Freitag, 18. Januar 2019
Das hatte Michelangelo nicht gewollt
Levke fröstelte. Und dunkel war es auch. Hatte wohl niemand mitbekommen, dass sie noch auf der Toilette gewesen war. Sie tastete sich durch das dunkle Foyer. Zumindest die Bodenfliesen waren hell, wenn auch im hässlichen Siebzigerjahre-Look, so eine Mischung aus Waschbeton, Marmor und Terrazzo. Kalt und rutschig. Sie hatte vergessen, wo sich die Lichtschalter befanden. Sie erinnerte sich, wie man sich aus einem Labyrinth befreite, tastete sich konsequent an der rauen Klinkerwand entlang; irgendwann käme die Haustür von allein. Kam sie auch, aber sie war verschlossen. Verriegelt und verrammelt. Wie sollte sie das Haus verlassen? Sie zog das Telefon aus der Tasche. Der Akku war leer, na toll! Und an den Festnetzapparat im Gemeindebüro kam sie auch nicht heran. Die Fenster im Erdgeschoss waren nur mit einem Schlüssel zu öffnen. Tränen der Verzweiflung stiegen auf. Sie wollte nicht die ganze Nacht in diesem kalten, unwirtlichen Gemeindehaus verbringen, allein und von allen verlassen. Doch dann hatte sie eine Idee: Wenn sie den Lichtschalter fand, würde sie einfach permanent das Licht an- und ausknipsen. Das musste irgendwann jemandem auffallen und der könnte dann Hilfe holen, Pfarrer oder Küster Bescheid sagen, die hatten ja einen Schlüssel.
Doch dann breitete sich Erleichterung in ihr aus: Sie hörte ein Geräusch, da war doch noch jemand im Haus. Sie war gerettet – oder zumindest nicht allein. Vielleicht geschah ja jetzt das Unglaubliche und Paradiesische, vielleicht hatte David sich das für sie ausgedacht. Ihr Herz hämmerte.
„Hallo?“
Keine Antwort.
„Hallo? Wer ist da noch? Ich bin's, Levke Kopaz, ich bin hier im Foyer, die haben mich eingeschlossen. Hallo?“
Totenstille.
Hatte sie sich das Geräusch nur eingebildet?
Doch, da war es wieder. Ein leises Klappern, so wie behutsam sich nähernde Schritte. Warum antwortete die Person nicht? War das vielleicht ein schlechter Scherz?
„Ich finde das jetzt langsam nicht mehr witzig!“, schimpfte Levke. Sie hörte die Schritte wieder, konnte aber in der Dunkelheit keine Richtung ausmachen, sie schienen von verschiedenen Seiten zu kommen.
Jemand packte zu, griff ihr von hinten an die Handgelenke und führte ihre Hände hinter den Rücken. Bis zum Anschlag. Es tat sehr weh, sie schrie auf. Vor ihre Augen war ein Schatten, der drängte ihr entgegen. Bevor sie gewahr wurde, dass es sich um einen schwarz gekleideten, maskierten Mann handelte, hatte er sich schon an sie gepresst und nestelte an ihrer Jacke. Sie versuchte, sich aus dem stahlharten Griff des Hintermanns zu befreien, wehrte sich, versuchte zu treffen. Der Vordermann schlug ihr hart ins Gesicht. Zwei mal, kurz hintereinander. Sie schmeckte Blut. Benommen bemühte sie sich, auf den Beinen zu bleiben.
Es gelang ihr, sich aus dem Klammergriff zu winden, sie schlug um sich, griff zunächst ins Leere, dann bekam sie etwas zu fassen, mit dem sie ihren wehrhaften Schlägen mehr Wucht verleihen konnte.
Plötzlich lag sie am Boden und blickte mit schreckgeweiteten Augen in die Dunkelheit. Es war seltsam still. Noch seltsamer war, dass der schnöde Steinfußboden sich unter ihrem Körper ganz warm und weich anfühlte. Sie wollte gerade zusätzlich in Panik geraten, weil sie diese Empfindung für ein einsetzendes Taubheitsgefühl hielt, doch dann entspannte sie sich: Sie lag im Bett. Sie hatte das alles nur geträumt.
Das Nachthemd war komplett nass geschwitzt. Ihr Mund fühlte sich trocken an und der Traum war so realistisch gewesen, dass jetzt noch ihre Wangen von den harten Schlägen schmerzten. Sie stand auf, um sich in der Küche ein Glas Wasser einzuschenken. Die Beine zitterten noch immer, dabei war sie doch in Sicherheit. Vor wem hatte sie solche Angst? Niemand im Chor bedrohte sie oder machte ihr unangenehme Avancen, ganz im Gegenteil, sie wartete sehnsüchtig auf ein Signal von David, aber der war immer so beherrscht, vielleicht interpretierte sie in seine Blicke mehr glühende Leidenschaft, als da tatsächlich vorhanden war.
Das leicht sprudelnde Mineralwasser tat gut und allmählich stand sie wieder sicher und fest auf ihren Beinen. Kann ich ja auch gleich noch aufs Klo gehen, wo ich schon einmal aufgestanden bin – dachte sie.
Es lohnte sich und nach dem Toilettengang wusch sie sich selbstverständlich die Hände. Beim Blick in den Spiegel zuckte sie zusammen: aus ihrer Unterlippe sickerte Blut und der obere Teil ihres Nachthemdes war voll davon. Wie konnte eine so langsam blutende Wunde so viele Flecken verursachen? Sie musste sich festhalten. Die Beine zitterten wieder. Nur schnell ins Bett und dann vielleicht einen Krankenwagen rufen. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr.
Sie warf sich auf die Matratze und atmete schnell und heftig. Das Bett war nass geschwitzt. Oder war ihr Blut auch ins Laken gezogen? Sie knipste die Nachttischlampe an und setzte sich auf. Und dann wurde es schlagartig dunkel.
Als sie wieder zu sich kam, lag sie noch immer im Bett. Sie fühlte sich, als sei sie schon tot, so kalt und starr, als könne sie sich nie wieder bewegen. Doch dann kam das Zittern und sie wusste nicht, ob es der Unterkühlung oder dem schrecklichen Anblick geschuldet war, der sie in die Ohnmacht hatte sinken lassen. David lag neben ihrem Bett, die Augen weit geöffnet und erstarrt, aus seiner Schläfe hatte sich ein dicker Blutstropfen Bahn gebrochen und neben ihm lag die Marmor-Figur aus Carrara: Michelangelos David als Miniatur, aber groß genug, um diesen David seinem Schöpfer zurückzugeben.

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Samstag, 12. Januar 2019
Kleine Biester - Kurzkrimi
Es tat immer noch weh, ein bisschen. Aber das Doppeltsehen war verschwunden und es war ja nicht einmal eine Woche vergangen, seit dem. Eigentlich tat es auch nur weh, wenn man an die Wunde fasste, musste ja genäht werden, da hatten die Kameraden ziemlich übertrieben. Aber die Rechnung war aufgegangen. Niemand behauptete in der Öffentlichkeit, es seien nicht die elenden Zecken gewesen. Nur dass Hinrich den Quatsch mit dem Kantholz oben drauf gesetzt hatte, war wirklich dumm gewesen, er hätte sich den Film vorher einmal richtig ansehen müssen, dann wäre ihm klar gewesen, dass diese Behauptung in der Luft zerrissen würde. Sah man ja auch an den Verletzungen, dass hier nur Schläge, Tritte und Hautkontakt zum Straßenpflaster die Ursachen gewesen waren. Aber immerhin lag er nicht mehr in diesem miefigen Krankenhaus, wo versiffte und verkeimte Ärzte und Pfleger aus Pusemuckel einen womöglich kranker machten als man schon war. Zumindest hatte der Einsatz sich gelohnt. In der öffentlichen Meinung waren die Soll- und die Haben-Seiten wieder ausgeglichen. Und selbst wenn der eine oder andere spitzfindige Ermittler mit Linksdrall ihnen drauf käme: beweisen könnte er das nie und nimmer. Nächste Woche wäre alles verheilt und er würde endlich wieder durchstarten.
Das Blutgerinnsel hatten die Ärzte übersehen. Passierte praktisch nie, aber da hatte wohl einer gehofft, dass die kleine Ansammlung von Thrombozyten erledigen würde, was die Angreifer vermieden hatten. Klappte nicht ganz. Er überlebte es, aber er hätte es vorgezogen, in Walhalla einzuziehen.

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Freitag, 4. Januar 2019
Alles muss raus - lyrischer Kurzkrimi zum neuen Jahr
Es rieselt schon der Tannenbaum,
die Weihnachtsäpfel werden faul,
der Freude Nachklang spürt sie kaum.
Der Vater fährt ihr übers Maul

Die Fortbildung ist morgen schon,
der Koffer ist auch schon gepackt.
Die Pflegerin am Telefon
versorgt den Vater nächste Nacht.

Übermorgen kommt sie nach Haus:
ein Kampf um Leben oder Tod;
beim Fortbilden, da kam es raus:
der Vater war ein alter Lot.

Nicht wie die Bibel es beschrieb
- da lag die Schuld stets bei der Frau -
so wie der Lot es wirklich trieb:
der Vater war brutal und blau.

Der Tannenbaum fliegt vor die Tür,
die Äpfel holen sich die Spatzen,
das bunte Zeug ins Altpapier,
der Vater wässert die Matratzen.

Die Kekse kommen in den Müll,
die Kerzen fliegen hinterher
dann wird es irgendwann sehr still.
Der Vater, ja der ist nicht mehr.

Schon morgen holen sie ihn ab
einfache Fahrt, mit ihm ist's aus
das Kind in ihr, es litt und starb.
Der Vater auch, alles muss raus.

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Samstag, 29. Dezember 2018
The Day After - weihnachtlicher Kurzkrimi
„Es ist vollbracht!“ stieß Tessa hervor. Sie war wirklich heilfroh, dass sie keinen festen Partner hatte, mit dem sie das Ritual ebenfalls hätte vollziehen müssen. Sie lag da in ihrem kuscheligen Bett, es herrschte absolute Ruhe im Haus, alle anderen waren auswärts zur zweiten Runde Gans mit Rotkohl, Feuerzangenbowle und Familiensystemfehler-bedingtem Spontanerbrechen. Sie dagegen würde gleich den ganzen Zimt und Honigkerzenduft wegduschen, ausgiebig frühstücken und es sich mit der neuen Krimischwarte auf dem Sofa gemütlich machen. Sie würde keinesfalls ans Telefon gehen, die Tür nicht öffnen, das Smartphone war ausgeschaltet, endlich Weihnachten!
Doch schon beim Frühstück spürte sie, dass die Gespenster vom Vortag sie noch nicht aus ihren Klauen ließen. Ihr großer Bruder Robert war ja ganz umgänglich gewesen, hatte sich aber meistens schweigend im Hintergrund gehalten. Seine Frau Gesine dagegen war wie immer in Höchstform gewesen, trat in jeden Fettnapf und wenn keiner aufgestellt war, dann suchte sie sich einen. „Und mit wem hast Du dieses Jahr Heilig Abend verbracht, Tessa?“ „Ob wir Edeltraud wohl nächstes Jahr im Pfelgeheim besuchen müssen? Ich meine ja nur, Friedhelm ist auch nicht mehr der Jüngste. Und auf seine Töchter kann er nicht zählen.“ „Ach ja, der Robert hat ja auch schon einmal über eine Haartransplantation nachgedacht, aber das ist viel zu teuer und älter wird man trotzdem, da kann man noch so viel an sich machen lassen, das ist trotzem nicht zu übersehen.“
Übertroffen wurde Gesine nur von Tessas großer Schwester Hanna, die darauf erwiderte: „Stimmt, da hilft kein Schlupflider-Lifting, keine Collagen-Spritzen in die plissierten Lippen, keine Fettaubsaugung und keine Besenreiserverödung, wenn das Hirn alt ist, die unsportlichen Knochen klapprig und die Esslust größer als der Verstand. Da spart man lieber schon mal für die Beerdigung.“
Hanna war unmöglich, aber für diesen Hieb gegen die lästige Schwägerin liebte Tessa ihre Schwester von ganzem Herzen.
„War aber 'ne Schöne Beerdigung.“, bemerkte Tessas Mutter Edeltraut mit einem seelenvollen Lächeln.
„Wir sind hier auf keiner Beerdigung.“, wies Gesine sie barsch zurecht. „Es ist Weihnachten. Wir feiern die Geburt Christi und deine ganze Familie ist zusammengekommen.“
Edeltraut schwieg, behielt aber ihr entrücktes Lächeln bei. Friedhelm stapelte energisch das Kaffeegeschirr und trug es in die Küche. Tessa folgte ihm.
„Komm Papa“, sagte sie. „Ich räume das Geschirr in die Maschine“
„Oh, ist dir heute weihnachtlich zumute?“, fragte Friedhelm sarkastisch. „Gib dir keine Mühe. Wenn du dich das ganze Jahr nicht kümmerst, kannst du dich Weihnachten auch ruhig bedienen lassen.“
„Papa, ich wohne mehr als fünfhundert Kilometer weit weg. Ich muss arbeiten. Wie soll ich mich da kümmern?“
„Könntest dir ja hier in der Nähe was suchen.“
„Als Archivarin? Weißt du wie viele Stellen es da bundesweit gibt? Ich kann froh sein, wenn ich meinen Job behalte. Was tun denn Robert und Gesine? Und was ist mit Hanna und Helmut? Gehen die dir vielleicht zur Hand?“
„Hanna geht wenigstens ab und zu mit Mama Kleidung kaufen oder zum Frisör.“
„Ja“, entgegenete Tessa, „das, was ihr Spaß macht.“
Hanna hatte die Küche betreten. „Das macht schon lange keinen Spaß mehr.“, schnaubte sie. „Ich muss die ganze Zeit aufpassen, dass sie nicht wegläuft oder die Umkleidekabine mit einem Stehklo verwechselt. Aber das kann unser Nesthäkchen sich natürlich nicht vorstellen. Du siehst Mama ja nur zwei Mal im Jahr.“
„Drei Mal.“, korrigierte Tessa sie.
„Stimmt. Zu Papas Geburtstag kommst du ja auch und frisst dich durch.“
„Und was tut Robert?“, fragte Tessa angrifflustig.
„Robert ist Arzt.“, antwortete Friedhelm knapp, als würde das alles rechtfertigen. „Und seine Gesine backt uns zu jeder Familienfeier eine schöne Torte.“
„Coppenrath und Wiese.“, bemerkte Hanna. „Mit Eierlikör und frischen Maraschino-Kirschen verfeinert.“
„Bescherung!“, trällerte Gesine aus dem Wohnzimmer.
„Oh je!“, flüsterte Tessa. „Nicht schon wieder die Champagner-Trüffel mit 10000 Kalorien.“
„Aber Gesine isst die doch so gern.“, erwiderte Hanna. „Sicher blutet ihr jedes Mal das Herz, wenn sie sie zu Weihnachten abgeben muss, die edlen Pralinen.“
„Vielleicht sollte ich sie diesmal aufheben und sie ihr nächstes Jahr zu Weihnachten zurückschenken.“
„Hast du die etwa gegessen?“
„Bist du verrückt? Ich habe die direkt entsorgt. So was esse ich nicht.“

Es gab selbst gemachten Whisky-Sahne-Likör, keine Trüffel. Gesine hatte aufgerüstet. Sie wollte ihre Schwägerinnen nicht nur in die Fettleibigkeit treiben, sie wollte auch deren Lebern zerstören. Möglicherweise hatte sie etwas Crack untergemischt.

Sie waren ihr alle gehörig auf den Zeiger gegangen, nur ihrer Mutter konnte sie nichts übel nehmen, sie war ja völlig hilflos und am Ende hatte ihr sogar Hanna leidgetan, als sie im Flur auf Helmut, Hannas Ehemann, traf, der nervös auf seinem Handy herumtippte und sie ansah, als hätte sie ihn beim Masturbieren erwischt. Er sah sich sicher keine Damenwäsche-Annoncen an, stattdessen lief da womöglich etwas mit einer jungen Kollegin, gab ja haufenweise davon in der kirchlichen Jugendarbeit. Und Helmut war zwar ein alter Sack, hatte sich aber gut gehalten, viel besser als Hanna, die vom Hass auf ihre Eltern und ihre jüngeren Geschwister, wenn nicht gleich auf die ganze Welt regelrecht verzehrt wurde. Bei Hanna hätten auch keine Schönheitsoperationen mehr geholfen und sie musste furchtbar darunter leiden, denn sie hatte mindestens zwanzig Jahre lang keine Gelegenheit ausgelassen, ihrer kleinen Schwester unter die Nase zu reiben, dass sie im Gegensatz zu ihr haufenweise aufregenden Sex mit häufig wechselnden, hochattraktiven Partnern hatte. Das war schon eine ganze Weile vorbei und nun rächte Helmut sich weidlich. Ob er im nächsten Jahr wohl noch an der Damast-gedeckten Tafel Platz nehmen würde?

Das Buch lachte sie an. Sie goss sich ein großes Glas von Gesines Likör ein. Sehr süß, aber auch aromatisch, leicht torfig-rauchig mit einer feinen Kaffeenote. Sie versank in ihrem Krimi, sehr düster, sehr englisch, das Opfer war vergiftet worden, ein Gift, das einen langsam wegdämmern ließ, verabreicht in Champagner-Trüffeln und feinem Whisky-Likör.
ENDE

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