Freitag, 7. September 2018
Zwergenaufstand – ein krimifantastischer Vierteiler – Teil 1
Es geschah zu der Zeit im Lande Zworderos, als die weißen Giftzwerge wieder aus ihren Erdlöchern krochen und Angst und Schrecken verbreiteten, wie es seit jeher ihre Art gewesen war, als Rolo der Dottergelbe sich mit seinem alten Ohm besprach, wieso das alles geschah und was man dagegen unternehmen könne.
„Wo kommen die auf einmal alle her?“, fragte Rolo.
„Die waren die ganze Zeit da.“, antwortete der Ohm. „Normalerweise sieht man sie nicht, weil sie sich in ihren Löchern verkriechen, fernab der Sonne, darum sind sie auch so weiß.“
„Aber warum verkriechen sie sich?“
„Weil sie Angst haben. Und weil sie sich die meiste Zeit verkriechen, wird ihre Angst immer größer. Die Welt außerhalb ihrer Löcher wirkt übermächtig und lebensgefährlich auf sie, weil sie praktisch nichts kennen, was außerhalb ihrer Erdhöhlen liegt. Es ist ein Teufelskreis, aus dem sie nicht mehr heraus kommen.“
„Wie sind sie da hineingeraten?“
„Keine Ahnung. Die weißen Giftzwerge waren schon immer so, seit Zwergengedenken. Das wird von Generation zu Generation weitergegeben. Die haben das im Blut.“
„Aber wie kann man sie aus diesem Teufelskreis herausholen?“
„Indem man ihr Leiden beendet.“
„Wie bitte?“
„Na, du musst sie zerhacken, in den Boden rammen, verbrennen, zerschmettern, ertränken, häuten, was auch immer dir einfällt. Anders sind sie nicht kaputt zu kriegen.“
„Aber muss man sie gleich töten? Man könnte sie doch auch umerziehen.“
Der Ohm brach in schallendes Gelächter aus und sagte dann: „Eher rauche ich 'ne Camel durchs Nadelöhr, als dass ich einen Reichen in mein Himmelbett lasse und eher wird ein Riese zum Zwerg, als dass ein weißer Giftzwerg ein bunter Wunderzwerg wird. Die Torheit deiner Jugend vernebelt dir die Sinne. Zieh lieber los und mach so viele platt, wie du kannst.“
„Was schlägst du vor? Soll ich den Ring der Macht ins Feuer schmeißen oder Schwerter aus valyrischem Stahl in ihre kalten Herzen rammen?“
„Du hast zu viele Fantasy-Romane gelesen. Da hilft keine Magie, nur List und Tücke. Suche nach ihnen, schleiche dich an einzelne heran, immer schön einer nach dem anderen, still und leise. Die Giftzwerge sind so dumm; bis die merken, dass ihre Reihen sich lichten, sind sie schon so geschwächt, dass wir mit einem gezielten Überfall den Rest erledigen können.“

Schweren Herzens machte Rolo der Dottergelbe sich auf den Weg, mit nichts im Gepäck als seinem mäßigen Verstand, einem kleinen bisschen Mut und einer gigantischen Sehnsucht nach Frieden und Fröhlichkeit. Er liebte das bunte Zwuselland, selbst wenn auch hier bei weitem nicht alles zum besten stand, aber dafür waren die Regenbogenzwerge ja bunt und so verschieden in ihren Gaben, dass sie sich gemeinsam jeder noch so schweren Aufgabe stellten und vieles schöner und besser machten, als es vorher war.
Die weißen Giftzwerge entfärbten alles um sich herum. Mit ihnen verschwand die Freude aus der Welt, das Lachen, die Leichtigkeit, die Liebe, der Genuss und vor allem die Farben.

Es dauerte viele Tagesmärsche, bis er auf die ersten Erdhöhlen stieß. Dass es auch überall im Zwuselland weiße Giftzwerge gab, war ihm gar nicht aufgefallen, sie versteckten sich dort meistens, und wenn sie aus den Löchern kamen, verkleideten sie sich so geschickt als Regenbogenzwerge, dass man sich schon länger mit ihnen unterhalten musste, um sie zu entlarven. Er entschloss sich, den ersten, den er erwischte, nicht zu töten, sondern auszufragen, denn er musste unbedingt hinter das Geheimnis kommen, wie sie sich so rasant vermehrten, damit er dieses Unglück aufhalten konnte.

Fortsetzung folgt am kommenden Freitag

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Freitag, 31. August 2018
Rasierklingenmorde - abgeschlossener Kurzkrimi
„Der Rasierklingenmörder hat wieder zugeschlagen.“, begrüßt Keller seine junge Kollegin.
„Und diesmal?“
„Wieder ein Mann Anfang vierzig. Ebenfalls aus dem Freundeskreis der ersten drei Opfer. Holger Klapp heißt er.“
„Hat er Familie?“
„Frau und zwei Kinder.“
„Wie schrecklich! - Und wieder keine Spuren?“
„Nur die Klinge und der saubere Schnitt durch die Aorta.“
„Wo hat man ihn gefunden?“
„In seinem Gartenhäuschen. Seine Frau ist in der Nacht nach Hause gekommen, die Kinder waren zum Übernachten bei den Großeltern.“
„Zum Glück.“
„Ja, aber auch irgendwie verdächtig. Als hätte die Ehefrau das geplant.“
„Haben Sie schon mit ihr gesprochen?“
„Nein. Die ist noch völlig außer sich.“

Zehn Tage zuvor:
„Hallo Schnitzel.“
„Kennen wir uns?“
„Sicher tun wir das. Ich dachte, es ist zuerst das Kurzzeitgedächtnis, das bei Demenz nachlässt, aber vielleicht läuft das bei Alkoholismus auch genau anders herum, ich bin da nicht im Thema.“
„Wieso Alkoholismus?“
„Sagtest Du nicht immer, Bier sei deine Kuscheldecke und Jägermeister dein Kaminfeuer?“
„Anja?“
„Oh, hast Du am Ende doch eine Erinnerung aus den hintersten Winkeln ausgegraben?“
„Wir haben uns ewig nicht gesehen.“
„Sind noch keine zwanzig Jahre.“
„Aber fast. Was machst du denn jetzt so?“
„Ich bin unter die Hobby-Züchterinnen gegangen.“
„Karnickel?“
„Nee, Menschen.“
Schnitzel lacht laut, so dröhnend und ungeniert wie vor zwanzig Jahren.
„Hast Du etwa mehr Kinder als ich?“
„Wieso? Wie viele hast du denn?“
„Zwei Töchter.“
„Das ist gut. Ist da noch mehr geplant?“
„Nein. Unsere Familienplanung ist abgeschlossen.“
„Keine Söhne mehr?“
„Zumindest nicht von meiner Frau.“ Schnitzel lacht wieder laut. „Die hat sich sterilisieren lassen.“
„Und du nicht?“
„Nee, wozu denn?“
„Damit du im Falle eines Seitensprungs keine böse Überraschung erlebst.“
„Wieso böse Überraschung? Second Life.“ Schnitzel lacht wieder laut und dreckig.
„Nein.“, sagt Anja entschieden. „Du sollst keine Söhne zeugen.“ Blitzschnell fahren ihre Fingerspitzen über Schnitzels Hals. Ungläubig starrt er sie an und presst instinktiv seine Hand auf die Vene. Ein „Warum?“, entfährt ihm noch, bevor er die Augen verdrehend zu Boden sinkt. Obwohl er es vermutlich nicht mehr hören kann, gibt sie ihm die erbetene Erklärung: „Du hast sogar die gedemütigt, die du geliebt hast. Was tust du erst mit solchen, die dir egal sind und mit denen, die du hasst? Jeder Sohn, den du in die Welt gesetzt hättest, wäre genauso grob und unsensibel geworden wie du. Du bist mieses Zuchtmaterial, so etwas wird aussortiert, da machen sogar die Hobbyzüchter kurzen Prozess.“

Drei Tage später:
„Verdammte Scheiße, bin ich fett geworden.“, flucht Philipp leise vor sich hin und betrachtet den billigen schwarzen Anzug im Spiegel der unvorteilhaft ausgeleuchteten Umkleidekabine. Der Hochzeitsanzug hat noch vieles kaschiert, darin hat er eine erstklassige Figur gemacht, aber das ist zehn Jahre her und das Ding ist zu eng geworden. Er hat aber auch keine Lust, sich wieder so ein teures Stück zuzulegen, nur für eine Beerdigung, nicht einmal für Schnitzel, der war ohnehin mehr Klappes Freund als seiner. Plötzlich vernimmt er eine weibliche Stimme hinter sich: „Probier doch den mal, Kiesel. Der sieht nicht so trashig aus, liegt aber im gleichen Preissegment.“
Erschrocken fährt er herum und erkennt die Frau, die ihm einen Anzug entgegenhält.
„Anja. Was machst du denn hier?“
„Typberatung.“, antwortet sie gelassen. „Den Müllsack da solltest du schleunigst ausziehen. Komm, ich helf dir.“
Schon ist sie in der Kabine und zieht den Vorhang wieder zu.
„Hallo?“, ruft Philipp mit einer Mischung aus Überraschung und Entrüstung. „Das kann ich wohl noch alleine."
„Ich helfe dir ja auch nicht beim Umziehen, sondern beim Ausziehen. Ich will nur verhindern, dass du Söhne in die Welt setzt.“
„Hä?“
„Ja, die hellste Kerze auf der Torte warst du noch nie. Pass mal auf. Obwohl du weißt, wie gesundheitsschädlich das für Deine Frau ist, lässt du sie jahrein jahraus die scheiß Pille schlucken, nur damit du dich nicht mit dem Thema Empfängnisverhütung beschäftigen musst. Dann durfte sie mal eine Weile aussetzen, damit ihr ein Töchterchen in die Welt setzen konntet und jetzt weiß ich nicht, ob sie schon wieder Hormone einwirft oder ob sie bisher einfach nicht schwanger geworden ist. Nicht auszudenken, wenn sie am Ende deinen Sohn zur Welt brächte.“
„Wieso das denn?“
„Weil du kein Mitgefühl für Frauen hast, Kiesel. Du bist nur empathisch für Männer und auch nur für solche, die so ähnlich ticken wie du. Egal was Männer Frauen antun, die Schlimmsten von ihnen nimmst du vorzugsweise in Schutz. Aus deiner damals vielversprechenden, wunderschönen, klugen Freundin hast du eine degenerierte, unzufriedene Ehefrau gemacht. Ich erlaube dir nicht, auch noch deine Tochter zu versauen und erst recht nicht, eine Blaupause von dir anzufertigen. Und jetzt helfe ich dir beim Ausziehen.“
„Was soll das?“
„Oh, ich bin nicht scharf auf deinen weißen, weichen Körper, ich helfe deiner Seele beim Auzug aus demselben.“
Und mit einer reflexartigen Bewegung schnellt die Klinge über seinen Hals. Kiesel versucht, zu schreien, aber sie hat ihm die Kehle durchgeschnitten. Nahezu lautlos sackt er zusammen und niemandem fällt auf, dass das androgyne Wesen, das aus einer der Umkleiden heraus tritt, gar kein Mann ist.

Drei Tage später:
„So ein Scheißtag heute.“, denkt Oliver und hadert zum hundertsten Mal mit seinem Schicksal. Drei Lehren hat er abgebrochen und ist am Ende in dem Beruf gelandet, der ihm seines Namens wegen wohl vorherbestimmt war: Gärtner. So viele blöde Witze hat er sich seitdem anhören müssen, aber wenigstens hat er bei der Arbeit meistens seine Ruhe. Seit fünfundzwanzig Jahren gehen ihm eigentlich alle auf den Sack. Nüchtern kann er sich gerade noch so zusammenreißen, aber wenn es Abend wird und die düsteren Gedanken Besitz von ihm ergreifen, dann braucht er was zum Abschalten und wenn er dann einfach seine Ruhe hat, gleitet er sanft vor dem Fernseher in eine schmerzfreie Parallelwelt und von da aus direkt in den Schlaf. Wenn es gut läuft, wird er noch einmal kurz wach und schleppt sich ins Bett, oft wacht er jedoch morgens auf dem Sofa auf, wenn der Wecker im Schlafzimmer schon von Alarm auf akustischen Terror umgestellt hat.
Wenn er sich ausnahmsweise nötigen lässt, unter Leute zu gehen, endet es oft damit, dass er seinem Herzen Luft macht. Die anerzogene Hemmschwelle sinkt mit jedem Bier weiter Richtung Nullpunkt und wer ihm dann quer kommt, kriegt seinen ganzen Lebensfrust in geballter Ladung um die Ohren gehauen. Darum werden Einladungen auch immer seltener. Oliver ist das ganz recht. Jetzt nur noch den Spaten und die Hacke sauber machen und zurück in die Firma, stempeln und dann nichts wie nach Hause.
„Na Olli? Baum gepflanzt?“, spricht ihn eine vertraute weibliche Stimme an, die er aber nicht sofort zuordnen kann. Beim Blick in das dazu gehörige, von tiefen Falten durchzogene Gesicht muss er einen Augenblick überlegen, dann erkennt er sie:
„Anja. Wieso gehst du hier im Park spazieren? Hast du dich verlaufen oder bist du umgezogen?“
„Nichts von beidem. Ich kontrolliere nur, ob du das auch alles richtig machst.“
Olli kichert. Anja konnte er immer gut leiden, das heißt, es gab auch eine Zeit, da war er nicht so gut auf sie zu sprechen, da hatte sie seinen Kumpel Deutschmade gedisst, nur weil sie ihn hässlich fand. Auch wenn er im Suff vielleicht mal seine Hände nicht bei sich behalten konnte und sie damals noch ziemlich jung war, durfte man von einer Sozialarbeiterin doch wohl erwarten, dass sie pädagogischer reagierte, vor allem von einer, die bei der Evangelischen Jugend tätig war. Davon abgesehen findet er sie aber immer noch ganz in Ordnung.
„Is' mir egal, ob alles richtig ist.“, antwortet er. „Ich mach jetzt Feierabend und das ist auf jeden Fall richtig. Und es waren acht Bäume, die ich heute gepflanzt habe.“
„Eichen?“
„Nee, Ahorn.“
„Und wie viele Söhne willst du noch zeugen?“
„Söhne zeugen?“, Olli kichert verlegen. „Wie soll das denn gehen. Hast du noch nicht gehört, dass Inga ausgezogen ist?“
„Doch sicher. Wie lange wart ihr zusammen?“
„Achtzehn Jahre.“
„Na, immerhin habt ihr keine Kinder, die jetzt darunter leiden müssen.“
„Nee. Inga hat die Pille genommen. Kinder hätte ich auch gar nicht ausgehalten.“
„Und was hast du unternommen, damit Inga nicht schwanger wird?“
„Wieso? Musste ich ja nichts unternehmen, wenn sie doch die Pille nimmt.“
„Ja, angestrengt hast du dich noch nie so gerne, Olli. Dich mussten alle anderen immer nur aushalten. Aber überleg mal. Was, wenn du als nächstes an eine gerätst, die genauso drauf ist wie du? Vielleicht ist die zu schlampig beim Pille Schlucken und dann kriegt sie am Ende doch ein Kind von dir, einen Sohn, der genauso wird wie du. Du bist immer nur passiv gewesen. Nur im Suff rastest du aus, aber groß gerissen hast du damit auch noch nichts. Der einzige, für den du dich ins Zeug gelegt hast, war Deutschmade. Den hast du immer in Schutz genommen, wenn er mal wieder über die Stränge geschlagen hat, war ja auch kein Problem für dich, deine Freundin hat er schließlich nicht angepackt, du warst ja sein Kumpel.“
Olli verdreht genervt die Augen.
„Mensch, Anja, das ist so lange her. Jetzt lass mich mal Feierabend machen. Über Deutschmade musst du dich ja auch nicht mehr aufregen, der guckt sich ja längst die Radieschen von unten an.“
„Ja.“, antwortet Anja kalt. „Genauso wie Schnitzel und Kiesel.“
Sie sieht, wie die Erkenntnis in Ollis Schädel einzieht, jetzt muss sie schnell handeln. Der Park ist menschenleer, das Wetter alles andere als zum Spaziergang einladend. Routiniert vollzieht sie den Schnitt zum dritten Mal. Ein Seufzer des Bedauerns entfährt ihren Lippen, als sie Olli blutend zusammensacken sieht. „Du hattest echt das Zeug zu einem richtig netten Kerl.“, sagt sie. „Hattest vielleicht einfach nur den falschen Umgang.“

Drei Tage später
Veronika feiert den Junggesellinnen-Abschied einer Kollegin. Die Kinder sind bei den Großeltern. Eigentlich ein willkommener Anlass all das zu tun, wozu man gerade Lust hat. Aber es läuft kein Fußball und der übliche Männerabend, den er in so einem Fall gern bei sich zu Hause veranstaltet, kann in der gewohnten Form nicht mehr stattfinden. Schnitzel, Kiesel und sogar Olli – alle weg. Innerhalb von nicht einmal zehn Tagen. Und er fragt sich, wer seine Kumpels im Visier hatte und warum. Die hatten doch keinem was getan. Muss ein total Irrer sein, vielleicht irgendeiner, den sie nie richtig mitmachen lassen haben. Er muss sofort an Tinnef denken, die arme Wurst. Aber der wohnt ja jetzt zwanzig Kilometer weit weg, mit grottiger ÖPNV-Anbindung und ein Auto kann der sich bis heute nicht leisten. Er ist auch nicht durchtrieben genug, um so eine krasse Mordserie eiskalt durchzuziehen und sich nicht schon mindestens beim zweiten Mal erwischen zu lassen. Dafür wäre schon eher Finsterburger ein Kandidat, genau die richtige Mischung aus schlau und irre. Aber warum gerade jetzt? Scheiße, wenn er hier im Wohnzimmer abhängt, zieht ihn das nur runter, er muss irgendwas tun, Veronika liegt ihm schon seit Wochen in den Ohren, dass die Fugen zwischen den Terrassenplatten mal wieder ausgekratzt werden müssen. Lust hat er überhaupt keine dazu, lieber würde er etwas umgraben, aber das wäre total sinnlos und die sauberen Fugen wären ein paar Pluspunkte, die er an anderer Stelle in die Waagschale werfen könnte. Er zieht alte Schuhe an und geht ins Gartenhäuschen. Er kann sich nicht mehr erinnern, wo er den Fugenkratzer beim letzten Mal hingeräumt hat. Dass es für dieses Problem bis heute keine intelligente Lösung gibt, ist ihm ein Rätsel. Vielleicht müsste man die Ritzen mit Silikon verfüllen, überlegt er, dann könnten die Platten ruhig arbeiten, aber das Kraut käme nicht mehr durch. Er durchsucht den Werkzeugschrank, als er plötzlich einen Luftzug im Nacken spürt. So windig ist es doch gar nicht, dass die Tür einfach so aufweht. Er dreht sich um und sieht eine dunkle Gestalt im Türrahmen stehen.
„Der Nächste bitte.“, sagt sie. Es ist Anja. Er atmet erleichtert auf.
„Anja. Du hast mich vielleicht erschreckt. Was meinst du denn mit: der Nächste bitte?“
„Du bist der Nächste, der aus dem Zuchtprogramm genommen wird. Ich finde ein männlicher Spross von dir in dieser Welt ist mehr als genug, da sollte besser nichts hinterher kommen. Du hast ja bewiesen, dass du es nicht hinbekommst.“
„Was redest du da?“, fragt Holger atemlos. In seinem Kopf arbeiten alle Nervenzellen auf Hochtouren. Sollte Anja der Rasierklingenmörder sein? Aber warum?
„Ich sorge jetzt dafür, dass du keine Söhne mehr in die Welt setzt.“
„Veronika hat die Hormonspirale.“, entgegnet er, um Zeit zu gewinnen.
„Eben.“, erwidert Anja. „Du hast es dir ja schon immer gern leicht gemacht. Und du bist ja bekannt dafür, dass du dich auch gern mal nach anderen Frauen umsiehst. Es wäre also nicht ausgeschlossen, dass du dich noch einmal vermehrst.“
„Und was hast du jetzt vor? Willst du mir die Eier abschneiden?“
„Ach was.“, antwortet Anja. „Das ist mir viel zu umständlich. Ich werde viel radikaler vorgehen. Du kommst aus dieser Hütte nicht mehr lebend raus.“
„Aber warum willst du mich umbringen? Hast du die anderen drei etwa auch ermordet?“
„Die anderen vier, um genau zu sein. Deutschmade geht auch auf mein Konto. Das war kein Unfall. Ich hab' einfach seine Bremskabel gekappt, als er sich eines Abends in der schönen Aussicht die Kante gegeben hat. Er ist die Straße runtergeschossen, konnte nicht mehr anhalten und hat sich rücksichtsvollerweise direkt das Genick gebrochen.“
„Das glaube ich dir nicht.“
„War aber so.“
„Und warum?“
„Er war ein Schwein. Das weißt du doch.“
„Aber warum ich? Und warum Schnitzel, Kiesel und Olli?“
„Warum du? Ach Klappe, du warst doch immer der Schlimmste von allen. Schnitzel und Kiesel waren empathiefreie Trampel. Olli vielleicht nur ein Opfer seiner Depressionen. Aber du warst schon immer durchtrieben, eigensüchtig, faul, intrigant und nur auf deinen Vorteil bedacht. Außerdem warst du unangemessen rachsüchtig. Du warst die treibende Kraft damals, als ihr an Weiberfastnacht plötzlich so gar keinen Sinn mehr für traditionelle Späße hattet, die ihr doch sonst so in Ehren haltet. Wie ihr euch für ein bisschen Mehl im Gesicht direkt rächen musstet. Zu viert habt ihr mich festgehalten, an Hand- und Fußgelenken, das heißt, die Drecksarbeit hast du natürlich die anderen machen lassen, und dann hast du mir ein ganzes Kilo Mehl auf den Bauch, den Schritt und ins Gesicht gekippt und dann eine ganze Karaffe voll Wasser hinterher. Ich sah danach aus wie von fünfzig Schwänzen zugespermt und der Hass in euren Augen und der dreckige Ton in eurem triumphierenden Gelächter, wie stolz ihr wart, dass ihr mich besiegt hattet, fünf ausgewachsene Jungs, die voll im Saft standen, gegen eine Frau, die es gewagt hat, sich einen traditionellen Karnevalsscherz zu erlauben.“
„Aber das...“
„Halt die Fresse! Du hörst mir jetzt zu! Danach habt ihr euch dann gegen mich zusammengerottet und es genossen, wenn Deutschmade mich belästigte und ich vor Ekel und Angst fast gestorben wäre, das gefiel euch richtig gut, das hat euch amüsiert. Und als ich anfing, mich zu wehren, da habt ihr ihn als Opfer hingestellt und mich zur Täterin gemacht und mich gezwungen, ihn weiter zu ertragen. Erpresst habt ihr mich mit Leistungsverweigerung und der Drohung, mich bei Vorgesetzten anzuschwärzen und Gerüchte über mich in Umlauf zu bringen.“
„Aber da waren wir gerade mal achtzehn, neunzehn Jahre alt.“
„Eben. Ihr wart erwachsen. Das habt ihr doch immer so gern betont. Und ich war so naiv zu glauben, ihr könntet noch einmal zu Verstand kommen, dieses rüde Macho-Gebaren würde sich auswachsen, aber keine Spur davon. Ihr habt euch leicht zu beeinflussende Ehemäuschen gesucht, bei den schlauen Frauen hattet ihr eh keinen Stich. Und jetzt pflanzt ihr die nächste Generation Grauen in die Welt. Ich hätte schon viel früher aktiv werden müssen, aber ich hatte Wichtigeres zu erledigen. Deinen Sohn werde ich im Auge behalten und alles tun, was in meiner Macht steht, dass er nicht so eine Ratte wird wie sein Vater. Er wird nie erfahren, dass ich es war, die dich in die ewigen Jagdgründe geschickt hat. Und jetzt verabschiede dich von deinem Leben.“
Schnitt

Zwei Tage später:
„Vier Tote in neun Tagen.“ fasst Kerkenbrock zusammen. „Frau Klapp hat nicht den Hauch einer Ahnung, wer das getan haben könnte und aus welchen Gründen, ebensowenig wie Frau Schnitzler, Frau Kiesling oder Frau Gärtner. Die Vier sind Freunde seit ihrer Jugend, aber wir können kaum ihren weit verzweigten Freundeskreis schützen.“
„Aber befragen müssen wir alle, die uns genannt werden.“, entgegnet Keller. „Denn ich wette, das Motiv für den Mord liegt weit zurück in der Vergangenheit.“

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Freitag, 24. August 2018
Ins Blaue – abgeschlossener Kurzkrimi mit Einladung zum Weiterspinnen
Seit zehn Jahren arbeiteten sie nun schon zusammen – nicht täglich, aber doch immer wieder regelmäßig. Sie hatte es gleich gewusst, als sie ihn zu ersten Mal gesehen hatte. Scheiße, ist der schön! - hatte sie gedacht – Das kann man ja gar nicht aushalten! Bloß Distanz halten, bevor ich mich zum Affen mache. Und es war ihr gelungen, das Distanz halten, zehn lange Jahre, aber jetzt ging gar nichts mehr. Etwas hatte sich verändert. Zum einen war ihre Zusammenarbeit intensiver geworden, das lag an den strukturellen Veränderungen, zum anderen wurde ihre Beziehung aber auch tagtäglich persönlicher. Der Blick, mit dem er sie ansah, hatte sich gewandelt von sympathischem Wohlwollen zu sehnsuchtsvollem Dauergrinsen. Seine Stimme wurde ganz weich, wenn er mit ihr sprach, es sei denn, er ging dazu über – vor allem in Gesellschaft - , sie mit derben Späßen zu necken. Doch sobald sie unter sich waren, war da wieder diese Zärtlichkeit in seinem Blick und sie ahnte, dass der Supergau unausweichlich war.

Und dann wurde es privat. Nicht ganz so, wie sie es sich in ihren jugendgefährdenden Tagträumen vorstellte, stattdessen kam es zu einer Einladung zum Essen – mit Partner. Na toll, dachte sie, tun wir jetzt so, als empfänden wir nur freundschaftliche Gefühle füreinander, die Männer reden über Fußball und was sie sonst so an Gemeinsamkeiten entdecken, führen sich gegenseitig ihre Hobby-Räume vor und wir Frauen beweisen unsere soziale Kompetenz im Womens Small Talk. Ich möchte brechen. - Sie ließ sich trotzdem darauf ein. Vielleicht würden die anderen beiden sich ja auch ineinander verlieben und alles dürfte passieren und niemand würde verletzt. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, glaubte sie natürlich nicht daran, aber der noch immer aktiv brodelnde innere Teenager in ihr, hoffte voller Naivität auf das perfekte Lebensglück.

Der Abend lief ganz lässig an. Da war sofort allerseits ein Draht zueinander, viel Gemeinsames, viel Anlass zu fröhlichem Gelächter und das Essen schmeckte hervorragend. Sie spürte, wie ihre Aufregung und Beklemmung allmählich einer entspannten, frohen Erwartung wichen. Irgendwie würde alles gut werden.

Der Rotwein allerdings schmeckte abgestanden, so als hätte die Flasche über Nacht offen in der Küche mit der Nachtluft reagiert. Natürlich war sie höflich und sagte nichts dazu, die anderen tranken den miesen Tropfen ja auch, ohne eine Miene zu verziehen.

Als sie sich verabschiedeten war es weit nach Mitternacht und man war sich einig, dass in Kürze eine Gegeneinladung fällig war. „Wenn mein Mann so nette Kolleginnen anschleppt“, hatte seine Frau zum Abschied gesagt, „ist das jedes Mal eine große Herausforderung für mich. Ich hoffe ich bin ihr gerecht geworden.“ - Dabei hatte sie dieses verschmitzte Lächeln aufgesetzt und in ihren Augen hatte es ein bisschen gefährlich gefunkelt.

Die Magenkrämpfe begannen um drei Uhr nachts. Sie fragte sich, ob etwas von dem Essen ihr nicht bekommen war oder ob sie den miesen Wein nicht vertragen hatte. Ihr Mann schlief tief und fest. Er hatte das Gleiche gegessen und getrunken wie sie, vermutlich hatte sie sich einen Infekt eingefangen.
Als sie später nach Luft ringend über der Kloschüssel hing, ohne sich erfolgreich erleichtern zu können, ahnte sie, dass hier andere Kräfte im Spiel waren als Viren oder Bakterien. Sie erinnerte sich daran, dass vor vier Jahren eine Kollegin plötzlich verstorben war. Auch sie hatte intensiv mit ihrem heutigen Gastgeber zusammengearbeitet und sie war jung, gesund, sportlich und wunderschön gewesen. Sie musste das Telefon erreichen und einen Notarzt alarmieren. Ihr Mann schlief so fest, den würde sie nicht wach bekommen, er war schon auf dem Heimweg in der Straßenbahn eingenickt. Sie müsste sich nur in den Flur schleppen, die 112 wählen und die Wohnungstür öffnen.

Sie schaffte es nicht mehr und der Arzt, der den Totenschein ausstellte, verfügte über zu wenig Erfahrung, um ihre schwarze Zunge zu bemerken.

Ihr Mann wäre beinahe vor Trauer zerbrochen, wäre da nicht die fürsorgliche Zuwendung der Frau des Kollegen gewesen, die er am Abend vor dem Dahinscheiden seiner geliebten Frau kennengelernt hatte.

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Donnerstag, 16. August 2018
Horror-Irmi – definitiv kein Kirchenkrimi
Sieht aus wie sein Vater die kleine Ratte. Wird bestimmt auch irgendwann genauso ein Drecksack, zieht sich die kleinen Mädchen rein, nachdem er ihnen das Blaue vom Himmel versprochen hat und dann, kenn' ich nicht, hab' ich keinen Vertrag mit, soll mich in Ruhe lassen. Und dieses Balg ziehe ich nun groß. Aber jetzt habe ich ja auch endlich mal ein bisschen Glück. Is'n richtiger Kerl, hat im Bett was zu bieten, kann man sich auch auf'er Straße mit sehen lassen, richtig knackig ist der, kein Wunder, ist ja auch 10 Jahre jünger als ich.
Zuerst dachte ich ja, der spinnt. Wie soll man denn mit Fotos von diesem Kackblag im Netz Geld verdienen? Aber es klappt ja tatsächlich. Nachdem ich es selbst ausprobiert hatte, dachte ich, ja, so kleine Jungs sind zumindest für Frauen 'ne gute Abwechslung, schön fest, die Haut so glatt und völlig ungefährlich. Riechen auch besser, so Jungs. Aber Frauen kaufen sich keine Jungs im Netz, meinte mein Stecher. Und ich dachte, dann ist der Kleine ja nur was für Schwule, aber mein Kerl hat mir gezeigt, dass er auch Spaß mit ihm haben kann. War toll dabei zuzugucken, wie er dieses Rotzblag richtig ran nimmt. Das ist ja das Einzige, wozu der Junge taugt, genau wie sein Vater, nur war der echt gefährlich, bin ich eigentlich froh, dass ich den vom Hals hab'.

„Irmi, Irmi, wo bist du?“ Omma schreit, denkt, ich wär noch in meinem Zimmer, aber ich bin ja nicht blöd. Scheint gut zu brennen, die scheiß hässlichen Möbel. Jetzt müssen sie ja neu kaufen, geht ja nicht anders.

Scheiße nein, fünfundzwanzig Jahre ist das her, warum träume ich immer noch davon? Obwohl, die Alpträume aus der ersten Wohnung sind schlimmer. Wenn mein ganzer Kopf brennt und ich glaube, gleich ist er ab, und der Vatter zieht mich weiter an den Haaren, und der billige Plastik-Teppichboden kratzt, und hinterher ist alles rot und wund, und ich darf nicht heulen, weil er sonst weiter macht, und mein Hals tut weh, weil ich die Tränen runter würgen muss, nee, da war es nachher bei Omma schon besser.

Fast vierzig Jahre hab' ich gebraucht, bis ich endlich 'n ordentlichen Stecher gefunden hab', na ja, fast vierzig Jahre musste ich leben bis dahin, nach'm anständigen Stecher hab' ich wohl erst mit zwölf Ausschau gehalten. War ja nicht leicht, den Jungs hat meine Fratze nicht gefallen. Froschfresse haben die mich genannt. War ich aber stolz wie Bolle, als ich dann auf einmal mit Rudi zusammen war. War 'n richtiger Kerl mit eigener Wohnung und so ungefährlich, so klein und krumm und immer Tränen in den Augen. Ich dachte, wenn der mir dumm kommt, hau ich da einmal drauf und dann kann ich 'n Krankenwagen rufen. Falsch gedacht. Hat der doch das gleiche mit mir gemacht wie mein Alter. War kein Verlust, war ja im Bett auch 'ne Lusche.

Und dann jahrelang nur Ausschuss. Der Vatter von dem Kleinen war der schlimmste von allen und ausgerechnet der musste mir seinen Ableger einpflanzen. So eine Scheiße, dass es schon zu spät war, als ich es gemerkt hab'. Oder auch nicht. Is' ja jetzt 'ne gute Einnahmequelle. Gleich kommen wieder zwei, die kommen nicht zum ersten Mal, zahlen immer im Voraus. Ach, da sind sie ja schon.

Irmi öffnet die Tür, aber die Leute die da stehen, kennt sie nicht. Sind verdammt viele Leute, Männer und Frauen. Geht alles so schnell, sie hat gar keine Zeit, zu kapieren, was hier gerade passiert. Eh sie sich versieht, sitzt sie in einer Bullenkutsche und ahnt, dass es das war mit ihrer Portion Lebensglück.

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