... newer stories
Freitag, 20. März 2020
Eremit
c. fabry, 10:16h
Endlich Ruhe. Was für ein Geschenk. Endlich war er da angekommen, wo er schon immer hinwollte. Als Frauke vor einem halben Jahr ausgezogen war, hatte er zunächst einen Anflug von Panik verspürt, eine große Verunsicherung, die Störung der gewohnten Abläufe, da war etwas unkontrollierbar aus den Fugen geraten, entzog sich seiner Selbstwirksamkeit.
Doch Woche für Woche hatte er gelernt, mit den neuen Anforderungen des Alltags fertig zu werden, hatte feste Tage für seine Routine-Einkäufe, hatte gelernt, sich selbst etwas Schmackhaftes zu essen zuzubereiten und hatte zunehmend die störungsfrei Zeit in seinen eigenen vier Wänden genossen. Kein plärrendes Radio in der Küche, kein nervtötendes Herzkino im Wohnzimmer, keine geschäftige Gattin, die hier etwas ordnete, da etwas putzte, dort etwas zusammenrührte und ihn permanent mit Nichtigkeiten belästigte, seien es Neuigkeiten aus der Nachbarschaft, aktuelle politische Entwicklungen, die neuesten Zipperlein und ausführliche Berichte von Arztbesuchen, ihre Nörgeleien, weil er schmutzige Wäsche im Bad liegen ließ oder seinen Tee zu lautstark schlürfte.
Perfekt war es trotzdem nicht gewesen. Die Gemeinde hatte ihm kaum Ruhe gelassen. Neben den üblichen regelmäßigen Amtshandlungen wie Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen, hatte es immer Übergriffe auf sein Privatleben gegeben: Anrufe aufgeregter, wichtigtuerischer Presbyter, die ihre Schlaflosigkeit mit ihm teilen wollten, weil irgendein Haushaltsloch ihnen keine Ruhe ließ. Kurzfristig anberaumte Sitzungen aufgrund vermeintlicher Krisen, psychisch labile oder einsame Menschen, die den persönlichen Kontakt suchten für ein tröstendes Gespräch, abgebrannte Präkarier, die vor der Tür standen und es nicht dabei beließen, finanzielle Unterstützung in Anspruch zu nehmen, sondern versuchten, ihm ein schlechtes Gewissen zu machen, weil er sie nicht umfassend aus ihrem Elend rettete und ihnen so viel Unterstützung gewährte, dass sie für die nächsten Monate ausgesorgt hatten, die manchmal aggressiv wurden und versuchten, ins Haus zu kommen; hormonell übersteuerte Pastorenschwalben von unterirdischem Marktwert, die ihre heimliche Schwärmerei kaum verbergen konnten oder sich nicht einmal Mühe gaben, eine höfliche und angemessene Distanz zu halten.
Das war jetzt alles ausgesetzt, der Seuche sei Dank. Der stille, von hohen Hecken umsäumte Garten, war in goldenes Frühlingslicht getaucht, die Narzissen blühten um die Wette mit dem schneeweißen Mirabellenbusch und niemand suchte ihn auf, weil man persönliche Kontakte ja vermeiden sollte. Gottlob war vor einer Woche seine Telefon- und Internet-Verbindung zusammengebrochen und ein Mobiltelefon besaß er nicht, das lehnte er kategorisch ab. Er war nun ganz auf sich zurückgeworfen, ging jeden Morgen ins Gemeindebüro, hörte dort den Anrufbeantworter ab, sah die Post durch, rief Leute zurück, erteilte der Verwaltungskraft Arbeitsaufträge fürs Homeoffice und hatte zu seiner großen Erleichterung schon seit einer Woche niemanden mehr beerdigen müssen.
Er war ganz auf sich selbst zurückgeworfen, spürte den wärmenden Wollstoff auf seiner Haut, der ihm die gefährliche Frühlingskühle vom Leib hielt, spürte den Puls in seinen Adern, den Geschmack auf der Zunge, wie der Atem in seine Lungen strömte und sie wieder verließ, wo sein Körper den Boden und den Stuhl berührte, wie die Schwerkraft ihn mit der Erde verband. Er hörte in sich hinein, hörte es brausen und tosen. So viel war da in ihm, das ans Licht wollte und immer nicht konnte, weil es permanent zu Störungen kam. Doch jetzt begann es sich Bahn zu brechen, wie der Keimling aus einem Samenkorn, der mit aller Kraft, die über ihm verdichtete, lehmige Erde durchbrach. Alle Weisheit und Erkenntnis dieser Welt schlummerte in ihm und nun erwachte sie, um sich schon bald in voller Pracht zu entfalten.
Da! Verdammt. Dieses entsetzliche, schrille Geräusch, Inbegriff der Unterbrechung, seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Wer wollte denn jetzt etwas von ihm? Das konnte doch nur die wabernde Waltraud sein, die ihn mit einer überwürzten Pizza-Suppe verköstigen, bestechen, verführen oder einfach nur ihren überkochenden Gefühlen Ausdruck verleihen wollte. Er hatte bereits den unappetitlichen Geruch von Schweinehack und minderwertigem Schmelzkäse in der Nase, alles in ihm sträubte sich, die Tür zu öffnen, dennoch erhob er sich pflichtschuldig von seinem Stuhl und schritt schwerfällig zur Haustür.
Durch das Fenster erblickte er einen Mann, der von der Haustür abgewandt auf die Straße blickte. Es würde nicht mehr lange dauern, dann ständen die Bettler vor seiner Tür und würden nebenbei telefonieren, wie es etliche bereits an der Supermarktkasse taten. Gereizt riss er die Haustür auf, doch bevor er ein barsches „Ja, bitte?“ hervorstoßen konnte, war der Mann schon in seiner Wohnung und zwei weitere, die direkt neben der Haustür gestanden hatten, kamen hinterher, schlossen die Tür, rangen ihn zu Boden. Sie rochen säuerlich, hielten ihm mit nach Nikotin stinkenden Fingern den Mund zu, dann hörte er das enervierende Geräusch von abgezogenem Reparaturband. Sie umwickelten seine Hand- und Fußgelenke damit und verschlossen ihm schließlich den Mund. Dann ließen sie ihn liegen und schwärmten aus. Idioten. Was gab es bei ihm schon groß zu holen? Die paar Kröten in der Diakonie-Kasse waren den Aufwand nicht wert. Er besaß keine Wertgegenstände wie Schmuck, Münzen oder handliche High-End-Geräte.
Das Atmen fiel ihm schwer. Die Nasenschleimhäute waren leicht geschwollen, er bekam nicht genug Luft, sein Herz raste und überall im Haus hörte er Schranktüren klappern, das polternde Ausleeren von Schubladen, schwere Schritte.
Irgendwann waren sie fertig. Sie verließen das Haus, wortlos, maskiert, bis sie ins Licht traten, ließen ihn liegen, schlossen die Haustür.
Frauke fühlte sich endlich frei und war heilfroh, dass sie die folgende Zeit der weitestgehenden sozialen Isolation nicht mit ihrem dauermürrischen Ehemann verbringen musste, sie hatte den Kontakt komplett abgebrochen und spürte die heilsame Wirkung des Abstands sich täglich entfalten.
Gemeindeglieder waren mit innerer Unruhe und verzweifelten Hamsterkäufen vollkommen ausgelastet. Ihren Pfarrer würden sie erst wieder brauchen, wenn die Ausgangssperre einsetzte.
Das Gemeindeleben war praktisch zum Erliegen gekommen, darum hatte man auch im Presbyterium kaum etwas zu tun.
Waltraud zerriss es das Herz, dass sie den Herrn Pfarrer nicht besuchen konnte. Sie wollte seine Gesundheit nicht gefährden und für ein Telefongespräch war sie nicht wortgewandt genug, hatte auch zu wenig Phantasie, um einen Grund für einen Anruf zu finden.
Man fand ihn erst nach ein paar Tagen, als es mehreren aufgefallen war, dass er nicht ans Telefon ging und auch nicht mehr im Gemeindebüro gewesen war.
Bestattet wurde er in aller Stille, mehr war nicht drin in der Krise, aber die Stille hatte er ja auch gewollt.
Doch Woche für Woche hatte er gelernt, mit den neuen Anforderungen des Alltags fertig zu werden, hatte feste Tage für seine Routine-Einkäufe, hatte gelernt, sich selbst etwas Schmackhaftes zu essen zuzubereiten und hatte zunehmend die störungsfrei Zeit in seinen eigenen vier Wänden genossen. Kein plärrendes Radio in der Küche, kein nervtötendes Herzkino im Wohnzimmer, keine geschäftige Gattin, die hier etwas ordnete, da etwas putzte, dort etwas zusammenrührte und ihn permanent mit Nichtigkeiten belästigte, seien es Neuigkeiten aus der Nachbarschaft, aktuelle politische Entwicklungen, die neuesten Zipperlein und ausführliche Berichte von Arztbesuchen, ihre Nörgeleien, weil er schmutzige Wäsche im Bad liegen ließ oder seinen Tee zu lautstark schlürfte.
Perfekt war es trotzdem nicht gewesen. Die Gemeinde hatte ihm kaum Ruhe gelassen. Neben den üblichen regelmäßigen Amtshandlungen wie Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen, hatte es immer Übergriffe auf sein Privatleben gegeben: Anrufe aufgeregter, wichtigtuerischer Presbyter, die ihre Schlaflosigkeit mit ihm teilen wollten, weil irgendein Haushaltsloch ihnen keine Ruhe ließ. Kurzfristig anberaumte Sitzungen aufgrund vermeintlicher Krisen, psychisch labile oder einsame Menschen, die den persönlichen Kontakt suchten für ein tröstendes Gespräch, abgebrannte Präkarier, die vor der Tür standen und es nicht dabei beließen, finanzielle Unterstützung in Anspruch zu nehmen, sondern versuchten, ihm ein schlechtes Gewissen zu machen, weil er sie nicht umfassend aus ihrem Elend rettete und ihnen so viel Unterstützung gewährte, dass sie für die nächsten Monate ausgesorgt hatten, die manchmal aggressiv wurden und versuchten, ins Haus zu kommen; hormonell übersteuerte Pastorenschwalben von unterirdischem Marktwert, die ihre heimliche Schwärmerei kaum verbergen konnten oder sich nicht einmal Mühe gaben, eine höfliche und angemessene Distanz zu halten.
Das war jetzt alles ausgesetzt, der Seuche sei Dank. Der stille, von hohen Hecken umsäumte Garten, war in goldenes Frühlingslicht getaucht, die Narzissen blühten um die Wette mit dem schneeweißen Mirabellenbusch und niemand suchte ihn auf, weil man persönliche Kontakte ja vermeiden sollte. Gottlob war vor einer Woche seine Telefon- und Internet-Verbindung zusammengebrochen und ein Mobiltelefon besaß er nicht, das lehnte er kategorisch ab. Er war nun ganz auf sich zurückgeworfen, ging jeden Morgen ins Gemeindebüro, hörte dort den Anrufbeantworter ab, sah die Post durch, rief Leute zurück, erteilte der Verwaltungskraft Arbeitsaufträge fürs Homeoffice und hatte zu seiner großen Erleichterung schon seit einer Woche niemanden mehr beerdigen müssen.
Er war ganz auf sich selbst zurückgeworfen, spürte den wärmenden Wollstoff auf seiner Haut, der ihm die gefährliche Frühlingskühle vom Leib hielt, spürte den Puls in seinen Adern, den Geschmack auf der Zunge, wie der Atem in seine Lungen strömte und sie wieder verließ, wo sein Körper den Boden und den Stuhl berührte, wie die Schwerkraft ihn mit der Erde verband. Er hörte in sich hinein, hörte es brausen und tosen. So viel war da in ihm, das ans Licht wollte und immer nicht konnte, weil es permanent zu Störungen kam. Doch jetzt begann es sich Bahn zu brechen, wie der Keimling aus einem Samenkorn, der mit aller Kraft, die über ihm verdichtete, lehmige Erde durchbrach. Alle Weisheit und Erkenntnis dieser Welt schlummerte in ihm und nun erwachte sie, um sich schon bald in voller Pracht zu entfalten.
Da! Verdammt. Dieses entsetzliche, schrille Geräusch, Inbegriff der Unterbrechung, seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Wer wollte denn jetzt etwas von ihm? Das konnte doch nur die wabernde Waltraud sein, die ihn mit einer überwürzten Pizza-Suppe verköstigen, bestechen, verführen oder einfach nur ihren überkochenden Gefühlen Ausdruck verleihen wollte. Er hatte bereits den unappetitlichen Geruch von Schweinehack und minderwertigem Schmelzkäse in der Nase, alles in ihm sträubte sich, die Tür zu öffnen, dennoch erhob er sich pflichtschuldig von seinem Stuhl und schritt schwerfällig zur Haustür.
Durch das Fenster erblickte er einen Mann, der von der Haustür abgewandt auf die Straße blickte. Es würde nicht mehr lange dauern, dann ständen die Bettler vor seiner Tür und würden nebenbei telefonieren, wie es etliche bereits an der Supermarktkasse taten. Gereizt riss er die Haustür auf, doch bevor er ein barsches „Ja, bitte?“ hervorstoßen konnte, war der Mann schon in seiner Wohnung und zwei weitere, die direkt neben der Haustür gestanden hatten, kamen hinterher, schlossen die Tür, rangen ihn zu Boden. Sie rochen säuerlich, hielten ihm mit nach Nikotin stinkenden Fingern den Mund zu, dann hörte er das enervierende Geräusch von abgezogenem Reparaturband. Sie umwickelten seine Hand- und Fußgelenke damit und verschlossen ihm schließlich den Mund. Dann ließen sie ihn liegen und schwärmten aus. Idioten. Was gab es bei ihm schon groß zu holen? Die paar Kröten in der Diakonie-Kasse waren den Aufwand nicht wert. Er besaß keine Wertgegenstände wie Schmuck, Münzen oder handliche High-End-Geräte.
Das Atmen fiel ihm schwer. Die Nasenschleimhäute waren leicht geschwollen, er bekam nicht genug Luft, sein Herz raste und überall im Haus hörte er Schranktüren klappern, das polternde Ausleeren von Schubladen, schwere Schritte.
Irgendwann waren sie fertig. Sie verließen das Haus, wortlos, maskiert, bis sie ins Licht traten, ließen ihn liegen, schlossen die Haustür.
Frauke fühlte sich endlich frei und war heilfroh, dass sie die folgende Zeit der weitestgehenden sozialen Isolation nicht mit ihrem dauermürrischen Ehemann verbringen musste, sie hatte den Kontakt komplett abgebrochen und spürte die heilsame Wirkung des Abstands sich täglich entfalten.
Gemeindeglieder waren mit innerer Unruhe und verzweifelten Hamsterkäufen vollkommen ausgelastet. Ihren Pfarrer würden sie erst wieder brauchen, wenn die Ausgangssperre einsetzte.
Das Gemeindeleben war praktisch zum Erliegen gekommen, darum hatte man auch im Presbyterium kaum etwas zu tun.
Waltraud zerriss es das Herz, dass sie den Herrn Pfarrer nicht besuchen konnte. Sie wollte seine Gesundheit nicht gefährden und für ein Telefongespräch war sie nicht wortgewandt genug, hatte auch zu wenig Phantasie, um einen Grund für einen Anruf zu finden.
Man fand ihn erst nach ein paar Tagen, als es mehreren aufgefallen war, dass er nicht ans Telefon ging und auch nicht mehr im Gemeindebüro gewesen war.
Bestattet wurde er in aller Stille, mehr war nicht drin in der Krise, aber die Stille hatte er ja auch gewollt.
... link (0 Kommentare) ... comment
Samstag, 14. März 2020
Die zehnte Plage
c. fabry, 20:37h
„Jetzt ist es soweit. Die neunte Plage ist gekommen und bis zur zehnten wird es nicht mehr lange dauern, denn sie kehren noch immer nicht um. Kaum jemand erkennt die Zeichen.
Die erste Plage hat schon in den Achtzigerjahren begonnen: AIDS hat im Laufe der Jahre mehrere Millionen Menschen getötet und bis heute gibt es weder Impfung noch Heilung – von zwei Ausnahmewundern abgesehen.
Dann folgte die zweite Plage: Gletscher und Polareis begannen aufgrund der Erderwärmung deutlich zu schmelzen, die Weltmeeresspiegel stiegen an, bewohnte, pazifische Inseln versanken für immer.
Die dritte Plage war das exorbitante Seebeben mit dem darauf folgenden, verheerenden Tsunami, der fast eine Viertelmillion Menschenleben gefordert und eine unglaubliche Spur der Verwüstung hinterlassen hat.
Immer mehr Kriege haben weltweit für Vertreibung und Flucht gesorgt, die Geflüchteten mussten erbittert um einen neuen Platz und ihre Existenz kämpfen, viele haben den Kampf verloren und von denen, die fortan ihren Platz teilen mussten, wurden die neu hinzugekommenen Menschen als Bedrohung erlebt. Das war die vierte Plage.
Die fünfte Plage war bald nicht mehr zu übersehen: unendliche Mengen von Plastik fand sich in den Weltmeeren, tötete Pflanzen und Tiere und gelangte in die Nahrungskette der Menschen, um sie krank zu machen.
Wie von selbst kam nun die sechste Plage: überall schossen Faschisten und Populisten wie Pilze aus dem Boden und die Menschen in ihrer Torheit und Bosheit gaben ihnen Macht über sich.
Die siebte Plage folgte auf den Fuß: Hitze und Trockenheit ließen die Ernten verbrennen und dezimierten die Trinkwasservorräte. Doch sie erkannten noch immer nichts.
Die achte Plage brachte Stürme und Überschwemmungen, doch die Menschen machten wie gewohnt weiter und ignorierten die Warnungen des HERRN.
Nun ist also die neunte Plage gekommen. Das Virus hält sie fest im Würgegriff, hat schon viele Tausende getötet und wird weiter töten. Die Mächtigen indes, die es auf welchem Weg auch immer in die Welt gebracht haben, nutzen die Angst und Unsicherheit, um die Massen unter ihre vollkommene Kontrolle zu bringen.
Kein Zeichen der Einsicht bei den Menschen, keine Bereitschaft zur Umkehr, um für die Wiederkunft des HERRN bereit zu sein. Bald wird die zehnte Plage kommen: die Tötung aller Erstgeburten durch den Engel des HERRN. Und dieser Engel bin ich selbst.
Ich hatte einen Traum – was sage ich – ein Gesicht, eine Vision, eine Offenbarung des HERRN. Er gab mir das spitze, zweischneidige, flammende Schwert in die Hand, eine Lilienblüte bildete Heft und Griff und ich hörte seine donnernde Stimme sagen: ‚Bereite dem HERRN den Weg, denn siehe, die Himmel sind nahe herbei gekommen, es ist an der Zeit und das Blut der Stammhalter der Verderbten soll den ausgedörrten Boden benetzen und ihm seine Fruchtbarkeit zurück bringen.‘
Und ich sah mich selbst, wie ich all die Erstgeburten vernichtete und wie das Land sich rot färbte und wie dann überall das Grün aus dem Boden schoss und der Himmel blauer als blau wurde und die helle Sonne alles in goldenes Licht tauchte und die Seraphinen und Cherubim sangen mit glockenhellen Stimmen und der HERR selbst stieg aus den Himmeln und machte alles neu.“
Renan hat die Verrückte im letzten Moment zu Boden gerungen, bevor sie Hakan das lange, spitze Fleischmesser in den Leib rammen konnte. Um sie herum stehen die Leute mit offenen Mündern, ihre Einkaufswagen schützend vor sich, wie eingefroren, als warteten sie auf den Retter.
„Verdammt!“, brüllt Renan. „helft mir dieses Ungeheuer festzuhalten. Ruft die Polizei!“
Die Umstehenden rühren sich noch immer nicht. Die einen glotzen, die anderen gehen einfach weiter, nur weg aus der Gefahrenzone. Schließlich haben sie nichts damit zu tun. Am Ende bekommt man noch einen Messerstich ab, nein nein, das ist sicher eine Stammesfehde, irgendeine Türkenmafia-Geschichte, das sollen die mal schön unter sich ausmachen. Womöglich hat noch einer von denen Corona, denen kommt man besser nicht zu nahe.
Hakan wählt einen aus, der besonders stark aussieht. Er hat große, kräftige Beine, sehr breite Schultern und einen Kopf wie der Mann auf der Flasche mit dem Reinigungsmittel. Seine schweren, schwarzen Stiefel mit den weißen Schnürsenkeln machen den Eindruck, als wenn ihn nichts und niemand umhauen könnte. Hakan geht auf ihn zu und sagt: „Du bist groß und stark. Kannst du meiner Mama helfen?“
Der große Mann sieht ihn lange an. Zuerst so, als sehe er durch den kleinen Jungen hindurch. Aber die Hilfsbedürftigkeit und das große Vertrauen in Hakans Augen beschämen ihn. Er kann doch einen kleinen Jungen und eine Mutter nicht hängen lassen, dann wäre er kein Kerl. Er löst sich aus seiner Starre und eilt zur Hilfe. Als sie das sieht, kommt Bewegung in eine junge Frau, die ruft die Polizei.
„Diesmal war Satan stärker als ich. Aber der HERR wird kommen, das kann Satan nicht verhindern. Der HERR wird siegen. Und ich werde sein Engel sein.“
Die erste Plage hat schon in den Achtzigerjahren begonnen: AIDS hat im Laufe der Jahre mehrere Millionen Menschen getötet und bis heute gibt es weder Impfung noch Heilung – von zwei Ausnahmewundern abgesehen.
Dann folgte die zweite Plage: Gletscher und Polareis begannen aufgrund der Erderwärmung deutlich zu schmelzen, die Weltmeeresspiegel stiegen an, bewohnte, pazifische Inseln versanken für immer.
Die dritte Plage war das exorbitante Seebeben mit dem darauf folgenden, verheerenden Tsunami, der fast eine Viertelmillion Menschenleben gefordert und eine unglaubliche Spur der Verwüstung hinterlassen hat.
Immer mehr Kriege haben weltweit für Vertreibung und Flucht gesorgt, die Geflüchteten mussten erbittert um einen neuen Platz und ihre Existenz kämpfen, viele haben den Kampf verloren und von denen, die fortan ihren Platz teilen mussten, wurden die neu hinzugekommenen Menschen als Bedrohung erlebt. Das war die vierte Plage.
Die fünfte Plage war bald nicht mehr zu übersehen: unendliche Mengen von Plastik fand sich in den Weltmeeren, tötete Pflanzen und Tiere und gelangte in die Nahrungskette der Menschen, um sie krank zu machen.
Wie von selbst kam nun die sechste Plage: überall schossen Faschisten und Populisten wie Pilze aus dem Boden und die Menschen in ihrer Torheit und Bosheit gaben ihnen Macht über sich.
Die siebte Plage folgte auf den Fuß: Hitze und Trockenheit ließen die Ernten verbrennen und dezimierten die Trinkwasservorräte. Doch sie erkannten noch immer nichts.
Die achte Plage brachte Stürme und Überschwemmungen, doch die Menschen machten wie gewohnt weiter und ignorierten die Warnungen des HERRN.
Nun ist also die neunte Plage gekommen. Das Virus hält sie fest im Würgegriff, hat schon viele Tausende getötet und wird weiter töten. Die Mächtigen indes, die es auf welchem Weg auch immer in die Welt gebracht haben, nutzen die Angst und Unsicherheit, um die Massen unter ihre vollkommene Kontrolle zu bringen.
Kein Zeichen der Einsicht bei den Menschen, keine Bereitschaft zur Umkehr, um für die Wiederkunft des HERRN bereit zu sein. Bald wird die zehnte Plage kommen: die Tötung aller Erstgeburten durch den Engel des HERRN. Und dieser Engel bin ich selbst.
Ich hatte einen Traum – was sage ich – ein Gesicht, eine Vision, eine Offenbarung des HERRN. Er gab mir das spitze, zweischneidige, flammende Schwert in die Hand, eine Lilienblüte bildete Heft und Griff und ich hörte seine donnernde Stimme sagen: ‚Bereite dem HERRN den Weg, denn siehe, die Himmel sind nahe herbei gekommen, es ist an der Zeit und das Blut der Stammhalter der Verderbten soll den ausgedörrten Boden benetzen und ihm seine Fruchtbarkeit zurück bringen.‘
Und ich sah mich selbst, wie ich all die Erstgeburten vernichtete und wie das Land sich rot färbte und wie dann überall das Grün aus dem Boden schoss und der Himmel blauer als blau wurde und die helle Sonne alles in goldenes Licht tauchte und die Seraphinen und Cherubim sangen mit glockenhellen Stimmen und der HERR selbst stieg aus den Himmeln und machte alles neu.“
Renan hat die Verrückte im letzten Moment zu Boden gerungen, bevor sie Hakan das lange, spitze Fleischmesser in den Leib rammen konnte. Um sie herum stehen die Leute mit offenen Mündern, ihre Einkaufswagen schützend vor sich, wie eingefroren, als warteten sie auf den Retter.
„Verdammt!“, brüllt Renan. „helft mir dieses Ungeheuer festzuhalten. Ruft die Polizei!“
Die Umstehenden rühren sich noch immer nicht. Die einen glotzen, die anderen gehen einfach weiter, nur weg aus der Gefahrenzone. Schließlich haben sie nichts damit zu tun. Am Ende bekommt man noch einen Messerstich ab, nein nein, das ist sicher eine Stammesfehde, irgendeine Türkenmafia-Geschichte, das sollen die mal schön unter sich ausmachen. Womöglich hat noch einer von denen Corona, denen kommt man besser nicht zu nahe.
Hakan wählt einen aus, der besonders stark aussieht. Er hat große, kräftige Beine, sehr breite Schultern und einen Kopf wie der Mann auf der Flasche mit dem Reinigungsmittel. Seine schweren, schwarzen Stiefel mit den weißen Schnürsenkeln machen den Eindruck, als wenn ihn nichts und niemand umhauen könnte. Hakan geht auf ihn zu und sagt: „Du bist groß und stark. Kannst du meiner Mama helfen?“
Der große Mann sieht ihn lange an. Zuerst so, als sehe er durch den kleinen Jungen hindurch. Aber die Hilfsbedürftigkeit und das große Vertrauen in Hakans Augen beschämen ihn. Er kann doch einen kleinen Jungen und eine Mutter nicht hängen lassen, dann wäre er kein Kerl. Er löst sich aus seiner Starre und eilt zur Hilfe. Als sie das sieht, kommt Bewegung in eine junge Frau, die ruft die Polizei.
„Diesmal war Satan stärker als ich. Aber der HERR wird kommen, das kann Satan nicht verhindern. Der HERR wird siegen. Und ich werde sein Engel sein.“
... link (0 Kommentare) ... comment
Freitag, 6. März 2020
Ziel unbekannt
c. fabry, 13:17h
Warme Milch mit Kurkuma – entzündungshemmend und gar nicht schlecht – besser als Ingwer. Man soll ja auf die Heilkräfte der Natur setzen – Apotheke Gottes und so. Wann sehen wir uns wieder? Wie oft noch? Das Leben ist eine Ansammlung von Zufällen, da hängt nichts zusammen. Sinn ist eine Illusion; und ob ich jetzt krank werde oder gesund bleibe, sterbe oder lebe, liebe oder hasse, ist irrelevant. Ich kämpfe um meinen Platz, mein Wohlbefinden, mein Leben genau wie alle anderen. Mal gewinnt man, mal verliert man und am Ende steht immer der Tod.
Sie kriegen mich nicht, dachte Corrie. Ich bin ihnen immer ein paar Schritte voraus. Sie halten mich für beherrschbar, berechenbar, besiegbar – aber sie irren sich. Andere von meinem Format verfolgen eine bestimmte Zielgruppe, besonders Schwache zum Beispiel. Ich töte wahllos – und sie finden die Tatwaffe nicht. Wenn sie den Mord entdecken, bin ich längst über alle Berge, bei den nächsten Opfern. Tausende habe ich schon erwischt – und es werden immer mehr. Niemand kann mir entkommen, wenn ich ihn haben will, das haben sie nur noch nicht begriffen. Ich werde die Erde heilen von diesem widerlichen Virus Mensch, damit die Wunden heilen, die Entzündungen abklingen können und die grüne Lunge wieder frei durchatmen kann.
Hausmittel, Gebete, Gottvertrauen – das sollte helfen – und wenn nicht, dann sehen wir weiter. Wir sehen uns wieder, so oder so. Das Leben ist eine Perlenkette der Ereignisse: bunt, schön, abwechslungsreich, manchmal geschmacklos, individuell und oft überraschend. Ob ich jetzt gesund bleibe oder krank werde, lebe oder sterbe, ist irrelevant. Entscheidend ist, dass ich liebe und nicht hasse, dass ich meinen Platz finde und ihn würdig ausfülle, dass ich mein Wohlbefinden nicht über das der anderen stelle. Mal habe ich Glück, mal muss ich leiden genau wie alle anderen und am Ende steht immer das Leben.
Sie kriegen mich nicht, dachte Corrie. Ich bin ihnen immer ein paar Schritte voraus. Sie halten mich für beherrschbar, berechenbar, besiegbar – aber sie irren sich. Andere von meinem Format verfolgen eine bestimmte Zielgruppe, besonders Schwache zum Beispiel. Ich töte wahllos – und sie finden die Tatwaffe nicht. Wenn sie den Mord entdecken, bin ich längst über alle Berge, bei den nächsten Opfern. Tausende habe ich schon erwischt – und es werden immer mehr. Niemand kann mir entkommen, wenn ich ihn haben will, das haben sie nur noch nicht begriffen. Ich werde die Erde heilen von diesem widerlichen Virus Mensch, damit die Wunden heilen, die Entzündungen abklingen können und die grüne Lunge wieder frei durchatmen kann.
Hausmittel, Gebete, Gottvertrauen – das sollte helfen – und wenn nicht, dann sehen wir weiter. Wir sehen uns wieder, so oder so. Das Leben ist eine Perlenkette der Ereignisse: bunt, schön, abwechslungsreich, manchmal geschmacklos, individuell und oft überraschend. Ob ich jetzt gesund bleibe oder krank werde, lebe oder sterbe, ist irrelevant. Entscheidend ist, dass ich liebe und nicht hasse, dass ich meinen Platz finde und ihn würdig ausfülle, dass ich mein Wohlbefinden nicht über das der anderen stelle. Mal habe ich Glück, mal muss ich leiden genau wie alle anderen und am Ende steht immer das Leben.
... link (0 Kommentare) ... comment
Freitag, 28. Februar 2020
Alles Wurst
c. fabry, 10:32h
Seltsame Fortbildung. Es war nicht einmal klar, ob die Kollegen, mit denen sie duschen ging, überhaupt Kollegen waren. Seltsames Bad, hatte irgendwie Wohnzimmeratmosphäre, mit Stoff-Vorhängen an einer Seite und drei Duschköpfen in der Mitte des Raums unter der Decke. Sie hatte auch einen Moment gezögert. Jetzt wirklich duschen? Konnte sie das bringen mit diesen beiden Kerlen? Der eine ein alter Sack, der andere in ihrem Alter aber auch nicht attraktiv, aber egal, sie würden schon nicht gewalttätig und falls sie sich etwas einbildeten, konnte sie sie sicher wieder auf den Teppich holen. Also zog sie sich aus. So standen sie zu dritt, dicht beieinander, wie rauchende Teenager im uneinsehbaren Teil des Schulhofs. Sie überlegte noch kurz, ob sie sich wirklich die Haare waschen sollte, hatte sie doch gerade gestern gemacht, war noch nicht nötig, aber ach, frische, duftige Haare waren ja auch ganz schön. Und die Typen waren auch mehr miteinander beschäftig, kein Grund zur Sorge, obwohl sie da so ein unterschwelliges Mal-gucken-ob-da-nicht-doch-was-geht spürte, aber das ließ sich ja, wie gesagt, abwenden. Dann flutschte ihr die Seife aus den Händen, schlitterte blitzschnell über die Fliesen, sodass sie nicht einmal auszumachen vermochte, wohin. Verdammt, muss ich mich jetzt nach der Seife bücken, so nackt wie ich bin? Blödes Klischee. Kurz und halbherzig halfen ihr die Typen bei der Suche, gaben aber schnell auf und waren wieder mit ihren Männerthemen beschäftigt, irgendetwas schrecklich Relevantes, was sie gar nicht interessierte. Sie suchte weiter nach der Seife, hinter der Kommode, unterm Waschbecken, hinter dem Vorhang, unauffindbar.
Trübes Licht fiel durch das kleine Fenster, es war warm unter der Decke, aber auch einsam. Sie sehnte sich nach liebkosenden Händen, war aber zu träge, um nach nebenan zu gehen, wo sie sich hätte holen können, was sie begehrte. Alles viel zu anstrengend. Sie griff nach dem Nachschlagewerk auf ihrem Nachttisch, las mit zusammengekniffenen Augen – die Lesebrille steckte noch in der Handtasche – Dusche, Seife, Nacktheit, unbekannter Mann...sie fühlte sich also schuldig, wollte sich davon befreien, schaffte es aber nicht. Welche Schuld konnte das sein? Nachlässigkeit bei der Reduktion des ökologischen Fußabdrucks? Außereheliche erotische Phantasien? Die kleinen Vertrauensbrüche, wenn sie sich im angeregten Gespräch verplapperte? Dass sie nicht all ihren mittelständischen Reichtum den Ärmsten der Armen überließ? Oder waren es die Gewaltphantasien, die sie zunehmend heimsuchten?
Als Kind hatte ihr noch die Vorstellung eines effektiven Kinnhakens gereicht, um boshafte Gesellen aus dem Weg zu räumen. Als Teenager träumte sie von der eigenen maschinengewehrsalvenartigen, wortgewaltigen Schlagfertigkeit, mit der sie ihre Gegner schachmatt setzen wollte. In den Zwanzigern erschrak sie zum ersten Mal heftig über sich selbst, als sie sich bei der Vorstellung ertappte, einen renitenten Jugendlichen so lange vor die Wand zu klatschen, bis das Blut spritzte. Aus der Nummer war sie herausgekommen, indem sie mit ihrem Chef darüber redete, eine Idee davon bekam, dass das Objekt ihres Hasses ein elendes Opfer seiner Verhältnisse war und so hatte sie sich ihm mit systematischer Pädagogik zugewandt, war durch die Schale seiner Abwehr zu seiner verletzten Seele durchgedrungen und hatte sich um Heilung bemüht, tatsächlich mit Erfolg. Aus dem Enfant terrible mit der Schwerverbrecherprognose war ein erfolgreicher, bürgerlicher Unternehmer geworden, mit reizender Gattin und ehrenwerter Presse. Seitdem hatte sie sich bei jedem garstigen Jungspund immer dieses Geschichte vor Augen geführt und sich in Empathie geübt, sich auch vom Scheitern nicht entmutigen lassen, denn sie scheiterte ja nicht jedes Mal.
In den Dreißigern hatte das Gewaltpotential dann noch einmal angezogen. Da hatte sie nach der Lektüre eines Emma-Artikels über die Lage der Frauen in Afghanistan den glühenden Wunsch verspürt, sich bewaffnet mit einer Kalaschnikow in dieses Land zu begeben und die ganzen Frauenverächter wegzublasen, rattattattattatt umgemäht, bestraft, vernichtet. Sie wusste natürlich, dass sie dazu nicht in der Lage war, ebensowenig wie zum Kinnhaken Verteilen oder zum Mundtotlabern mit flotten Sprüchen. Außerdem wusste sie auch, dass ein solches Vorgehen kein einziges Problem löste. Nicht einmal ein Tyrannenmord würde die Welt verbessern. Nicht Trump, Erdogan, Putin, Kim Jong Un, Johnson, Orban usw. waren das Problem. Das Problem waren die Leute, die diesen Brüllaffen ihre Stimme gaben, die ihre Macht legitimierten, die kein Erbarmen hatten mit denen, die darunter zu leiden hatten. Und wo war da ihre Schuld? Sie hatte die Neofaschisten in ihrem Land nicht gewählt, nicht einmal ihre Steigbügelhalter.
Der Türklopfer riss sie aus ihren Gedanken. Wer konnte das sein? Der Postbote benutzte immer die Klingel, der Schornsteinfeger auch. Sie schälte sich aus dem warmen Bett, schlüpfte in den weißen Badmantel, band ihn ordenlich zu und fuhr sich mit den Fingern duch die von der Nacht zerwühlten Haare. Durch das gefrostete Glas konnte sie keine bekannte Kontur entdecken. Sie öffnete neugierig die Haustür und da stand er. Sie erkannte ihn sofort an seinen Zorn versprühenden kleinen, grauen Augen. So ein armes, kleines Würstchen war er gewesen. Gekümmert hatten sie sich um ihn, sich seine Geschichte angehört, seine kruden Ansichten, mit ihm diskutiert, ihn ihre Sorge spüren lassen, ihn gewarnt, als sie Kenntnis davon hatten, dass er auf einer Abschussliste stand. Sie hatte so sehr gehofft, das er die Kurve kriegen würde, sich von dem Wahnsinn abwenden würde, in den er da geraten war. Neulich hatte sie ihn gegoogelt. Auf seiner Facebookseite war ein Foto von einem Nazi-Konzert zu sehen, ein moderner Reichsparteitag, alle streckten den rechten Arm schräg nach oben,straff, stählern und zum Töten bereit. Er war kein armes kleines Würstchen mehr. Er war eine arme große Wurst und absolut nicht mehr zu retten. Aber was wollte er bei ihr?
„Anja Delacroix?“ fragte er und sprach ihren Nachnamen „Delakreuks“ aus. „Delacroix“, verbesserte sie ihn instinktiv.
„Auch noch 'ne Franzosenschlampe.“ Stieß er hervor. „Hab' ich dich endlich gefunden, du dreckige, linke Zecke. Ich hab's euch ja damals schon gesagt. Wir kriegen euch alle.“
Wie kam er dazu nach fast dreißig Jahren hier vor ihrer Tür zu stehen. Sie überlegte schnell, was sie erwidern sollte, doch bevor sie antworten konnte, blickte sie schon in das kalte, schwarze, frisch geölte Metallrohr, spürte kurz so ein unangenehmes Ziehen, zuerst im Nacken, dann im ganzen Rücken, sah dann in das orangerote Mündungsfeuer. Der weiße Bademandel färbte sich rot. Wäre ihr Haar noch schwarz gewesen, hätte sie glatt als Schneewittchen durchgehen können.
Auf ihrem Grabstein stand nichts. Ihre Asche wurde in einem Friedwald beigesetzt. Und die große Wurst wurde nicht erwischt. Dieses Mal nicht.
Trübes Licht fiel durch das kleine Fenster, es war warm unter der Decke, aber auch einsam. Sie sehnte sich nach liebkosenden Händen, war aber zu träge, um nach nebenan zu gehen, wo sie sich hätte holen können, was sie begehrte. Alles viel zu anstrengend. Sie griff nach dem Nachschlagewerk auf ihrem Nachttisch, las mit zusammengekniffenen Augen – die Lesebrille steckte noch in der Handtasche – Dusche, Seife, Nacktheit, unbekannter Mann...sie fühlte sich also schuldig, wollte sich davon befreien, schaffte es aber nicht. Welche Schuld konnte das sein? Nachlässigkeit bei der Reduktion des ökologischen Fußabdrucks? Außereheliche erotische Phantasien? Die kleinen Vertrauensbrüche, wenn sie sich im angeregten Gespräch verplapperte? Dass sie nicht all ihren mittelständischen Reichtum den Ärmsten der Armen überließ? Oder waren es die Gewaltphantasien, die sie zunehmend heimsuchten?
Als Kind hatte ihr noch die Vorstellung eines effektiven Kinnhakens gereicht, um boshafte Gesellen aus dem Weg zu räumen. Als Teenager träumte sie von der eigenen maschinengewehrsalvenartigen, wortgewaltigen Schlagfertigkeit, mit der sie ihre Gegner schachmatt setzen wollte. In den Zwanzigern erschrak sie zum ersten Mal heftig über sich selbst, als sie sich bei der Vorstellung ertappte, einen renitenten Jugendlichen so lange vor die Wand zu klatschen, bis das Blut spritzte. Aus der Nummer war sie herausgekommen, indem sie mit ihrem Chef darüber redete, eine Idee davon bekam, dass das Objekt ihres Hasses ein elendes Opfer seiner Verhältnisse war und so hatte sie sich ihm mit systematischer Pädagogik zugewandt, war durch die Schale seiner Abwehr zu seiner verletzten Seele durchgedrungen und hatte sich um Heilung bemüht, tatsächlich mit Erfolg. Aus dem Enfant terrible mit der Schwerverbrecherprognose war ein erfolgreicher, bürgerlicher Unternehmer geworden, mit reizender Gattin und ehrenwerter Presse. Seitdem hatte sie sich bei jedem garstigen Jungspund immer dieses Geschichte vor Augen geführt und sich in Empathie geübt, sich auch vom Scheitern nicht entmutigen lassen, denn sie scheiterte ja nicht jedes Mal.
In den Dreißigern hatte das Gewaltpotential dann noch einmal angezogen. Da hatte sie nach der Lektüre eines Emma-Artikels über die Lage der Frauen in Afghanistan den glühenden Wunsch verspürt, sich bewaffnet mit einer Kalaschnikow in dieses Land zu begeben und die ganzen Frauenverächter wegzublasen, rattattattattatt umgemäht, bestraft, vernichtet. Sie wusste natürlich, dass sie dazu nicht in der Lage war, ebensowenig wie zum Kinnhaken Verteilen oder zum Mundtotlabern mit flotten Sprüchen. Außerdem wusste sie auch, dass ein solches Vorgehen kein einziges Problem löste. Nicht einmal ein Tyrannenmord würde die Welt verbessern. Nicht Trump, Erdogan, Putin, Kim Jong Un, Johnson, Orban usw. waren das Problem. Das Problem waren die Leute, die diesen Brüllaffen ihre Stimme gaben, die ihre Macht legitimierten, die kein Erbarmen hatten mit denen, die darunter zu leiden hatten. Und wo war da ihre Schuld? Sie hatte die Neofaschisten in ihrem Land nicht gewählt, nicht einmal ihre Steigbügelhalter.
Der Türklopfer riss sie aus ihren Gedanken. Wer konnte das sein? Der Postbote benutzte immer die Klingel, der Schornsteinfeger auch. Sie schälte sich aus dem warmen Bett, schlüpfte in den weißen Badmantel, band ihn ordenlich zu und fuhr sich mit den Fingern duch die von der Nacht zerwühlten Haare. Durch das gefrostete Glas konnte sie keine bekannte Kontur entdecken. Sie öffnete neugierig die Haustür und da stand er. Sie erkannte ihn sofort an seinen Zorn versprühenden kleinen, grauen Augen. So ein armes, kleines Würstchen war er gewesen. Gekümmert hatten sie sich um ihn, sich seine Geschichte angehört, seine kruden Ansichten, mit ihm diskutiert, ihn ihre Sorge spüren lassen, ihn gewarnt, als sie Kenntnis davon hatten, dass er auf einer Abschussliste stand. Sie hatte so sehr gehofft, das er die Kurve kriegen würde, sich von dem Wahnsinn abwenden würde, in den er da geraten war. Neulich hatte sie ihn gegoogelt. Auf seiner Facebookseite war ein Foto von einem Nazi-Konzert zu sehen, ein moderner Reichsparteitag, alle streckten den rechten Arm schräg nach oben,straff, stählern und zum Töten bereit. Er war kein armes kleines Würstchen mehr. Er war eine arme große Wurst und absolut nicht mehr zu retten. Aber was wollte er bei ihr?
„Anja Delacroix?“ fragte er und sprach ihren Nachnamen „Delakreuks“ aus. „Delacroix“, verbesserte sie ihn instinktiv.
„Auch noch 'ne Franzosenschlampe.“ Stieß er hervor. „Hab' ich dich endlich gefunden, du dreckige, linke Zecke. Ich hab's euch ja damals schon gesagt. Wir kriegen euch alle.“
Wie kam er dazu nach fast dreißig Jahren hier vor ihrer Tür zu stehen. Sie überlegte schnell, was sie erwidern sollte, doch bevor sie antworten konnte, blickte sie schon in das kalte, schwarze, frisch geölte Metallrohr, spürte kurz so ein unangenehmes Ziehen, zuerst im Nacken, dann im ganzen Rücken, sah dann in das orangerote Mündungsfeuer. Der weiße Bademandel färbte sich rot. Wäre ihr Haar noch schwarz gewesen, hätte sie glatt als Schneewittchen durchgehen können.
Auf ihrem Grabstein stand nichts. Ihre Asche wurde in einem Friedwald beigesetzt. Und die große Wurst wurde nicht erwischt. Dieses Mal nicht.
... link (0 Kommentare) ... comment
... older stories