausfinden soll.“
Er räusperte sich. „Vielleicht beantworte ich Ihre Fragen in der von mir selbst gewählten Reihenfolge. Punkt eins: Wer sabotiert? Etliche. Es ist gar nicht so wichtig, wer. Ebenso vielfältig ist die Form der Sabotage, sie geschieht heilkundlich, in der wissenschaftlichen Forschung, in der persönlichen Lebensweise und der Ernährung der Täter. Was Sie genau herausfinden sollen, ist das Motiv oder auch die Motive. Ich will verstehen, warum das passiert, es geht mir nicht um Schuld sondern um die Ursache und damit um einen Ansatz, die Dinge wieder ins Lot zu bringen.“
„Aber was wird sabotiert?“
„Ich. Ich werde sabotiert.“
„Wobei denn?“
„Bei der Erfüllung meiner Aufgabe.“
„Die worin besteht?“
„Das Leben zu gegebener Zeit zu beenden.“
„Sind Sie ein arbeitsloser Henker?“
„So könnte man es auf frivole Weise ausdrücken. Tatsächlich bin ich niemand anderes als der Tod.“
„Und jetzt wollen Sie mich holen?“
„Sie? Ach was, nein, für Sie ist es noch längst nicht Zeit.“
„Da bin ich aber beruhigt.“
„Warum?“
„Weil ich weiterleben will.“
„Wozu?“
„Na… um zu leben.“
„Was ist so reizvoll daran?“
„Es ist nicht reizvoll. Ich mache einfach weiter.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Ich auch nicht.“ Ich überlegte kurz, dann erklärte ich: „Vermutlich hoffe ich noch immer auf bessere Zeiten. Auf Tage, an denen ich Spaß daran habe, die Nase in die Sonne zu stecken, an denen mein Blick auf einer schönen Frau ruht, die diesen wohlwollend erwidert, darauf, dass noch viele Male der beste Whisky der Stadt durch meine Kehle rinnt und meinen Magen wohlig warm macht, lauter so Wohlfühlzeugs, wonach sich alle sehnen.“
Er sah mich lange wortlos an mit diesem verstörend friedlichen Gesichtsausdruck, dann sagte er: „Ich verstehe. Sie empfinden noch Wertschätzung gegenüber dem Leben. Daran ist natürlich nichts Falsches. Ich hatte zunächst einen vollkommen anderen Eindruck von Ihnen.“
„Ja“, antwortete ich. „Ich wundere mich auch gerade über mich selbst. Aber was ich nicht verstehe: Wie kommen Sie darauf, dass Sie sabotiert werden? Gestorben wird doch immer, gerade kürzlich sind die Menschen gestorben wir die Fliegen und ich wette, die nächste Pandemie sitzt schon in den Startlöchern.“
„Ach ja, die Pandemie.“, seufzte er. „Da habe ich meine Gegner wohl verärgert, etwas übertrieben.“ Er kicherte in sich hinein, das war wirklich gruselig. Dann wurde er wieder ernst, sah mich an und fragte unvermittelt: „Wann hatten Sie persönlich den letzten Verstorbenen zu beklagen?“
Ich musste überlegen. Ich persönlich? Das war schon eine Weile her. Schließlich fragte ich: „Was wäre denn so schlimm daran, wenn niemand mehr stürbe? Das würde doch viel Kummer und Leid ersparen.“
„Ach ja?“, fragte mein seltsamer Kunde. „Was wäre denn, wenn Kinder übergriffiger Eltern in Ewigkeit von diesen drangsaliert würden? Wenn schwierige Ehen niemals endeten, wenn grausame Despoten bis in alle Ewigkeit weiter wüteten?“
„Vielleicht wäre das gar nicht so schlimm“, überlegte ich. „Wir hätten ja alle unendlich viel Zeit. Eltern kann man verlassen, von Ehepartnern kann man sich scheiden lassen, Despoten muss man nicht töten, die kann man auch verjagen, verbannen oder wegsperren. Und leider lassen Sie ja vorzugsweise die widerlichtsen Diktatoren jeden Dreck überleben. Da wäre also kaum eine Verschlechterung.“
„Die widerlichsten Diktatoren sind meine Reduktionshelfer, ohne die geht es nicht. Aber mal im Ernst: Die Erde würde entweder schon bald aus allen Nähten platzen oder es dürften keine Kinder mehr geboren werden. Wo nichts stirbt, kann auch nichts Neues wachsen. Halten Sie das für erstrebenswert?“
„Ich hab‘s nicht so mit Kindern.“, antwortete ich lapidar.
„Also doch kein Lebensfreund?“
„Doch, schon, aber ich habe gern meine Ruhe, lasse mich ungern stören. - Aber kommen wir wieder zur Sache. Sie wollen also wissen, warum die Menschheit versucht, Sie zu besiegen?“
„Ganz genau.“
„Können Sie mich bezahlen?“
„Selbstverständlich.“
„Mit richtigem Geld?“
„Ich zahle im Voraus.“
Mein Kunde legte einen Umschlag auf den Tisch. Ich sah hinein. Fünftausend Euro. Damit konnte ich eine Weile arbeiten.
„Dann brauche ich noch Ihre Kontaktdaten, damit ich Sie über Ergebnisse informieren kann oder auch für den Fall, dass ich Fragen habe.“, erklärte ich.
„Die brauchen Sie nicht.“, erwiderte der Besucher mit Grabesstimme. „Ich finde Sie.“
Ich blickte in seine gleißend dunklen Augen und mir lief schon wieder ein heißkalter Schauer über den Rücken. Das lief nicht so wie ich es geplant hatte. Ich wollte schnellstmöglich Hilfe für den den Verrückten organisieren und das Geld den zuständigen Behörden übergeben, aber er war äußerst geschickt in seinem Wahnsinn, also musste ich mich noch eine Weile gedulden.

Als er den Raum verlassen hatte, war es eiskalt in meinem Büro und es roch modrig. Zeit für einen Schlenker in Harrys Bar, um mich an einem rauchigen Scotch zu wärmen. Vorher kontaktierte ich den sozialpsychiatrischen Krisendienst und die Polizei, um herauszufinden, wer der Wahnsinnige war und das weitere gemeinsame Vorgehen abzusprechen.

Harrys Bar war in mildes Licht getaucht, aufgeheizt vom Stoffwechsel der Anwesenden und nach dem ersten Schluck, der den Geschmack von Asche auf der Zunge hinterließ, spürte ich, wie mein Blut im Rhythmus des rauchigen Blues aus der Jukebox durch meine Venen pulsierte und die Wärme langsam von meinem Magen bis in die Spitzen der Finger und Zehen drängte. Es war wunderbar. Warum sollte ich wollen, dass das jemals aufhörte?
Neben mir saß ein junger Typ, den ich nicht kannte. Er trank ein Bier und schien auf jemanden zu warten. „Was denken Sie über den Tod?“, fragte ich ihn.
„Ich bin nicht zum Sterben hier.“, sagte er und nahm einen kräftigen Zug aus seinem Glas.
„Das unterstelle ich Ihnen auch gar nicht. Aber ich habe da aktuell einen Rechercheauftrag. Versuchen Sie, dem Tod zu entkommen oder nehmen Sie einfach an, was geschieht?“
„Sind Sie einer von den Zeugen Jehovas?“
„Nein, ich bin Privatdetektiv. Ein Kunde hat mich gebeten, nach den Gründen zu forschen, warum Menschen nicht sterben wollen.“
„Ist so etwas denn ein Auftrag für einen Privatdetektiv?“
„Eigentlich nicht. Aber der Kunde hat im Voraus gezahlt und ich gehe ja kein Risiko ein, wenn ich ihm den Gefallen tue.“
„Ach so.“, antwortete er. „Aber ich weiß jetzt gar nicht was ich dazu sagen soll. Jeder will doch leben. Ist doch so eine Art Trieb oder etwa nicht? Vor dem Sterben hat man natürlicherweise Angst und versucht es zu vermeiden.“
„Ja, das erklärt, warum man dem eigenen Tod ausweicht.“, antwortete ich. „Aber warum versucht die Menschheit seit sie denken kann, den Tod zu besiegen?“
„Damit man nicht alleine übrig bleibt?“
„Ja vielleicht.“
„So.“, sagte mein Gesprächspartner. „Von meinem Bier ist nichts mehr übrig und meine Verabredung hat mich versetzt. Viel Erfolg noch bei Ihrer Recherche.“
Ich bedankte mich und sah mich nach einem weiteren Kandidaten für ein Interview um.

Da saß Jochen, Englisch- und Politik-Lehrer im Ruhestand. Das konnte interessant werden. Ich fragte, ob ich mich zu ihm setzen dürfe und schließlich stellte ich meine Eingangsfrage:
„Jochen, was denkst du über den Tod?“
„Kommt.“, antwortete Jochen.
„Mehr nicht?“
„Unausweichlich ungewiss.“
„Wie bitte?“
„Er kommt auf jeden Fall, lässt sich nicht vermeiden, aber man weiß absolut nicht, wann – es sei denn du bestimmst es selbst und setzt einen Punkt.“
„Das klingt alles sehr nach Sachebene. Was ist denn mit dem Gefühl?“
„Sehr ambivalent. Irgendwie traurig und gleichzeitig entlastend, dass irgendwann alles vorbei ist. Alles Schöne würde man gern für immer festhalten, aber die Vorstellung alles, was man so aushalten muss, würde immer weitergehen und kein Ende in Sicht, das fände ich unerträglich. Schwer und leicht ist der Tod, schmerzvoll und erlösend und gnadenlos barmherzig.“
„Du würdest ihn also gar nicht besiegen wollen?“
„Nicht endgültig. Nur etwas länger aufbleiben. Den Spielfilm noch zu Ende gucken. Und dann noch eine heiße Schokolade. Und eine Geschichte. Und ein Lied vorgesungen bekommen. Und noch eins. Bis man irgendwann glücklich einschläft. Glücklich über den gelungenen, langen Tag, zufrieden und müde von den reichen Erlebnissen.“

Auf dem Heimweg dachte ich lange nach. Mit dem Tod kam der endgültige Beginn der Zukunft, von dort gab es kein Zurück und gerecht war er auch, denn er holte jede und jeden; so individuell ein jeglicher den Tod erlebte, am Ende machte er alle gleich. Er war ein ambivalenter Geselle, ein personifiziertes Oxymoron, wahllos-exklusiv schlug er zu, war zerstörerisch und perspektivisch zugleich, spannend und entspannend.

Zu Hause fischte ich einen Roman aus dem Bücherregal, einen, den ich schon einmal gelesen hatte, in dem ich nun nach Stellen suchte: „Halloween“, von Ray Bradbury, die Geschichte einiger Jungs, die in der Halloween-Nacht mit dem Tod auf eine Reise durch Raum und Zeit gehen. Hatten Kinder wirklich diesen unverstellten, neugierigen Blick auf den Tod? Erschien er ihnen in all seiner Befremdlichkeit wie ein vertrauter Bekannter? Kinder waren wohl am ehesten empfänglich für die Illusion von einer Fortsetzung, wo sich eigentlich ein Abbruch vollzog. Ich entschloss mich, am nächsten Morgen früh aufzustehen und in einem Schulbus Kinder zu interviewen.

Ich fühlte mich wie ein schmieriger Schokoladenonkel, als ich gegen 7.30 Uhr den ersten Jungen im Bus anquatschte, aber ich fegte meine Bedenken beiseite, ich war zu neugierig. „Wie alt bist du?“
„Zehn.“
„Was denkst du über den Tod?“
„Ist Scheiße.“
„Warum?“
„Weil dann alles aufhört.“
„Du meinst, dann kommt nichts mehr?“
„Doch, aber man weiß ja nicht was und auf jeden Fall ist man nicht mehr hier. Das finde ich doof.“
„Was glaubst du wie es sein wird?“
„Weiß nicht. Vielleicht geht man durch einen Tunnel und am Ende ist Licht. Und wenn man vorher Schmerzen hat oder total traurig ist, dann geht das alles weg, dann ist man erlöst. Vielleicht ist das auch ganz schön und man fühlt sich leicht und frei.“
Ein kleines Mädchen hatte uns aufmerksam zugehört, nun mischte sie sich ein:
„Ich glaube man kommt zu Gott in den Himmel und da sind überall Engel und man ist ganz leicht und frei und alles ist schön.“
„Wie alt bist du?“
„Acht.“
Ein anderes Mädchen sagte: „Dann ist man endlich fertig mit allem. Man muss nichts mehr schaffen und ist für immer frei. Vielleicht hat man Angst beim Sterben, aber dann wird alles gut und vielleicht ist man auch wieder ganz klein und fängt von vorn an.“
„Du glaubst also an Seelenwanderung?“
„An was?“, fragte das Mädchen und sah mich verständnislos an.
„Dass die Seele beim Sterben den Körper verlässt und schon bald in einen neuen Körper einzieht, in ein Baby, das gerade geboren wird.“
„Ja genau.“, sagte das Mädchen. „Das könnte sein. Ich weiß aber nicht ob das stimmt.“
„Das kann ja auch niemand wissen.“
„Und was glauben Sie?“, fragte der Junge.
„Ich glaube, dass das mit dem Tod schon irgendwie einen Sinn hat. Aber er macht mir auch Angst und ist mir lästig. Ich will nicht, dass Menschen sterben, die ich gern habe.“
„Ich auch nicht.“, sagte der Junge.
„Keiner will das.“, sagte das kleine Mädchen.

Die Kinder waren an ihrem Zielort angekommen und ich suchte mein Büro auf. Ich lüftete einmal kräftig durch und drehte danach die Heizkörper auf Höchstleistung. Der Kaffee war gerade durchgelaufen und in meinem schmuddeligen Becher gelandet, da trat er wieder ein, mein Kunde. Ich bat ihn, Platz zu nehmen, erledigte noch einen kurzen Anruf und berichtete dann von meinen ersten Ergebnissen.
„Das ist alles nichts Neues für mich.“, erklärte er. „Aber ich sehe, dass es die Kinder sind, die sich mir am wenigsten in den Weg stellen.“
„Aber Sie können doch nicht die Kinder holen!“, protestierte ich.
„Warum denn nicht?“, fragte er erstaunt.
„Die haben doch ihr ganzes Leben noch vor sich.“
„Nicht, wenn ich es beende.“
„Aber das ist grausam. Kinder sind so hilflos.“
„Alte Menschen auch.“
„Aber die sind alt und lebenssatt.“
„Wenn das so wäre, säße ich nicht hier. In Wahrheit sind sie alt und lebensgierig und nicht bereit, Platz für etwas Frisches und Neues zu machen. Vielleicht sehen sie es ein, wenn ich ihnen ihre irdische Zukunft nehme.“
„Was haben Sie jetzt vor?“
„Mal sehen.“

Er erhob sich von seinem Stuhl. Ich musste unbedingt Zeit gewinnen, bevor er loszog und Kinder in die Luft sprengte oder zerhackte oder vor fahrende LKWs stieß. Der Mann war brandgefährlich. Ich musste improvisieren.
„Nehmen Sie doch noch einen Augenblick Platz.“
Ich wies mit einer einladenden Geste auf den Stuhl, auf dem er eben noch gesessen hatte. „Ich bin doch erst am Anfang meiner Recherche und wir könnten doch zusammen überlegen, in welche Richtung ich weiter ermitteln soll. Bitte.“
Nach kurzem Zögern setzte er sich wieder und sah mich aus dunklen unbewegten Augen an. Sie waren blau. Wie konnten blaue Augen so dunkel sein? Gestern Abend hätte ich geschworen, sie seien braun gewesen, nahezu schwarz. Aber sicher lag das an seinem Auftreten, seiner frostigen Härte, die überall durch seine sanfte, kultivierte Etikette schimmerte.
Ich beschwor ihn: „Die Kinder wollen leben, etwas aus sich machen und erst wenn es genug ist, wollen sie sich mit dem Tod abfinden.“
„Ja.“, sagte mein Auftraggeber. „Jetzt, wo das vermeintlich Ende noch in weiter Ferne liegt, erklären sie sich großmütig bereit, sich eines Tages darauf einzulassen. So wie sie versprechen, am Wochenende ihr Zimmer aufzuräumen. Aber wenn es dann so weit ist, haben sie keine Lust und drücken sich. Und wenn sie erst groß sind, werden sie immer geschickter im Ausweichen und Kapriolen Schlagen. Sie rotten sich zusammen und verbünden sich. Und für mich wird die Luft immer dünner.“
„Aber S I E haben doch unendlich viel Zeit zur Verfügung.“, argumentierte ich. „Üben Sie sich in Geduld. Sterben können Sie schließlich nicht.“

Es klopfte an der Tür. Ich erlaubte, einzutreten und ein Team aus Polizisten, einer Psychologin und zwei Sanitätern trat in mein kleines Büro.
„Hallo Eckhardt.“, grüßte die Psychologin meinen Auftraggeber. „Wir würden Dich gern noch eine Weile bei uns wohnen lassen, Du bist noch nicht wieder vollständig zu Kräften gekommen. Wenn Du jetzt schon wieder an die Arbeit gehst, übernimmst du dich nur.“
Eckhardt nickte einsichtig. Er wischte sich ein unsichtbares Stäubchen vom makellos schwarzen Ärmel seines Mantels, erhob sich langsam und schloss den Knopf über dem Bauch, bereit zu gehen, wohin auch immer.
„Ich krieg hier keine Luft sagte er.“ In zwei eiligen Schritten war er am Fenster und riss es auf. Er nahm ein paar tiefe Atemzüge und sah hinunter. Plötzlich befanden sich seine Sohlen auf dem Fensterbrett und noch bevor irgendjemand reagieren konnte, stürzte er drei Stockwerke in die Tiefe. Von unten vernahm man einen erstickten Schrei. Er hatte einen Passanten mit in den Tod gerissen.

Ich wandte mich an die Polizisten, was nun mit dem Vorschuss geschehen solle. „Behalten sie ihn.“, winkte der Beamte ab. Er hat ein Geschäft mit Ihnen abgeschlossen und bezahlt. Sie haben mehr getan, als nur ihre Arbeit und nebenbei vermutlich eine ganze Reihe Leben gerettet – bis auf diese beiden, aber Sie sind nun einmal nicht der Herr über Leben und Tod.“
„Nein“, sagte ich. „Der hat seine Arbeit erledigt und ist jetzt für immer frei.“

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Mittwoch, 28. Oktober 2020
Cliffhanger – Auftakt einer längeren Geschichte
Er erhob sich von seinem Stuhl. Ich musste unbedingt Zeit gewinnen, bevor er loszog und Kinder in die Luft sprengte oder zerhackte oder vor fahrende LKWs stieß. Der Mann war brandgefährlich. Ich musste improvisieren.
„Nehmen Sie doch noch einen Augenblick Platz.“ Ich wies mit einer einladenden Geste auf den Stuhl, auf dem er eben noch gesessen hatte. „Ich bin doch erst am Anfang meiner Recherche. Bitte.“
Er zögerte, setzte sich und musterte mich mit seinen kalten Augen.
„Die Kinder wollen leben“, beschwor ich ihn, „etwas aus sich machen und erst wenn es genug ist, wollen sie sich mit dem Tod abfinden.“
„Ja.“, sagte mein Auftraggeber. „Jetzt, wo das vermeintlich Ende noch in weiter Ferne liegt, erklären sie sich großmütig bereit, sich eines Tages darauf einzulassen. So wie sie versprechen, am Wochenende ihr Zimmer aufzuräumen. Aber wenn es dann so weit ist, haben sie keine Lust und drücken sich. Und wenn sie erst groß sind, werden sie immer geschickter im Ausweichen und Kapriolenschlagen. Sie rotten sich zusammen und verbünden sich. Und für mich wird die Luft immer dünner.“
„Aber S I E haben doch unendlich viel Zeit zur Verfügung.“, argumentierte ich. „Üben Sie sich in Geduld. Sterben können Sie schließlich nicht.“

Es klopfte an der Tür.

DIE GANZ GESCHICHTE FOLGT AM FREITAG.

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Mittwoch, 21. Oktober 2020
Hahn im Korb
Man sprach schon über sie. Judith konnte sich nicht erklären, wie das Gerede zustande kam, aber Renate aus dem Kirchenchor hatte ihr gesteckt, dass da etwas die Runde machte, dass es rumorte.
Dabei gab es überhaupt keinen Anlass, keinen Hinweis darauf, dass sie und Jakob eine Affäre haben könnten und auch ihrerseits keine Grenzüberschreitung, die die Vermutung nahegelegt hätte, sie habe unlautere Absichten. Unlautere Absichten, aus welchem Jahrhundert hatte sie das nur herüber gerettet? Was wäre denn so unlauter an eventuellen Absichten? Wie kamen Menschen dazu, so etwas in andere hineinzuprojizieren? Judith hatte das schon einmal erlebt, vor vielen Jahren, auch damals hatte sie nicht eine Regel verletzt und trotzdem hatte sie das Gefühl gehabt, dass alle in ihren Kopf gucken konnten, in ihr Herz und dann hatten sie sie geschlachtet, in aller Öffentlichkeit, sie der Häme ausgesetzt, dem Gespött, der Verachtung. Das konnte sie nicht noch einmal ertragen. Wenn das nicht aufhörte, würde sie diesmal dafür sorgen, dass es aufhörte. Nein, sie würde niemandem etwas antun – nur sich selbst.

Siemke brühte sich einen Kaffee auf, das hieß, sie ließ es die Hightech-Maschine für sich erledigen. Rüdiger hatte ja immer gemeint, French Press reiche völlig aus, aber Rüdiger gab sich auch mit Aufbackbrötchen zum Frühstück und Dosenravioli zum Abendessen zufrieden. War eigentlich besser, dass er aus ihrem Leben verschwunden war. Nur die Tatsache, dass die kleine Schlampe aus der Verwaltung mit ihm durchgebrannt war, dieses ungebildete Flittchen, diese Tatsache nagte nach wie vor an ihren Eingeweiden. Darum hatte sie auch auch nicht ertragen, wie ihr Kollege Jakob Hahn und seine Kantorin beim kreiskirchlichen Kantorei-Konzert umeinander geschlichen waren. Nicht genug, dass sie zusammen im Auto gekommen waren, die eingebildete B-Musikerin war den ganzen Abend nicht von seiner Seite gewichen, als hätte sie längst den Platz seiner Ehefrau eingenommen. Da konnte man doch nicht tatenlos zusehen. Da musste jemand etwas unternehmen. Darum hatte Siemke so vielen Leuten wie möglich ihren Eindruck geschildert. Nun war es an denen, die tagtäglich mit der Organistin zusammenarbeiteten, dem Arbeitsplatzgeturtel ein Ende zu bereiten.

Dieses Mitarbeiterfest hätte Judith sich gern gespart. Immer dasselbe Nase-in-die-Menge- halten, damit niemand einem vorwerfen konnte, man sei nicht gern in der Gemeinde. Ekelhaft, diese Heuchelei bei halbtrockenem Discounter-Sekt, welken Schnittchen und aufgepimpter Konservensuppe. Der Sekt war heute besonders süßlich, dazu muffig-bitter im Abgang. Billiger Sekt schlug ihr immer auf den Magen, dieser hier aber ganz besonders. Er versetzte innerhalb kürzester Zeit ihre gereizten Schleimhäute in Flammen so wie Jakob ihr Herz. Doch im Gegensatz zum Feuer ihres Herzens bemerkte niemand das Brennen ihrer Magenschleimhaut, aller waren viel zu sehr mit ihren eigenen Bedürfnissen beschäftigt. Allmählich ging der brennende Schmerz in Übelkeit über und zur Vorsicht bewegte Judith sich in Richtung Toiletten.

Katharina verstand überhaupt nicht, warum in diesem Jahr auch die Mitarbeitenden aus ihrer Gemeinde hier zum Fest der Nachbargemeinde eingeladen wurden, wenn es nicht um langfristige Fusionspläne ging. Sie hätte sich sicher eine Ausrede einfallen lassen, aber sie hatte große Lust, ein bisschen mit Jakob Hahn zu flirten, der zartesten Versuchung, seit es Theologen gab und bei dieser Gelegenheit gleich die lästige Konkurrenz aus dem Weg zu räumen. Katharina passte ohnehin viel besser zu ihm als Judith, denn Jakob brauchte eine Frau voller Tatkraft, die die Richtung vorgab, Initiative zeigte, wusste was sie wollte, kombiniert mit einer aparten Erscheinung, schmaler Silhouette und ausdrucksvollen Augen und nicht so eine verhuschte, verträumte B-Musikerin, die nur in Tortenschlachten an vorderster Front kämpfte und sich ihm mäuschenhaft unterordnete. Das fand er für den Augenblick vielleicht ganz reizvoll, aber das tat ihm nicht gut. Katharina musste ihn vor Judith beschützen, ihn retten. Sie hatte immer gern etwas für ihn tun wollen, etwas ganz Großes, ganz exklusiv für Jakob und nun ergab sich die Gelegenheit. Praktischerweise hatte ihr Vater noch etwas von dem längst verbotenen Rattengift im Gartenhäuschen gehabt. Es war zwar nicht das ganz tückische Zeug, bei dem sich die Symptome erst nach Tagen einstellten, aber sie war ganz zufrieden mit der zügigen Wirkung, denn sie wollte schließlich etwas davon haben und das Schauspiel genießen. Eben gerade hatte Judith den Gemeindesaal verlassen, ganz grün im Gesicht war sie, es konnte nicht mehr lange dauern. Katharina musste nun nur gegen die Versuchung ankämpfen, ihr hinterher zu gehen, um ihr auf dem Klo beim Sterben zuzusehen. Aber es fiel ihr nicht schwer, als sie Jakob dort stehen sah, im Gespräch mit einer älteren Dame. Sie gesellte sich einfach dazu und wartete auf ihren Einsatz. „Ach, Arthritis? Ja, das hat meine Mutter auch. Ganz schlimm, schon seit Jahrzehnten. Der Verzicht auf Zucker würde eine deutliche Besserung bringen, aber dazu ist sie nicht bereit, da hält sie lieber die Schmerzen aus...“
Katharina redete einfach immer weiter, bis die ältere Dame aufgab und ihr den Pfarrer überließ. Und sie lachte siegesgewiss in sein wohlwollendes Gesicht.

Judith beugte sich über das Waschbecken und benetzte ihr Gesicht mit kaltem Wasser. Hatte ihr jemand etwas in den Sekt gekippt? Hatte er darum so muffig geschmeckt? Aber wer sollte das gewesen sein und warum?
Herrin über das Buffet und die Getränke war heute Petra, die Kirchmeisterin. Ausgerechnet Petra mit ihrem Hygiene-Fimmel und ihrem Landfrauen-Habitus, die würde so etwas doch eher verhindern, als jemandem die Gelegenheit dazu bieten. Aber sie war schon seltsam verändert in letzter Zeit. Hatte sie sich anfangs hartnäckig, ja fast schon übergriffig mit Judith anfreunden wollen, war sie zunehmend kurz angebunden in letzter Zeit. Immer häufiger schleuderte sie ihr Sätze entgegen wie zum Beispiel: „Wenn du die E-Mail aus dem Gemeindebüro aufmerksam gelesen hättest, wüsstest du, dass die Konfirmationstermine im nächsten Jahr teilweise auf den Samstag gelegt wurden.“
Aber auch unangenehme Zweideutigkeiten kamen ihr vermehrt über die Lippen. „Oh, ist das Röckchen nicht ein bisschen kurz für die Orgel? Aber Jakob ist ja unten im Altarraum unterwegs, dann muss ich mir wohl keine Sorgen machen.“
Petra schien sich auch längst in den Chor der üblen Nachrede eingereiht zu haben. Judiths Magen krampfte sich zusammen. War das nun eine Substanz oder das ganze Elend, von allen möglichen Frauen in der Luft zerrissen zu werden?

Petra war außer sich. Kaum verschwand diese eitle Kirchenmusikerin auf dem Klo, musste Jakob sich schon gleich wieder Sorgen um sie machen. Sie tat immer so unschuldig mit ihrem kuhäugigen Kleinmädchenblick. Verlogen wie sie war, hatte sie Petra anfangs freundschaftliche Gefühle vorgeheuchelt, aber nur aus Berechnung, schließlich wollte sie sich mit der Kirchmeisterin gut stellen, damit die nicht eines Tages ihre Stelle wegrationalisierte. In Wirklichkeit war sie ein arrogantes Bürgertöchterchen, hielt sich für etwas Besseres und schmiss sich wie ein Kätzchen an Jakob, dem das noch nicht einmal auffiel. Sie selbst kannte Jakob schon viel länger, war in seiner Vikariatszeit als Ehrenamtliche mit ihm auf Konfi-Wochenenden gefahren, dann hatten sie sich aus den Augen verloren, Petra war mit ihrer jungen Familie in die Vorstadt gezogen und eines Tages war der alte Pfarrer in den Ruhestand gegangen und Jakob war aufgetaucht. Sie hatte sich so gefreut; um der alten Zeiten willen und weil Jakob einfach ein Sonnenschein war. Und dann war Judith gekommen, mit ihren taillierten Walla-Walla-Kleidchen, ihrer von der Kosmetikerin perfektionierten Gesichtshaut, ihrer leisen Mädchenstimme und ihrer anmaßenden Überzeugung, so wahnsinnig viel mit Jakob gemeinsam zu haben.
In den Küchenschubladen fanden sich nirgends die Quirle für das Handrührgerät, hier herrschte ein einziges Tohuwabohu. Eine Schublade klemmte fürchterlich. Als sie schließlich nach mehrfachem Ruckeln die Ursache entdeckt hatte, wusste sie sofort, wer dafür verantwortlich war. Dieses dämliche Krimi-Dinner, das der Kirchenchor veranstaltet hatte. Petra war so wütend, dass ihr alles egal war. Sie griff sich das Gerät und stapfte zielstrebig zu den Toiletten. Judith hing kotzend über dem Waschbecken. „Oh, hast du nicht aufgepasst?“, entfuhr es ihr, sie konnte an gar nichts anderes denken als an Schwangerschaft.
„Mir ist schlecht.“, antwortete Judith nur. „Ich glaube ich brauche einen Arzt.“
„Das einzige was du brauchst ist Aufmerksamkeit.“, zischte Petra. „Männliche Aufmerksamkeit in großen Dosen. Sonst bist du nicht zufrieden. Wir werden jetzt keinen großen Wirbel um dich veranstalten. Du wirst dich jetzt hübsch zusammenreißen und für die Ehrenamtlichen da sein. Das ist nämlich der Sinn dieses Festes. Und von Jakob lässt du auch die Finger.“
„Nur kein Neid.“, stieß Judith hervor und würgte erneut.
„Was bildest du dir ein?“, schrie Petra und zog Judith mit dem Fleischklopfer eins über. Die schrie vor Schmerz und hob schützend einen Arm. Wäre sie einfach zu Boden gegangen, hätte sich Petras Gemüt wieder beruhigt, aber trotz der Übelkeit kämpfte Judith wie eine Wildkatze, versuchte den Fleischklopfer zu fassen zu kriegen und dann Petras Schlägen auszuweichen. Etwas brach sich Bahn im Inneren der Kirchmeisterin. Der gesammelte Zorn ihres ganzen Lebens brach auf einmal aus ihr heraus und entlud sich auf der sterbenden Kantorin. Auf dem gepflegten Gesicht, den seidigen Haaren, den filigranen Fingern. Am Ende lag da ein blutiger, stöhnender Haufen am Boden des Toiletten-Vorraums, Petra rang nach Luft und fühlte sich zum ersten Mal in ihrem Leben vollkommen befreit. Wenn auch nur für sehr kurze Zeit.

Jakob Hahn war fassungslos. Judith erschlagen von Petra. Die freundliche Judith, mit der er so unkompliziert zusammenarbeiten konnte, wer mochte sie so hassen und warum? Und warum die patente Petra, die doch immer so fröhlich und hilfsbereit, einsatzfreudig und flexibel aufgetreten und außerdem eng mit Judith befreundet gewesen war? Über alles, was an Petra anstrengend und peinlich war, hatte Judith stets großzügig hinweg gesehen.
Katharina Gast, die Kantorin aus der Nachbargemeinde steuerte schon wieder auf ihn zu, um ihn mit ihren Angelegenheiten aus seinen Gedanken zu reißen. Das würde er diesmal nicht zulassen. Unter dem Vorwand, Unterlagen aus seinem Dienstzimmer holen zu müssen, verschwand er nach Hause, wo Birgit sich sehr wunderte und ihn im Arm hielt, als er von all den Schrecknissen berichtete. Gestärkt kehrte er zurück, half der Polizei bei ihren Ermittlungen, so gut er konnte und stellte erleichtert fest, dass Katharina Gast verschwunden war. Er ahnte nicht, was sie als nächstes im Schilde führte.

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Freitag, 2. Oktober 2020
Dumm gelaufen
„Was lange gärt, wird endlich Wut.“, sagte Carola und zog ihm von hinten das Paddel über den Schädel.

Wurde Zeit, dass Breisz den Thron räumte, der würde sich niemals ändern, da nützte auch keine erlebnispädagogische Teambuilding-Aktion. Ein Verwaltungschef, der zu faul ist, seine Unterlagen zu lesen, keinen Überblick hat und lediglich täglich mehrere Mitarbeitende in sein Büro zitiert, um irgendwen für das zusammenzufalten, was mal gerade wieder schief gelaufen ist, irgendwen, der dafür gar keine Verantwortung trägt, lässt Führungskompetenz offensichtlich deutlich vermissen. Doch die Mühlen der evangelischen Kirche mahlen langsam. Zu langsam. Zu träge und geduldig wird jahre- wenn nicht jahrzehntelang der Missstand nicht angegangen, der doch von so vielen beklagt wird.

Carola war zuerst ziemlich angefressen, dass sie mit dem Chef in ein Kanu musste. Er saß hinten und lenkte, was er offenkundig nicht sonderlich beherrschte, das war ja nichts Neues, aber lenken konnte Carola noch viel weniger, sie machte stattdessen die ganze Arbeit – wie immer. Dann hatte ihre Blase gedrückt. Sie hatte ihn gebeten, anzulegen, damit sie kurz im Gebüsch verschwinden konnte. Das hatte sie auch getan. Als sie zurückkam und seine fettige Glatze, gerahmt von den Bügeln seiner Designer-Brille in der Sonne glänzen sah, die geröteten Speckröllchen im ausrasierten Stiernacken, die runden, hängenden Bürohengst-Schultern, das alles wie ein Schandfleck auf der spätsommerlich, sonnendurchfluteten Flussidylle wirkte, da war es über sie gekommen. Sie hatte das Paddel mit ans Ufer genommen, um sich abzustützen. Jetzt war es die perfekte Waffe.

Wenn sie noch eine Woche gewartet hätte, hätte sie erlebt, wie Breisz von allen Verantwortlichkeiten freigestellt worden wäre. Seine Zeit war ohnehin abgelaufen, die Kündigung lag schon in der Schublade.

Dumm gelaufen, Carola.

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