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Samstag, 30. Dezember 2017
Tölpel, die in Flüsse fallen - abgeschlossener Kurzkrimi
c. fabry, 17:43h
Das Jahr ging zu Ende und meine Bilanz war erschreckend. Die 500,-€ vom letzten Auftrag waren längst verbraucht und seitdem hatte niemand mehr im Vorbeigehen das Schild „Peter Margo - private Ermittlungen“ gelesen und zum Anlass genommen, mich zu einem Erstgespräch aufzusuchen. Ich dachte gerade daran, Manufactum Konkurrenz zu machen und meine spartanische Einrichtung aus einem schweren Eichenschreibtisch, einem schwarzen Bakelit-Telefon und dem gigantischen Deckenventilator bei e-bay zu versteigern und ein letztes Mal so viel vom besten Whisky der Stadt zu trinken, dass ich beim Hinübergleiten in die unendliche Dunkelheit nichts mehr spüren würde; keinen Schmerz, keine Angst keine Trauer, ja nicht einmal Bedauern.
Doch da unterbrach ein dezentes Klopfen meine düsteren Gedanken und Leben regte sich wieder in mir, vielleicht tauchte der Engel aus der Adventszeit noch einmal auf und beauftragte mich nun, die drei goldenen Haare des Teufels zu stehlen. Doch was da mein Büro betrat, passte in seiner Unscheinbarkeit und Mittelmäßigkeit genau in meine gegenwärtige Lebenslage. Es handelte sich um ein androgynes Wesen mit vollem, durchgestuftem, glanzlosem Haar. Die Person wirkte geradezu alterslos und musste irgendwann zwischen 1960 und 1990 zur Welt gekommen sein. Der Körper war weder kraftlos noch athletisch, die Größe etwa 1,70 Meter, die Augen grau, die Haut klar, aber grobporig und selbst, als es begann zu sprechen, vermochte ich nicht zu sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte.
„Bitte finden Sie für mich heraus, wie es zu diesen beiden Geschichten kommen konnte und wie sie zusammenhängen.“
Es legte eine Klatschspalten-Seite einer provinziellen Tageszeitung auf den Schreibtisch. Das Druckerzeugnis stammte vom 21. Dezember und zwei Artikel waren rot eingekreist. Der erste lautete:
MANN STIRBT BEINAHE BEI MORDVERSUCH
Berlin (dpa). Ein 19-Jähriger, der versucht haben soll, eine 17-Jährige in der Berliner Havel zu ertränken, muss sich voraussichtlich wegen versuchten Mordes verantworten. Das teilte die Polizei mit. Der Mann wäre dabei fast selbst ertrunken, weil er Nichtschwimmer ist. Die Frau konnte sich selbst befreien und ans Ufer retten. Sie erlitt eine Unterkühlung. Es handele sich um eine Beziehungstat: Die beiden seien früher ein Paar gewesen, hieß es.
Im zweiten Artikel war Folgendes zu lesen:
BLÖDELEI ENDET IM BACHBETT
Sölden (dpa). Ein Pärchen aus Westfalen ist wegen einer Blödelei im Winterurlaub in Sölden im Krankenhaus gelandet. Ein 30-Jähriger hatte seine 27 Jahre alte Freundin aus Spaß über das Geländer einer Brücke gehalten und dabei das Gleichgewicht verloren. Die Touristen stürzten vier Meter tief. Die Frau wurde schnell geborgen, der Mann erlitt schwerste Verletzungen, er wurde von der Feuerwehr aus dem Wasser geholt.
Ich sah es verständnislos an und fragte: „Welche Anhaltspunkte gibt es und wer sind Sie überhaupt?“
„Anhaltspunkte?“, fragte es. „Sie sind privater Ermittler. Ich muss Ihnen doch wohl nicht Ihren Job erklären. Und was Ihre zweite Frage betrifft, ich bin der Totgeglaubte, den sie nirgends finden konnten.“
„Welcher Totgeglaubte?“
„Gott.“
Ein Irrer. Sollte ich direkt den Psychiatrischen Krisendienst anrufen oder einfach mitspielen? Schließlich schien er weder sich selbst noch andere zu gefährden. Ich entschied mich für letzteres.
„Wie wollen Sie mich denn bezahlen, Gott?“
„Bar und im Voraus.“ Er legte ein dickes Bündel Scheine auf meinen Schreibtisch. Ich zählte nach, genau 10000 Mäuse.
„Ich denke“, erklärte Gott, „damit sollten Entgelt und Spesen für die kommenden zwei Monate abgedeckt sein.“
Ich grunzte zustimmend und konnte mir die Frage dann aber doch nicht verkneifen:
„Wenn Sie Gott sind, dann müssen Sie doch wissen, was hinter diesen Geschichten steckt. Sie kennen doch jeden Menschen und wissen sogar im Voraus schon alles über ihn.“
„Wer hat Ihnen denn den Blödsinn erzählt?“
„Äh, der Pfarrer, Religionslehrer, meine Eltern, was weiß ich.“
„Ja, Menschen verlieren sich in ihren naiven Wünschen und Vorstellungen und steigern sich so lange hinein, bis sie es mit der Wirklichkeit verwechseln.“
„Aber wenn Sie nicht allwissend sind, was berechtigt Sie dann, sich Gott zu nennen?“
„Ich selbst berechtige mich.“
„Und warum?“
„Weil ich es will.“
„Und warum erscheinen Sie mir nicht als alter Mann mit Bart oder als starker Superheld?“
„Ich könnte Ihnen auch als bildschöne Frau erscheinen.“, erwiderte Gott lächelnd.
„Und warum tun Sie das nicht?“
„Jeder bekommt den Gott, den er verdient. Und jetzt gehen Sie an die Arbeit. Sonst stürze ich Sie ins Verderben.“
Er verließ mein Büro so leise und behutsam, wie er gekommen war.
Ich seufzte tief, rief bei der Redaktion der vorliegenden Tageszeitung an und bekam nach etlichen Telefonaten auch mit der Deutschen Presse-Agentur endlich die Namen des verunfallten Paares, das im österreichischen Sölden ins Flussbett gestürzt war. Mit dem Missgeschick wollte ich beginnen, den Mordversuch erst am Ende beleuchten, immer vom Einfachen zum Schwierigen und nicht umgekehrt.
Ich bin kein Mann der großen Worte und möchte Sie mit epischen Berichten meiner nun folgenden Recherchereisen sowie den jeweiligen wechselnden Befindlichkeiten verschonen, aber Ihnen die Ergebnisse meiner Recherche nicht vorenthalten. Ich landete zunächst bei Inga L. in Bielefeld, die sich noch immer um ihren schwer verletzten Freund sorgte, der in einem österreichischen Krankenhaus seiner baldigen Transportfähigkeit entgegenfieberte. Wie war es zu ihrem Missgeschick gekommen? Sie erklärte mir Folgendes: „Magnus und ich standen auf der Brücke und überall diese atemberaubende Landschaft, es war so romantisch, aber dann fiel uns auf, dass diese Romantik ja fast schon ins Kitschige abglitt und dass wir uns fühlten wie die Darsteller eines billigen Remakes eines romantischen Filmklassikers. Uns fielen Bekannte aus unserer Schulzeit ein. Beim Klassentreffen kurz nach dem Abi lösten sie allgemeines Fremdschämen aus – sie hatten in der Tanzschule einen Street-Dance-Kurs belegt und sich an den Hebefiguren aus Step Up versucht. Magnus hob mich hoch, nannte mich Saskia und schrie, dass ich ja so leicht wie eine Feder wäre. Dabei ist Saskia ziemlich moppelig, aber ihr Stefan ist auch ein echter Kleiderschrank, darum hat er es geschafft, sie in die Luft zu stemmen. Tja, Magnus hat es bei mir dann aber leider übertrieben und das Gleichgewicht verloren. Den Rest wissen Sie ja.“
Als nächstes suchte ich Saskia und Stefan K. In Porta Westfalica auf. Das Einfamilienhaus aus weißem Klinker, umgeben von Puschenrasen, Kies und Hainbuchenhecken passte zu dem von Inga L. beschriebenen Ehepaar. Als die Frau mir jedoch die Tür öffnete und mich ins Wohnzimmer bat, entdeckte ich überall seltsame Accessoires der Esoterik-Szene. Als ich sie fragte, ob sie vom Missgeschick ihrer Bekannten aus Bielefeld gehört habe, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht und sie gestand mir mit leuchtenden Augen, dass sie sich auf schwarze Magie verstehe. Sie selbst habe die beiden aus der Ferne zu Fall gebracht, denn sie hätten sie während einer furchtbaren Ferienfreizeit ständig wegen ihrer ausgeprägten Rundungen gehänselt und danach auch wegen ihrer posttraumatischen Belastungsstörungen, die die damals 10-Jährige aufgrund eines erschütternden Ereignisses während der Freizeit erlitten hatte. Bei einem Zeltlager im niedersächsischen Wallenhorst bei Osnabrück, war sie wegen Inga K.s und Magnus F.s Hänseleien vom Platz gelaufen und hatte erleben müssen, wie direkt vor ihren Augen ein junges Paar im Mittellandkanal ertrank. Sie hatte auf der nahegelegenen Brücke einen Schatten hinweg huschen sehen und sie war sicher, dass das der Teufel gewesen war.
Ich verließ die Wahnsinnige, recherchierte aber in den Pressearchiven und tatsächlich fand ich heraus, dass der psychisch kranke Detlev R., das Paar damals von der Brücke gestürzt hatte, das sich auf dem Geländer akrobatisch ineinander verschlungen hatte. Detlev R. lebte mittlerweile in Hannover in einer feuchten Souterrain-Wohnung nahe der Leine. Als er mir die Tür öffnete, ließ er mich arglos eintreten und schon bald ahnte ich warum. Er bereitete sich gerade darauf vor, in die Fußstapfen des berühmten Massenmörders Hamann zu treten und offenbar sollte ich sein erstes menschliches Opfer abgeben. Es gelang mir, ihm das Schlachtermesser zu entwinden und darüber hinaus ein Geständnis. Bereits seit geraumer Zeit produzierte er falsche Braunschweiger Würste aus dem Fleisch von Kaninchen und Ratten. Seine Abnehmer saßen – wie sollte es anders sein – direkt in Braunschweig. Es handelte sich um ein Metzger-Ehepaar, die ihn mit der passenden Gewürzmischung, Därmen, Klammern und Werkzeug für die Wurstherstellung versorgten und ihm seine Produkte zu Schleuderpreisen abkauften. Ich versprach ihm, ihn nicht bei der Polizei anzuzeigen. Ich hielt mein Versprechen und informierte den sozialpsychiatrischen Dienst der Stadt Hannover. Wie ich später hörte, mussten die Mitarbeitenden den Flüchtenden verfolgen, bis er schließlich stolperte und in die Leine fiel. Er konnte gerettet werden und wurde in eine geschlossene Einrichtung der forensischen Psychiatrie verbracht.
Ich fuhr weiter nach Braunschweig. Dort konnte ich nur noch die Scherben zusammenkehren. Das Metzger-Ehepaar war von Detlev R. Bereits gewarnt worden und hatte sich mitsamt seinem erheblichen Vermögen nach Übersee abgesetzt. Den Laden hatten sie einem zugedröhnten Punk-Pärchen übergeben, einfach damit jemand da war und nicht auffiel, dass sie sich aus dem Staub gemacht hatten. Einigen Braunschweiger Fascho-Glatzen, war aber sofort aufgefallen, dass anstelle des blitzsauberen Metzgerpaares nun ein paar schmuddelige Zecken planlos hinter der Theke herumlungerten. Sie verdächtigten sie, das Metzgerehepaar ermordet zu haben und trieben sie in einem Akt von Selbstjustiz wie die Hamelner Ratten in die nahegelegene Oker, wo sie fast ertranken. Zum Glück hatte die Frau kurz vorher eine SMS verschickt und auch eine Antwort darauf erhalten. Die Spur führte mich nach Berlin – in ein besetztes Haus im westlichen Stadtteil Wannsee, ein äußerst ungewöhnlicher Ort für Hausbesetzer, aber sie hatten es wirklich nett in der verwunschenen, etwas heruntergekommenen Jugendstilvilla im Grünen und die unkonventionellen Bewohner luden mich zu Kaffee und Keksen ein. Ich hätte es wissen müssen, die Kekse hatten es in sich und darum bin ich nicht sicher, ob ich alles, was mir die jungen Leute nun erzählten, richtig in Erinnerung habe. Ein seltsamer Freak namens Marlon F., der mit seinen vermögenden Erziehungsberechtigten im Haus schräg gegenüber lebte und tagein, tagaus nur in seinem Zimmer saß und abwechselnd seinem PC oder seinem Smartphone Gesellschaft leistete, war an einem lauen Sommerabend vor die Tür getreten und Josie H. begegnet. Josie war eine 16-jährige Trebegängerin gewesen und hatte in dem besetzten Haus untertauchen können. Das lag mittlerweile ein Jahr zurück – in der Zwischenzeit hatte Josie versucht, Marlon aus seiner Konsum- und Computer-Hölle zu erlösen, hatte ihm die Schönheiten der Natur gezeigt, inklusive jene, die sie permanent mit sich herumtrug, der Junge hatte ein wenige Farbe bekommen und gelernt, in ganzen Sätzen zu sprechen. Aber Josie war flatterhaft wie ein Schmetterling und intelligent wie eine Nobelpreisträgerin gewesen und des unansehnlichen, geistig unflexiblen Hikikomori-Kandidaten bald überdrüssig geworden. Als der kurz vor Weihnachten feststellte, dass es für ihn nicht einen einzigen Grund gab, sich auf das Fest zu freuen, weil ihm nichts mehr einfiel, das er sich hätte wünschen können, außer seine Beziehung mit Josie H. wieder aufzunehmen, entschloss er sich, das Haus erneut zu verlassen. Doch als er ihr, nachdem er sie zu einem Spaziergang an der Havel überredet hatte, seinen Vorschlag unterbreitete, hatte die Angebetete nur entnervt mit den Augen gerollt. In blinder Wut hatte er sie in die Havel gestoßen und unter Wasser gedrückt. Dabei geriet er in die Strömung und weil er nicht schwimmen konnte, wäre er beinahe ertrunken, hätte nicht Josie K. sich schnell ans Ufer gerettet und einen Passanten gebeten, einen Notruf abzusetzen.
Ich habe Marlon F. Im Krankenhaus besucht. Er hadert mit seinem Schicksal. An allem, sagte er, sei nur sein Halbbruder Magnus schuld. Magnus durfte damals bei der Mutter bleiben und lebt übrigens in Bielefeld. Magnus hat eine Freundin und ein Talent, sich beim Fallen in Flüsse lebensgefährlich zu verletzen. Marlon hat gegoogelt. Die Lutter mit ihrem Knöchel- bis Kniehohen Bachbett liegt nicht weit von seinem Haus entfernt.
Als ich pünktlich zum Jahreswechsel Gott von meinem Recherchen in Kenntnis setzte, lauschte er schmunzelnd meinem Bericht. „Ist das nicht irre?“, fragte er. „Wie das Eine mit dem Anderen zusammenhängt? Wie eine unendliche Kette aus Millionen bunter Perlen. Das hast Du wirklich gut gemacht. Gehen wir eine Scotch trinken. Ich lad' dich ein.“
Doch da unterbrach ein dezentes Klopfen meine düsteren Gedanken und Leben regte sich wieder in mir, vielleicht tauchte der Engel aus der Adventszeit noch einmal auf und beauftragte mich nun, die drei goldenen Haare des Teufels zu stehlen. Doch was da mein Büro betrat, passte in seiner Unscheinbarkeit und Mittelmäßigkeit genau in meine gegenwärtige Lebenslage. Es handelte sich um ein androgynes Wesen mit vollem, durchgestuftem, glanzlosem Haar. Die Person wirkte geradezu alterslos und musste irgendwann zwischen 1960 und 1990 zur Welt gekommen sein. Der Körper war weder kraftlos noch athletisch, die Größe etwa 1,70 Meter, die Augen grau, die Haut klar, aber grobporig und selbst, als es begann zu sprechen, vermochte ich nicht zu sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte.
„Bitte finden Sie für mich heraus, wie es zu diesen beiden Geschichten kommen konnte und wie sie zusammenhängen.“
Es legte eine Klatschspalten-Seite einer provinziellen Tageszeitung auf den Schreibtisch. Das Druckerzeugnis stammte vom 21. Dezember und zwei Artikel waren rot eingekreist. Der erste lautete:
MANN STIRBT BEINAHE BEI MORDVERSUCH
Berlin (dpa). Ein 19-Jähriger, der versucht haben soll, eine 17-Jährige in der Berliner Havel zu ertränken, muss sich voraussichtlich wegen versuchten Mordes verantworten. Das teilte die Polizei mit. Der Mann wäre dabei fast selbst ertrunken, weil er Nichtschwimmer ist. Die Frau konnte sich selbst befreien und ans Ufer retten. Sie erlitt eine Unterkühlung. Es handele sich um eine Beziehungstat: Die beiden seien früher ein Paar gewesen, hieß es.
Im zweiten Artikel war Folgendes zu lesen:
BLÖDELEI ENDET IM BACHBETT
Sölden (dpa). Ein Pärchen aus Westfalen ist wegen einer Blödelei im Winterurlaub in Sölden im Krankenhaus gelandet. Ein 30-Jähriger hatte seine 27 Jahre alte Freundin aus Spaß über das Geländer einer Brücke gehalten und dabei das Gleichgewicht verloren. Die Touristen stürzten vier Meter tief. Die Frau wurde schnell geborgen, der Mann erlitt schwerste Verletzungen, er wurde von der Feuerwehr aus dem Wasser geholt.
Ich sah es verständnislos an und fragte: „Welche Anhaltspunkte gibt es und wer sind Sie überhaupt?“
„Anhaltspunkte?“, fragte es. „Sie sind privater Ermittler. Ich muss Ihnen doch wohl nicht Ihren Job erklären. Und was Ihre zweite Frage betrifft, ich bin der Totgeglaubte, den sie nirgends finden konnten.“
„Welcher Totgeglaubte?“
„Gott.“
Ein Irrer. Sollte ich direkt den Psychiatrischen Krisendienst anrufen oder einfach mitspielen? Schließlich schien er weder sich selbst noch andere zu gefährden. Ich entschied mich für letzteres.
„Wie wollen Sie mich denn bezahlen, Gott?“
„Bar und im Voraus.“ Er legte ein dickes Bündel Scheine auf meinen Schreibtisch. Ich zählte nach, genau 10000 Mäuse.
„Ich denke“, erklärte Gott, „damit sollten Entgelt und Spesen für die kommenden zwei Monate abgedeckt sein.“
Ich grunzte zustimmend und konnte mir die Frage dann aber doch nicht verkneifen:
„Wenn Sie Gott sind, dann müssen Sie doch wissen, was hinter diesen Geschichten steckt. Sie kennen doch jeden Menschen und wissen sogar im Voraus schon alles über ihn.“
„Wer hat Ihnen denn den Blödsinn erzählt?“
„Äh, der Pfarrer, Religionslehrer, meine Eltern, was weiß ich.“
„Ja, Menschen verlieren sich in ihren naiven Wünschen und Vorstellungen und steigern sich so lange hinein, bis sie es mit der Wirklichkeit verwechseln.“
„Aber wenn Sie nicht allwissend sind, was berechtigt Sie dann, sich Gott zu nennen?“
„Ich selbst berechtige mich.“
„Und warum?“
„Weil ich es will.“
„Und warum erscheinen Sie mir nicht als alter Mann mit Bart oder als starker Superheld?“
„Ich könnte Ihnen auch als bildschöne Frau erscheinen.“, erwiderte Gott lächelnd.
„Und warum tun Sie das nicht?“
„Jeder bekommt den Gott, den er verdient. Und jetzt gehen Sie an die Arbeit. Sonst stürze ich Sie ins Verderben.“
Er verließ mein Büro so leise und behutsam, wie er gekommen war.
Ich seufzte tief, rief bei der Redaktion der vorliegenden Tageszeitung an und bekam nach etlichen Telefonaten auch mit der Deutschen Presse-Agentur endlich die Namen des verunfallten Paares, das im österreichischen Sölden ins Flussbett gestürzt war. Mit dem Missgeschick wollte ich beginnen, den Mordversuch erst am Ende beleuchten, immer vom Einfachen zum Schwierigen und nicht umgekehrt.
Ich bin kein Mann der großen Worte und möchte Sie mit epischen Berichten meiner nun folgenden Recherchereisen sowie den jeweiligen wechselnden Befindlichkeiten verschonen, aber Ihnen die Ergebnisse meiner Recherche nicht vorenthalten. Ich landete zunächst bei Inga L. in Bielefeld, die sich noch immer um ihren schwer verletzten Freund sorgte, der in einem österreichischen Krankenhaus seiner baldigen Transportfähigkeit entgegenfieberte. Wie war es zu ihrem Missgeschick gekommen? Sie erklärte mir Folgendes: „Magnus und ich standen auf der Brücke und überall diese atemberaubende Landschaft, es war so romantisch, aber dann fiel uns auf, dass diese Romantik ja fast schon ins Kitschige abglitt und dass wir uns fühlten wie die Darsteller eines billigen Remakes eines romantischen Filmklassikers. Uns fielen Bekannte aus unserer Schulzeit ein. Beim Klassentreffen kurz nach dem Abi lösten sie allgemeines Fremdschämen aus – sie hatten in der Tanzschule einen Street-Dance-Kurs belegt und sich an den Hebefiguren aus Step Up versucht. Magnus hob mich hoch, nannte mich Saskia und schrie, dass ich ja so leicht wie eine Feder wäre. Dabei ist Saskia ziemlich moppelig, aber ihr Stefan ist auch ein echter Kleiderschrank, darum hat er es geschafft, sie in die Luft zu stemmen. Tja, Magnus hat es bei mir dann aber leider übertrieben und das Gleichgewicht verloren. Den Rest wissen Sie ja.“
Als nächstes suchte ich Saskia und Stefan K. In Porta Westfalica auf. Das Einfamilienhaus aus weißem Klinker, umgeben von Puschenrasen, Kies und Hainbuchenhecken passte zu dem von Inga L. beschriebenen Ehepaar. Als die Frau mir jedoch die Tür öffnete und mich ins Wohnzimmer bat, entdeckte ich überall seltsame Accessoires der Esoterik-Szene. Als ich sie fragte, ob sie vom Missgeschick ihrer Bekannten aus Bielefeld gehört habe, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht und sie gestand mir mit leuchtenden Augen, dass sie sich auf schwarze Magie verstehe. Sie selbst habe die beiden aus der Ferne zu Fall gebracht, denn sie hätten sie während einer furchtbaren Ferienfreizeit ständig wegen ihrer ausgeprägten Rundungen gehänselt und danach auch wegen ihrer posttraumatischen Belastungsstörungen, die die damals 10-Jährige aufgrund eines erschütternden Ereignisses während der Freizeit erlitten hatte. Bei einem Zeltlager im niedersächsischen Wallenhorst bei Osnabrück, war sie wegen Inga K.s und Magnus F.s Hänseleien vom Platz gelaufen und hatte erleben müssen, wie direkt vor ihren Augen ein junges Paar im Mittellandkanal ertrank. Sie hatte auf der nahegelegenen Brücke einen Schatten hinweg huschen sehen und sie war sicher, dass das der Teufel gewesen war.
Ich verließ die Wahnsinnige, recherchierte aber in den Pressearchiven und tatsächlich fand ich heraus, dass der psychisch kranke Detlev R., das Paar damals von der Brücke gestürzt hatte, das sich auf dem Geländer akrobatisch ineinander verschlungen hatte. Detlev R. lebte mittlerweile in Hannover in einer feuchten Souterrain-Wohnung nahe der Leine. Als er mir die Tür öffnete, ließ er mich arglos eintreten und schon bald ahnte ich warum. Er bereitete sich gerade darauf vor, in die Fußstapfen des berühmten Massenmörders Hamann zu treten und offenbar sollte ich sein erstes menschliches Opfer abgeben. Es gelang mir, ihm das Schlachtermesser zu entwinden und darüber hinaus ein Geständnis. Bereits seit geraumer Zeit produzierte er falsche Braunschweiger Würste aus dem Fleisch von Kaninchen und Ratten. Seine Abnehmer saßen – wie sollte es anders sein – direkt in Braunschweig. Es handelte sich um ein Metzger-Ehepaar, die ihn mit der passenden Gewürzmischung, Därmen, Klammern und Werkzeug für die Wurstherstellung versorgten und ihm seine Produkte zu Schleuderpreisen abkauften. Ich versprach ihm, ihn nicht bei der Polizei anzuzeigen. Ich hielt mein Versprechen und informierte den sozialpsychiatrischen Dienst der Stadt Hannover. Wie ich später hörte, mussten die Mitarbeitenden den Flüchtenden verfolgen, bis er schließlich stolperte und in die Leine fiel. Er konnte gerettet werden und wurde in eine geschlossene Einrichtung der forensischen Psychiatrie verbracht.
Ich fuhr weiter nach Braunschweig. Dort konnte ich nur noch die Scherben zusammenkehren. Das Metzger-Ehepaar war von Detlev R. Bereits gewarnt worden und hatte sich mitsamt seinem erheblichen Vermögen nach Übersee abgesetzt. Den Laden hatten sie einem zugedröhnten Punk-Pärchen übergeben, einfach damit jemand da war und nicht auffiel, dass sie sich aus dem Staub gemacht hatten. Einigen Braunschweiger Fascho-Glatzen, war aber sofort aufgefallen, dass anstelle des blitzsauberen Metzgerpaares nun ein paar schmuddelige Zecken planlos hinter der Theke herumlungerten. Sie verdächtigten sie, das Metzgerehepaar ermordet zu haben und trieben sie in einem Akt von Selbstjustiz wie die Hamelner Ratten in die nahegelegene Oker, wo sie fast ertranken. Zum Glück hatte die Frau kurz vorher eine SMS verschickt und auch eine Antwort darauf erhalten. Die Spur führte mich nach Berlin – in ein besetztes Haus im westlichen Stadtteil Wannsee, ein äußerst ungewöhnlicher Ort für Hausbesetzer, aber sie hatten es wirklich nett in der verwunschenen, etwas heruntergekommenen Jugendstilvilla im Grünen und die unkonventionellen Bewohner luden mich zu Kaffee und Keksen ein. Ich hätte es wissen müssen, die Kekse hatten es in sich und darum bin ich nicht sicher, ob ich alles, was mir die jungen Leute nun erzählten, richtig in Erinnerung habe. Ein seltsamer Freak namens Marlon F., der mit seinen vermögenden Erziehungsberechtigten im Haus schräg gegenüber lebte und tagein, tagaus nur in seinem Zimmer saß und abwechselnd seinem PC oder seinem Smartphone Gesellschaft leistete, war an einem lauen Sommerabend vor die Tür getreten und Josie H. begegnet. Josie war eine 16-jährige Trebegängerin gewesen und hatte in dem besetzten Haus untertauchen können. Das lag mittlerweile ein Jahr zurück – in der Zwischenzeit hatte Josie versucht, Marlon aus seiner Konsum- und Computer-Hölle zu erlösen, hatte ihm die Schönheiten der Natur gezeigt, inklusive jene, die sie permanent mit sich herumtrug, der Junge hatte ein wenige Farbe bekommen und gelernt, in ganzen Sätzen zu sprechen. Aber Josie war flatterhaft wie ein Schmetterling und intelligent wie eine Nobelpreisträgerin gewesen und des unansehnlichen, geistig unflexiblen Hikikomori-Kandidaten bald überdrüssig geworden. Als der kurz vor Weihnachten feststellte, dass es für ihn nicht einen einzigen Grund gab, sich auf das Fest zu freuen, weil ihm nichts mehr einfiel, das er sich hätte wünschen können, außer seine Beziehung mit Josie H. wieder aufzunehmen, entschloss er sich, das Haus erneut zu verlassen. Doch als er ihr, nachdem er sie zu einem Spaziergang an der Havel überredet hatte, seinen Vorschlag unterbreitete, hatte die Angebetete nur entnervt mit den Augen gerollt. In blinder Wut hatte er sie in die Havel gestoßen und unter Wasser gedrückt. Dabei geriet er in die Strömung und weil er nicht schwimmen konnte, wäre er beinahe ertrunken, hätte nicht Josie K. sich schnell ans Ufer gerettet und einen Passanten gebeten, einen Notruf abzusetzen.
Ich habe Marlon F. Im Krankenhaus besucht. Er hadert mit seinem Schicksal. An allem, sagte er, sei nur sein Halbbruder Magnus schuld. Magnus durfte damals bei der Mutter bleiben und lebt übrigens in Bielefeld. Magnus hat eine Freundin und ein Talent, sich beim Fallen in Flüsse lebensgefährlich zu verletzen. Marlon hat gegoogelt. Die Lutter mit ihrem Knöchel- bis Kniehohen Bachbett liegt nicht weit von seinem Haus entfernt.
Als ich pünktlich zum Jahreswechsel Gott von meinem Recherchen in Kenntnis setzte, lauschte er schmunzelnd meinem Bericht. „Ist das nicht irre?“, fragte er. „Wie das Eine mit dem Anderen zusammenhängt? Wie eine unendliche Kette aus Millionen bunter Perlen. Das hast Du wirklich gut gemacht. Gehen wir eine Scotch trinken. Ich lad' dich ein.“
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Freitag, 22. Dezember 2017
Posttrauma
c. fabry, 14:03h
Noch drei Wochen bis Weihnachten, dachte Uschi, dann haben wir hier endlich wieder einmal so etwas wie normalen Alltag. Die Massen von Paketen waren kaum noch zu bewältigen, da war fast kein Platz mehr, wenn in der Filiale ein Feuer ausbräche, wären sie rettungslos verloren. Es war gerade mal 8.25 Uhr und schon staute sich eine entsetzlich lange Schlange vor dem Schalter, obwohl sie zu dritt waren. Das wäre ja alles noch irgendwie zu bewerkstelligen, wenn es nur um Paket- und Briefpost ginge, ja sogar Sendungen über die Grenze der EU oder Pakete in Übergrößen waren kein Problem für sie. Aber gerade wenn es besonders voll war, kamen die senilen Geizkragen mit dem Postbankkonto und wollten einen Dauerauftrag ändern oder irgendein Smartphone-Analphabet tauchte im Telefon-Shop auf, den sie nebenbei auch noch betreuen musste. Ihr Deo begann bereits zu versagen, auch wenn sie optisch noch in einwandfreiem Zustand war. Harald bewunderte sie täglich für ihre Disziplin, dass sie extra eine halbe Stunde früher aufstand, um die Haare ordentlich in Form zu bringen und ein akkurates Make-up aufzulegen, so dass sie immer tip top aussah. So bemerkte niemand, wie es bereits jetzt in ihr brodelte.
Als wäre das alles nicht schon mehr als genug gewesen, kam schon wieder die alte Schrunze aus der Kirchengemeinde in den Laden gestiefelt. Einfach nicht hinsehen, dachte Uschi, vielleicht will sie ja nur ihr Postfach leeren. Was hatte sie mit dieser Tante schon für einen Stress gehabt. Zuerst war sie aufgetaucht und wollte ein Postfach für die Gemeinde einrichten, sie hätten da ein Kooperationsprojekt mit einer Organisation, bei der höchst fragwürdige Menschen die Postanschrift bräuchten, aber ihnen wäre es lieber, die Adresse bliebe geheim. Eine Viertelstunde hatte die Alte sie zugetextet und Uschi hatte einfach Aufmerksamkeit vorgetäuscht und in Gedanken das Abendessen zu Hause geplant: Schweinemedaillons in Rahmsauce, Country-Kartoffeln mit French Dressing und Kaisergemüse. Zum Nachtisch hatte noch das Apfelkompott vom Vortag gereicht. Sie hatte der Kundin einen Flyer in die Hand gedrückt und erklärt, wie sie vorzugehen habe, dann war die Frau schließlich gegangen.
Drei Wochen später hatte sie wieder in der Filiale gestanden und gefragt, wo eigentlich der Schlüssel für das Postfach bliebe. Uschi hatte nachgesehen und es war verzeichnet, dass der Gemeinde der Schlüssel zugestellt worden war. Sie stritt das allerdings vehement ab und ihre Stimme überschlug sich, als sie schimpfte, was das denn für eine Unverschämtheit sei, einfach zu behaupten, sie hätten den Schlüssel bekommen, wenn das nicht der Fall sei. Uschi hatte nachgeforscht, alle Eventualitäten abgeklopft und wieder einmal viel zu spät Feierabend gemacht. Dann hatte sie geglaubt, nun sei alles geregelt, aber eine Woche später hatte die Kirchentante wieder im Laden gestanden und war voll auf Schaum gewesen. Uschi hatte es gereicht, sie hatte ihr den Schlüssel eines Ersatzschlosses gegeben, die bereits eingegangene Post aus dem Fach geholt und versprochen, das Schloss noch heute auszuwechseln.
Sie hatte es vergessen. Am kommenden Tag war die Trulla wieder im Laden und beschwerte sich, dass der Schlüssel nicht passte. Uschi hatte das Postfach geöffnet, ihr die eingegangenen Sendungen gereicht und zugesichert, sich gleich des Schlosswechsels anzunehmen.
Damit sie es nicht wieder vergaß, hatte sie sich gleich an die Arbeit gemacht, doch plötzlich stand die evangelische Gewitterhexe wieder hinter ihr.
„Hören Sie mal“, hatte sie gefaucht. „Was soll dieser Unsinn? Warum geht denn die Post, die an die Hausanschrift der Gemeinde adressiert ist, auch ins Postfach?“
„Das ist so geregelt.“, hatte Uschi ihr erklärt. „Das steht auch in den AGBs. Entweder man bekommt die Post zu Hause zugestellt oder ins Postfach. Beides geht nicht.“
„Das glaube ich Ihnen nicht.“ hatte die Furie gekontert. „Wir bezahlen doch nicht 20 € Miete im Jahr, damit der Zusteller sich die Arbeit erleichtern kann. Das ist doch eindeutig, dass Briefe, die an das Postfach adressiert sind, dorthin gehen und Briefe, die an den Kirchweg adressiert sind, direkt im Gemeindebüro zugestellt werden, sonst muss ja täglich jemand von uns hierher fahren und die Post abholen.“
„So ist das nun einmal!“, hatte Uschi zurück gefaucht. „Ich habe die Bestimmungen nicht gemacht. Wenn Sie also ein Problem damit haben, wenden Sie sich an den Kundenservice der Deutschen Post AG.“
„Sie hören noch von mir.“, hatte die Gemeindetante gedroht und dann wutschnaubend die Filiale verlassen.
„Sie will keine Brief mehr im Postfach haben?“ hatte Uschi vor sich hin gegrummelt. „Da kann ich sie zufriedenstellen.“
Von diesem Tag an war Uschi dazu übergegangen, hin und wieder ein Schreiben aus dem Postfach zu entfernen und vorübergehend in einem zu bunkern, das gar nicht vergeben war. Das würde ihr niemand nachweisen, sie trug dabei immer Baumwollhandschuhe. Als die Christentussi nun aber mit deutlich zornesrotem Gesicht in der Schlange hin und her trippelte, fragte sie sich, ob das mit der kleinen Schikane so eine gute Idee gewesen war. Nun musste sie sich womöglich schon wieder mit ihr herumärgern. Zum Glück war Helga mit Bedienen an der Reihe, als die Kundin vortrat. Uschi konnte aber nicht umhin, mit halbem Ohr zuzuhören.
„Hören Sie mal, ich habe am Donnerstag hier einen Brief mit Prio aufgegeben und der ist erst heute angekommen.“
Helga blieb freundlich und erklärte: „Da müssen Sie bei der Sendungsverfolgung anrufen und die Nummer...“
Die Krawallschachtel fiel ihr ins Wort: „Da habe ich längst angerufen und die behaupten, der Brief sei bereits am Freitag zugestellt worden. Ich habe aber am Sonntag mit der Empfängerin telefoniert und da war er noch nicht da. Am Telefon erklärte man mir, er sei zugestellt worden und ich könne höchstens einen Nachforschungsauftrag erteilen und zwar online. Das wollte ich auch, aber dort wird erklärt, dass das frühestens nach einer Woche möglich ist. Heute ist Mittwoch und fast eine Woche um und der Brief, für den ich extra Gebühren bezahlt habe, damit er bevorzugt behandelt wird, ist vorsätzlich verschleppt worden. Ich verlange mein Geld zurück. Eigentlich müsste ich die Post verklagen, das sind ja betrügerische Praktiken, wenn einfach behauptet wird, ein Brief sei zugestellt worden, obwohl das gar nicht der Fall ist.“
„Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.“, erklärte Helga tapfer. „Da müssten Sie sich an den Kundenservice...“
„Ich muss überhaupt nichts.“, unterbrach sie die Kundin. „Ich gehe nicht eher hier weg, bis Sie mir die Gebühren für die Prio erstattet haben. Rufen Sie doch den Kundeservice an. Angenommen ich hätte weder Telefon noch Internet, hätte ich dann etwa keine Rechte?“
Helga war ratlos und Uschi hatte die Schnauze voll. Sie kramte 1,50 € aus ihrem Portemonnaie und knallte sie vor der aufgebrachten Kundin auf die Theke. „Hier, nehmen Sie Ihr Geld und lassen Sie uns unsere Arbeit machen. Wenn Sie sich beschweren wollen und weder Telefon noch Internet haben, kann ich Ihnen gerne Papier geben und einen Stift leihen, dann schreiben Sie einen Brief und ich leite den an die entsprechende Stelle weiter.“
Die Kundin nahm das Geld und sagte: „Sie hören noch von mir, das kann ich Ihnen versprechen.“, dann verließ sie die Filiale.
Uschi schob den Ärger beiseite, sie musste funktionieren, aber in den Atempausen machte sich ein Nagen in ihren Eingeweiden bemerkbar. Was passierte wenn die Kirchentrulla sich bei den falschen Leuten über sie beschwerte? Kundenunfreundliches Verhalten konnte sie ihren Job kosten und sie brauchten das Geld, Harald verdiente ja auch nicht besonders gut.
Nach Feierabend forschte sie nach, welche Absender am Donnerstag Briefe per Prio aufgegeben hatten. Tatsächlich war es nur eine Person und so hatte sie direkt Name und Adresse zur Hand.
Das war ja wieder klar, dachte Uschi, machen fromme Projekte, aber das Gesocks wollen sie sich lieber vom Hals halten. Kein Wunder bei der Hütte. Die haben mindestens dreimal so viel Geld auf der Kante wie Harald und ich zum Leben haben.
Sie schlich um das großzügige Einfamilienhaus herum. Verborgen hinter einem dichten Rhododendron-Strauch linste sie durch eine lichtere Stelle in das erleuchtete Haus hinein. Zur Terrasse hin verfügte das Gebäude über eine großflächige Glasfront und Madame wuselte in Kaschmir und Seide gehüllt durchs Wohnzimmer, wo sie gerade eine Platte mit Schnittchen auf dem Couchtisch abstellte.
Uschi überlegte gerade, ob sie nicht unverrichteter Dinge wieder abziehen sollte, da wendete sich das Blatt zu ihren Gunsten. Die Christenschlampe hob einen Brennholz-Behälter, der neben dem offenen Kamin stand ,hoch und verließ das Zimmer. Uschi bemerkte, dass neben dem Haus, die gut abgelagerten Birkenscheite aufgeschichtet lagen. Ihr Blick fiel auf eine riesige, goldene Dekokugel, die hinter dem Rhododendron das spärliche Licht reflektierte, das durch den dicht belaubten Busch drang. Sie zog den Pflock, an dem die schwere Glaskugel befestigt war, aus dem Beet und huschte hinter die idyllische Laube, von wo aus sie einen kurzen Weg zum Brennholzlager hatte.
In einer sündhaft teuren Wachsjacke und Clogs kam die evangelische Nervensäge um die Ecke und begann Scheite in ihren Holzkorb zu stapeln. Blitzschnell schoss Uschi hinter der Laube hervor und zog dem missgünstigen Luder eins über den Schädel. Sie sackte augenblicklich stöhnend zu Boden. Dann rührte sie sich nicht mehr und machte auch keinen Mucks. Es war zu Dunkel, um festzustellen, ob sie aus dem Kopf blutete. Uschi ließ die Kugel auf den Rasen fallen. Spuren hatte sie an der Waffe nicht hinterlassen, sie trug glatte Kunstleder-Handschuhe.
Am nächsten Tag las Uschi in der Zeitung, dass die Frau den Überfall überlebt hatte und im Krankenhaus lag. Sie blieb ganz ruhig, schließlich hatte ihr Opfer sie nicht gesehen. Und wie sich herausstellte, hatte sie ihr Ziel auch ohne Totschlag erreicht. Als die Kundin ein halbes Jahr später in der Filiale auftauchte, konnte sie sich an nichts erinnern.
Als wäre das alles nicht schon mehr als genug gewesen, kam schon wieder die alte Schrunze aus der Kirchengemeinde in den Laden gestiefelt. Einfach nicht hinsehen, dachte Uschi, vielleicht will sie ja nur ihr Postfach leeren. Was hatte sie mit dieser Tante schon für einen Stress gehabt. Zuerst war sie aufgetaucht und wollte ein Postfach für die Gemeinde einrichten, sie hätten da ein Kooperationsprojekt mit einer Organisation, bei der höchst fragwürdige Menschen die Postanschrift bräuchten, aber ihnen wäre es lieber, die Adresse bliebe geheim. Eine Viertelstunde hatte die Alte sie zugetextet und Uschi hatte einfach Aufmerksamkeit vorgetäuscht und in Gedanken das Abendessen zu Hause geplant: Schweinemedaillons in Rahmsauce, Country-Kartoffeln mit French Dressing und Kaisergemüse. Zum Nachtisch hatte noch das Apfelkompott vom Vortag gereicht. Sie hatte der Kundin einen Flyer in die Hand gedrückt und erklärt, wie sie vorzugehen habe, dann war die Frau schließlich gegangen.
Drei Wochen später hatte sie wieder in der Filiale gestanden und gefragt, wo eigentlich der Schlüssel für das Postfach bliebe. Uschi hatte nachgesehen und es war verzeichnet, dass der Gemeinde der Schlüssel zugestellt worden war. Sie stritt das allerdings vehement ab und ihre Stimme überschlug sich, als sie schimpfte, was das denn für eine Unverschämtheit sei, einfach zu behaupten, sie hätten den Schlüssel bekommen, wenn das nicht der Fall sei. Uschi hatte nachgeforscht, alle Eventualitäten abgeklopft und wieder einmal viel zu spät Feierabend gemacht. Dann hatte sie geglaubt, nun sei alles geregelt, aber eine Woche später hatte die Kirchentante wieder im Laden gestanden und war voll auf Schaum gewesen. Uschi hatte es gereicht, sie hatte ihr den Schlüssel eines Ersatzschlosses gegeben, die bereits eingegangene Post aus dem Fach geholt und versprochen, das Schloss noch heute auszuwechseln.
Sie hatte es vergessen. Am kommenden Tag war die Trulla wieder im Laden und beschwerte sich, dass der Schlüssel nicht passte. Uschi hatte das Postfach geöffnet, ihr die eingegangenen Sendungen gereicht und zugesichert, sich gleich des Schlosswechsels anzunehmen.
Damit sie es nicht wieder vergaß, hatte sie sich gleich an die Arbeit gemacht, doch plötzlich stand die evangelische Gewitterhexe wieder hinter ihr.
„Hören Sie mal“, hatte sie gefaucht. „Was soll dieser Unsinn? Warum geht denn die Post, die an die Hausanschrift der Gemeinde adressiert ist, auch ins Postfach?“
„Das ist so geregelt.“, hatte Uschi ihr erklärt. „Das steht auch in den AGBs. Entweder man bekommt die Post zu Hause zugestellt oder ins Postfach. Beides geht nicht.“
„Das glaube ich Ihnen nicht.“ hatte die Furie gekontert. „Wir bezahlen doch nicht 20 € Miete im Jahr, damit der Zusteller sich die Arbeit erleichtern kann. Das ist doch eindeutig, dass Briefe, die an das Postfach adressiert sind, dorthin gehen und Briefe, die an den Kirchweg adressiert sind, direkt im Gemeindebüro zugestellt werden, sonst muss ja täglich jemand von uns hierher fahren und die Post abholen.“
„So ist das nun einmal!“, hatte Uschi zurück gefaucht. „Ich habe die Bestimmungen nicht gemacht. Wenn Sie also ein Problem damit haben, wenden Sie sich an den Kundenservice der Deutschen Post AG.“
„Sie hören noch von mir.“, hatte die Gemeindetante gedroht und dann wutschnaubend die Filiale verlassen.
„Sie will keine Brief mehr im Postfach haben?“ hatte Uschi vor sich hin gegrummelt. „Da kann ich sie zufriedenstellen.“
Von diesem Tag an war Uschi dazu übergegangen, hin und wieder ein Schreiben aus dem Postfach zu entfernen und vorübergehend in einem zu bunkern, das gar nicht vergeben war. Das würde ihr niemand nachweisen, sie trug dabei immer Baumwollhandschuhe. Als die Christentussi nun aber mit deutlich zornesrotem Gesicht in der Schlange hin und her trippelte, fragte sie sich, ob das mit der kleinen Schikane so eine gute Idee gewesen war. Nun musste sie sich womöglich schon wieder mit ihr herumärgern. Zum Glück war Helga mit Bedienen an der Reihe, als die Kundin vortrat. Uschi konnte aber nicht umhin, mit halbem Ohr zuzuhören.
„Hören Sie mal, ich habe am Donnerstag hier einen Brief mit Prio aufgegeben und der ist erst heute angekommen.“
Helga blieb freundlich und erklärte: „Da müssen Sie bei der Sendungsverfolgung anrufen und die Nummer...“
Die Krawallschachtel fiel ihr ins Wort: „Da habe ich längst angerufen und die behaupten, der Brief sei bereits am Freitag zugestellt worden. Ich habe aber am Sonntag mit der Empfängerin telefoniert und da war er noch nicht da. Am Telefon erklärte man mir, er sei zugestellt worden und ich könne höchstens einen Nachforschungsauftrag erteilen und zwar online. Das wollte ich auch, aber dort wird erklärt, dass das frühestens nach einer Woche möglich ist. Heute ist Mittwoch und fast eine Woche um und der Brief, für den ich extra Gebühren bezahlt habe, damit er bevorzugt behandelt wird, ist vorsätzlich verschleppt worden. Ich verlange mein Geld zurück. Eigentlich müsste ich die Post verklagen, das sind ja betrügerische Praktiken, wenn einfach behauptet wird, ein Brief sei zugestellt worden, obwohl das gar nicht der Fall ist.“
„Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.“, erklärte Helga tapfer. „Da müssten Sie sich an den Kundenservice...“
„Ich muss überhaupt nichts.“, unterbrach sie die Kundin. „Ich gehe nicht eher hier weg, bis Sie mir die Gebühren für die Prio erstattet haben. Rufen Sie doch den Kundeservice an. Angenommen ich hätte weder Telefon noch Internet, hätte ich dann etwa keine Rechte?“
Helga war ratlos und Uschi hatte die Schnauze voll. Sie kramte 1,50 € aus ihrem Portemonnaie und knallte sie vor der aufgebrachten Kundin auf die Theke. „Hier, nehmen Sie Ihr Geld und lassen Sie uns unsere Arbeit machen. Wenn Sie sich beschweren wollen und weder Telefon noch Internet haben, kann ich Ihnen gerne Papier geben und einen Stift leihen, dann schreiben Sie einen Brief und ich leite den an die entsprechende Stelle weiter.“
Die Kundin nahm das Geld und sagte: „Sie hören noch von mir, das kann ich Ihnen versprechen.“, dann verließ sie die Filiale.
Uschi schob den Ärger beiseite, sie musste funktionieren, aber in den Atempausen machte sich ein Nagen in ihren Eingeweiden bemerkbar. Was passierte wenn die Kirchentrulla sich bei den falschen Leuten über sie beschwerte? Kundenunfreundliches Verhalten konnte sie ihren Job kosten und sie brauchten das Geld, Harald verdiente ja auch nicht besonders gut.
Nach Feierabend forschte sie nach, welche Absender am Donnerstag Briefe per Prio aufgegeben hatten. Tatsächlich war es nur eine Person und so hatte sie direkt Name und Adresse zur Hand.
Das war ja wieder klar, dachte Uschi, machen fromme Projekte, aber das Gesocks wollen sie sich lieber vom Hals halten. Kein Wunder bei der Hütte. Die haben mindestens dreimal so viel Geld auf der Kante wie Harald und ich zum Leben haben.
Sie schlich um das großzügige Einfamilienhaus herum. Verborgen hinter einem dichten Rhododendron-Strauch linste sie durch eine lichtere Stelle in das erleuchtete Haus hinein. Zur Terrasse hin verfügte das Gebäude über eine großflächige Glasfront und Madame wuselte in Kaschmir und Seide gehüllt durchs Wohnzimmer, wo sie gerade eine Platte mit Schnittchen auf dem Couchtisch abstellte.
Uschi überlegte gerade, ob sie nicht unverrichteter Dinge wieder abziehen sollte, da wendete sich das Blatt zu ihren Gunsten. Die Christenschlampe hob einen Brennholz-Behälter, der neben dem offenen Kamin stand ,hoch und verließ das Zimmer. Uschi bemerkte, dass neben dem Haus, die gut abgelagerten Birkenscheite aufgeschichtet lagen. Ihr Blick fiel auf eine riesige, goldene Dekokugel, die hinter dem Rhododendron das spärliche Licht reflektierte, das durch den dicht belaubten Busch drang. Sie zog den Pflock, an dem die schwere Glaskugel befestigt war, aus dem Beet und huschte hinter die idyllische Laube, von wo aus sie einen kurzen Weg zum Brennholzlager hatte.
In einer sündhaft teuren Wachsjacke und Clogs kam die evangelische Nervensäge um die Ecke und begann Scheite in ihren Holzkorb zu stapeln. Blitzschnell schoss Uschi hinter der Laube hervor und zog dem missgünstigen Luder eins über den Schädel. Sie sackte augenblicklich stöhnend zu Boden. Dann rührte sie sich nicht mehr und machte auch keinen Mucks. Es war zu Dunkel, um festzustellen, ob sie aus dem Kopf blutete. Uschi ließ die Kugel auf den Rasen fallen. Spuren hatte sie an der Waffe nicht hinterlassen, sie trug glatte Kunstleder-Handschuhe.
Am nächsten Tag las Uschi in der Zeitung, dass die Frau den Überfall überlebt hatte und im Krankenhaus lag. Sie blieb ganz ruhig, schließlich hatte ihr Opfer sie nicht gesehen. Und wie sich herausstellte, hatte sie ihr Ziel auch ohne Totschlag erreicht. Als die Kundin ein halbes Jahr später in der Filiale auftauchte, konnte sie sich an nichts erinnern.
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Freitag, 15. Dezember 2017
Private Investigations - ein abgeschlossener Kurzkrimi
c. fabry, 11:54h
Es war einer dieser Tage, an denen die Zeit fließt wie Kunsthonig, zäh, trübe, beinahe schon erstarrt. Glauben Sie nicht, mir sei nicht bewusst, dass ich im 21. Jahrhundert lebe, aber ich bin Purist und die schlichten Lamellen vor dem Fenster, der große Deckenventilator, der kompakte Eichen-Schreibtisch, der mit drei einfachen aber soliden Holzstühlen die ganze spartanische Ausstattung meines Büro ausmacht – abgesehen von dem schwarzen Bakelit-Fernsprecher - dient nicht etwa der Erzeugung einer Illusion, man befinde sich in einem Detektiv-Film der Vierzigerjahre. Obwohl ich gestehen muss, dass der von Bogie verkörperte Philip Marlowe allmählich zu meinem Alter Ego mutiert. Wir haben die gleichen Initialen, Marlowe und ich und den gleichen Beruf: Privater Ermittler. Es klopfte an der Tür, als ich gerade überlegte, ob ich mir noch eine Zigarette anzünden oder direkt in Harrys Bar wechseln sollte, denn es gab nichts zu tun und Harry hatte den besten Scotch der Stadt und wollte mir ums Verrecken nicht verraten, wo man das Zeug Flaschenweise bekam, denn dann hätte er mich als einen seiner treuesten Kunden womöglich verloren. Doch ich wurde in meinen Abwägungen unterbrochen durch ein zartes Klopfen, ein weibliches, wie ich sofort scharfsinnig erkannte. Geschäftstüchtig nahm ich die Füße vom Schreibtisch und bat die Person herein.
Sie war ein Engel. Kein Vamp wie Lauren Bacall, aber auch kein naives Mäuschen wie die Monroe, nein, sie war unvergleichlich: ungeschminkt, von natürlicher Anmut, sanft, aber entschlossen, zart gebaut aber voller weiblicher Rundungen und ihr Look war zeitlos und klassisch.
„Sind Sie Peter Margo?“, fragte sie mit einer erschütternd klaren Stimme.
„Ja, der bin ich.“, antwortete ich. „Was kann ich für Sie tun?“
„Es ist kompliziert.“, antwortete die junge Schönheit.
„Das ist es meistens. Lassen Sie mich raten: Sie verdächtigen Ihren Mann eines amourösen Doppellebens?“
„Ich habe keinen Mann.“
Das ließ mich aufhorchen. Der Engel war noch auf dem Markt, wenn ich mich gehörig ins Zeug legte, würden vielleicht schon Weihnachten die Glocken für mich klingen.
„Worum geht es dann?“
„Mindestens um eine vermisste Person.“, antwortete die Frau. „Möglicherweise sogar um Mord.“
Ich pfiff leise durch die Zähne. „Da müssen Sie mir schon ein bisschen mehr erzählen Lady, also wer ist Ihnen abhanden gekommen, warum halten Sie es für möglich, dass ihn jemand vorsätzlich getötet hat und wen haben Sie in Verdacht?“
„Es geht um Gott.“
„Wie bitte?“
„Wissen Sie“, begann die junge Frau und nahm gedankenverloren vor meinem Schreibtisch Platz, „eines Morgens wachte ich auf und stellte fest, dass er nicht mehr da ist. Eigentlich fehlte er schon länger, aber es war mir bis dahin gar nicht aufgefallen. Zuerst dachte ich, ach, der hat sich sicher versteckt, ist mal wieder beleidigt, weil ich ihn zu wenig beachtet habe, aber dann habe ich nach ihm gesucht und ihn nirgends gefunden.“
„Wo genau haben Sie denn gesucht?“
„An den üblichen Orten.“
„Und die wären?“
„In alten und neuen Kirchen, in Gemeindekreisen, in der Natur, beim Bibellesen, in anderen Religionen, ja sogar in mir selbst, ganz lange habe ich in mich hineingehorcht, aber ich konnte ihn nirgends entdecken.“
Die Maus hatte ja offenkundig nicht mehr alle Latten am Zaun, aber ich beschloss mitzuspielen, man konnte nie wissen, was in so einem Fall für einen heraussprang.
„Woran haben Sie denn in der Vergangenheit bemerkt, dass er da war?“
„Manchmal fühlte ich mich ganz leicht, manchmal, als sei ich voller Licht und manchmal auch einfach geborgen, so, als würde ich getragen. Alles ergab einen Sinn und fügte sich wunderbar zusammen. Aber das Wichtigste war die Hoffnung. Es ist ja nicht so, dass ich früher keine Schwierigkeiten hatte, aber da war immer diese Hoffnung, ja sogar die Gewissheit, dass sich alles zum Guten wenden würde. Und dann wusste ich, Gott ist bei mir. Doch seit einiger Zeit ist er weg.“
„Aber vielleicht hat er sich ja wirklich nur versteckt.“, überlegte ich.
„Ja.“, erwiderte die junge Frau. „Zuerst dachte ich das ja auch. Aber dann fiel mir auf, dass er nicht nur mich im Stich gelassen hat. Es heißt bei Jesaja: das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht und über denen, die da wohnen im finstern Lande scheint es hell. - Aber das Licht scheint nicht. Überall leben Leute in der Dunkelheit. In China gibt es Menschen, die haben in ihrem ganzen Leben noch nie den Himmel gesehen, geschweige denn die Sonne, weil sie ständig unter einer riesigen Smog-Glocke leben. Sie wissen doch sicher selbst, dass es überall in der Welt gnadenlose Ausbeutung, Unterdrückung, Hunger, Krieg und Vertreibung gibt, da bleibt es dunkel, da scheint kein Licht. Je länger ich darüber nachdenke, umso klarer wird für mich, dass irgendjemand Gott getötet haben muss.“
„Und ich soll jetzt für Sie herausfinden wer?“
„Ja, ich bitte Sie darum.“
„Ich bin nicht billig, Lady. 40 € die Stunde plus Spesen. Können Sie sich das leisten?“
„Ich zahle Ihnen fünfhundert im Voraus. Wenn das verbraucht ist, können Sie die Ermittlungen abbrechen, aber ich hoffe, Sie werden vorher fündig. Nehmen Sie den Auftrag an?“
„Aber sicher, Lady.“, antwortete ich. Ich war gerade ziemlich klamm und selbst wenn ich nichts herausfand, sollte es mein Schaden nicht sein. Warum also nicht einmal ein bisschen ins Blaue ermitteln? „Ich mach mich gleich an die Arbeit und melde mich, sobald ich etwas herausgefunden habe. Lassen Sie mir Ihre Telefonnummer da?“
„Und was ist mit E-Mail?“
„Gehen Sie nicht ans Telefon?“
„Doch schon, aber ich bin nicht immer telefonisch erreichbar.“
„Dann versuch ich es eben noch einmal.“
„Haben Sie keinen Internetauftritt?“, fragte sie verwundert.
„Wie haben Sie mich gefunden?“, lautete meine Gegenfrage.
„Im Vorbeigehen habe ich das Schild gesehen.“, antwortete sie.
„Sehen Sie.“, entgegnete ich. „So mach ich das. Ich konzentriere mich aufs Wesentliche.“
Sie notierte ihre Nummer und verabschiedete sich.
Die halbe Nacht las ich diesen Jesaja und auch die Querverweise. Ich fand heraus, dass das Licht von einem Superhelden ausging, der Wunder wirken, den Frieden bringen und für Gerechtigkeit sorgen würde. Ein paar hundert Jahre, nachdem diese Prophezeiung notiert worden war, kam
Jesus von Nazareth zur Welt und um ihn rankten sich Legenden und viele sahen in ihm die Erfüllung der Prophezeiung. Er wurde tatsächlich ermordet, bzw. hingerichtet, aber wenn ich meinen Quellen Glauben schenken konnte, kehrte er kurz nach seinem Tod zurück und machte noch 40 Tage weiter, bevor er spurlos verschwand, d.h., das stimmt nicht ganz, denn er hinterließ haufenweise Spuren in der Geschichte und in den Köpfen und Herzen der Menschen. So lebte er ewig weiter und eigentlich müsste er das immer noch tun, aber meine Klientin hatte da ihre Zweifel. Irgendjemand hatte ihn also möglicherweise ein zweites Mal verschwinden lassen und nun ging es um die Frage des Motivs. Wer hat ein Interesse daran, Gott zu töten? Wem spuckt der Allmächtige in die Suppe?
Ich lief durch die Straßen – Harrys Bar war längst geschlossen – es denkt sich auch besser, wenn man einen Fuß vor den anderen setzt. Doch mir fiel nichts ein und so ging ich schließlich in mein winziges Apartment, legte mich in mein ungemachtes Bett und fiel in einen bleiernen Schlaf.
Am nächsten Morgen, nach einem schwarzen Kaffee und einem alten Milchbrötchen ging ich meine Überlegungen etwas systematischer an: Was waren die häufigsten Mordmotive?
Eifersucht
Kränkung
Existenzangst
Gier
Eifersucht schloss ich aus, mit Gott ging niemand eine Paarbeziehung ein. Nicht einmal die Nonnen, die sich als Bräute Christi bezeichneten und einen Verlobungsring am Finger trugen, lebten ernsthaft in einer Paarbeziehung mit ihrem Erlöser.
Kränkung kam da schon eher in Frage. Schließlich konnte man behaupten, von Gott gedemütigt worden zu sein, wenn das Leben einen in die Knie zwang und man seiner Würde beraubt wurde. Also standen schon einmal alle Entrechteten und vom Schicksal Gebeutelten unter Generalverdacht.
Existenzangst schied ebenfalls aus. Wer beim Kampf ums Überleben knappe Ressourcen verteidigt oder erobert, tut das immer in Konkurrenz zu anderen Wesen aus Fleisch und Blut, mit Gott zankt man nicht um den Braten oder um die günstige Wohnung oder um den Fortbestand der eigenen Firma.
Und schließlich die Gier. Um Gier ging es ja meistens. Selbst Beziehungstaten aus Eifersucht lag eigentlich Gier zugrunde. Ich überlegte, wer wohl der gierigste Mensch in meiner Umgebung war und dachte sofort an von Contzen, der mit seinem Riesenverlagshaus alle kleinen Konkurrenten nach und nach vom Markt verdrängte.
Seine Vorzimmerdame wollte mich zuerst nicht zu ihm lassen.
„Haben Sie einen Termin?“, fragte sie schnippisch?
„Nein.“, erklärte ich. „Aber ich ermittle in einem mutmaßlichen Mordfall und wie Sie sich denken können, kann so etwas nicht warten.“
„Können Sie sich ausweisen?“
„Selbstverständlich.“ Ich zeigte ihr meine Lizenz.
„Privatermittler.“ Sie rümpfte verächtlich die Nase. „Ich bin nicht sicher, ob Herr von Contzen bereit ist, Sie zu empfangen; verpflichtet ist er dazu jedenfalls nicht. Aber ich kann ihn ja einmal fragen.“
Sie verschwand hinter einer gepolsterten Doppeltür und kehrte kurz darauf zurück.
„Sie haben Glück.“, erklärte sie. „Der Herr von Contzen ist neugierig.“
Ich betrat die Höhle des Löwen, die beinahe genauso minimalistisch ausgestattet war wie mein Büro, nur war alles dreimal so groß und zehnmal so edel und die Außenfassade war komplett verglast.
„Sie ermitteln in einem Mordfall?“, fragte von Contzen, der mir in einem lässigen Designeranzug entgegentrat und mir die Hand reichte.
„In der Tat.“, erwiderte ich. „Margo ist mein Name. Es ist nicht ausgemacht, ob es wirklich um Mord geht. Zunächst einmal könnte man es auch wie eine Vermisstenmeldung behandeln.“
Wortlos wies von Contzen auf die bequemen Stühle am Besprechungstisch und wir nahmen beide Platz. Dann fragte er: „Und warum befasst sich nicht die Polizei mit dieser Angelegenheit?“
„Meine Auftraggeberin ist skeptisch, ob sie überhaupt ermitteln würden.“
„Warum?“
„Wenn es keinen deutlichen Hinweis auf ein Verbrechen gibt, gehen die erst einmal davon aus, dass der Vermisste von sich aus das Weite gesucht hat. Meine Klientin geht aber von einem Gewaltverbrechen aus.“
„Um wem handelt es sich bei dem Opfer?“
„Um Gott.“
„Wir bitte?“
„Ja, Sie haben richtig gehört. Meine Klientin sagt, er sei abhanden gekommen. Sie vermisse ihn schon länger. Nun meine Frage an Sie: Kannten Sie den Vermissten?“
„Nicht persönlich.“, antwortete Contzen. „Aber ich habe von ihm gehört. In ein paar Wochen ist ja auch wieder Weihnachten, da wird er dann ganz sicher wiedergeboren.“
Von Contzen lachte ironisch.
„Sie gehen also auch davon aus, dass er getötet wurde?“
„Sicher.“, antwortete Contzen und lachte noch lauter. „Wurde ja gekreuzigt, aber keine Sorge, der ist ein Stehaufmännchen.“
Der Verleger klopfte sich auf die Schenkel, begeistert von seinem eigenen Witz. Das alte Milchbrötchen machte sich wieder bemerkbar, ob es wohl gleich auf seinem hochwertigen Wollteppichboden landen würde?
„Wie standen Sie denn zu Gott?“, fragte ich.
„Ach wissen Sie.“, antwortete mein Gesprächspartner. „Ich bin Materialist. Religion ist etwas für Leute, die Trost brauchen. Bei mir hingegen läuft der Laden. Gott interessiert mich nicht, es sei denn, jemand schreibt ein gutes Buch über ihn.“
„Und wenn er plötzlich hier auftauchen würde?“
„Das ist doch Quatsch!“
„Mal angenommen, er würde sie überraschen.“
„Ich würde ihn für einen Psychopathen halten und die Polizei rufen.“
„Das glaube ich Ihnen aufs Wort, zumindest wenn er sich Ihnen in menschlicher Gestalt präsentieren würde, aber angenommen er wäre ganz anders und es gäbe keinen Zweifel und Sie wüssten, dass es Gott ist.“
„Sie verschwenden meine Zeit, Herr...Herr...“
„Margo“
„Ja, genau, Herr Margo. Ich schlage vor, Sie befragen einen Geistlichen. Der hält sicher die Antworten für sie bereit, nach denen Sie suchen. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich habe eine Menge zu tun.“
Ich verabschiedete mich und setzte von Contzen oben auf die Liste. Er wollte nicht über Gott reden, er war ihm lästig, stand ihm im Weg, behinderte ihn beim Erreichen seiner Ziele.
Nach zwei Tagen war der Vorschuss meiner Klientin aufgebraucht. Ich bestellte sie in mein Büro, ich wollte ihr wenigstens einen anständigen Bericht abliefern, wenn ich schon weder Opfer noch Täter präsentieren konnte.
„Hören Sie, Lady“, erklärte ich. „Ich habe Gott nicht gefunden, nicht einmal ein Spur von ihm. Die Zahl der infrage kommenden Täter ist uferlos, aber da Gott kein Mensch ist, den man erschießen kann, vermute ich, dass auch der Täter eine Energie ist, die wirkt, ein körperloses, allgegenwärtiges Wesen, das so wie Gott zwar spürbar aber nicht fassbar ist.“
„Und was für ein Wesen soll das sein?“, fragte sie ratlos.
„Die Gier.“
„Die Gier?“
„Ja, wer von Gier erfüllt ist, ganz egal ob Gier nach Geld, Land, Macht, Aufmerksamkeit, Sex, Essen, Bequemlichkeit oder was auch immer, dem steht Gott im Weg, denn Gott ist kein Automat der Bedürfnisse auf Abruf befriedigt. Gott fordert die Menschen heraus, stellt Anforderungen, verlangt Mitgefühl, Bereitschaft zu teilen und zu helfen. Das stört, das nervt. Und wenn sich die Gier in einem Menschen ausbreitet und immer mehr Raum einnimmt, dann ist da kein Platz mehr für Gott und der Mensch eliminiert Gott in sich, er löscht den göttlichen Funken und wird zur seelenlosen Fressmaschine. Das ist wie eine Seuche und sie breitet sich gerade über die ganze Welt aus. Je weniger Menschen von Gott erfüllt sind, umso weniger wahrnehmbar wird er und umso geringer sind auch seine Möglichkeiten zu wirken. Er wird immer körperloser.“
„Können wir die Seuche stoppen?“, fragte meine Klientin.
„Solange es noch Menschen gibt, die noch nicht vollständig von der Gier beherrscht sind, ja.“, antwortete ich. „Mit jedem Kind, das zur Welt kommt, erschafft Gott sich selbst eine neue Möglichkeit, zu uns zurückzukehren und es ist unserer Aufgabe, ihm dabei zu helfen, den Raum für sich zu erobern. Wir müssen dafür sorgen, dass die Gier in den Herzen unserer Kinder keinen Platz findet.“
„Wie soll das gehen?“
„Das weiß ich auch nicht. Lady. Aber ich bin sicher, Sie finden es heraus.“
Sie war ein Engel. Kein Vamp wie Lauren Bacall, aber auch kein naives Mäuschen wie die Monroe, nein, sie war unvergleichlich: ungeschminkt, von natürlicher Anmut, sanft, aber entschlossen, zart gebaut aber voller weiblicher Rundungen und ihr Look war zeitlos und klassisch.
„Sind Sie Peter Margo?“, fragte sie mit einer erschütternd klaren Stimme.
„Ja, der bin ich.“, antwortete ich. „Was kann ich für Sie tun?“
„Es ist kompliziert.“, antwortete die junge Schönheit.
„Das ist es meistens. Lassen Sie mich raten: Sie verdächtigen Ihren Mann eines amourösen Doppellebens?“
„Ich habe keinen Mann.“
Das ließ mich aufhorchen. Der Engel war noch auf dem Markt, wenn ich mich gehörig ins Zeug legte, würden vielleicht schon Weihnachten die Glocken für mich klingen.
„Worum geht es dann?“
„Mindestens um eine vermisste Person.“, antwortete die Frau. „Möglicherweise sogar um Mord.“
Ich pfiff leise durch die Zähne. „Da müssen Sie mir schon ein bisschen mehr erzählen Lady, also wer ist Ihnen abhanden gekommen, warum halten Sie es für möglich, dass ihn jemand vorsätzlich getötet hat und wen haben Sie in Verdacht?“
„Es geht um Gott.“
„Wie bitte?“
„Wissen Sie“, begann die junge Frau und nahm gedankenverloren vor meinem Schreibtisch Platz, „eines Morgens wachte ich auf und stellte fest, dass er nicht mehr da ist. Eigentlich fehlte er schon länger, aber es war mir bis dahin gar nicht aufgefallen. Zuerst dachte ich, ach, der hat sich sicher versteckt, ist mal wieder beleidigt, weil ich ihn zu wenig beachtet habe, aber dann habe ich nach ihm gesucht und ihn nirgends gefunden.“
„Wo genau haben Sie denn gesucht?“
„An den üblichen Orten.“
„Und die wären?“
„In alten und neuen Kirchen, in Gemeindekreisen, in der Natur, beim Bibellesen, in anderen Religionen, ja sogar in mir selbst, ganz lange habe ich in mich hineingehorcht, aber ich konnte ihn nirgends entdecken.“
Die Maus hatte ja offenkundig nicht mehr alle Latten am Zaun, aber ich beschloss mitzuspielen, man konnte nie wissen, was in so einem Fall für einen heraussprang.
„Woran haben Sie denn in der Vergangenheit bemerkt, dass er da war?“
„Manchmal fühlte ich mich ganz leicht, manchmal, als sei ich voller Licht und manchmal auch einfach geborgen, so, als würde ich getragen. Alles ergab einen Sinn und fügte sich wunderbar zusammen. Aber das Wichtigste war die Hoffnung. Es ist ja nicht so, dass ich früher keine Schwierigkeiten hatte, aber da war immer diese Hoffnung, ja sogar die Gewissheit, dass sich alles zum Guten wenden würde. Und dann wusste ich, Gott ist bei mir. Doch seit einiger Zeit ist er weg.“
„Aber vielleicht hat er sich ja wirklich nur versteckt.“, überlegte ich.
„Ja.“, erwiderte die junge Frau. „Zuerst dachte ich das ja auch. Aber dann fiel mir auf, dass er nicht nur mich im Stich gelassen hat. Es heißt bei Jesaja: das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht und über denen, die da wohnen im finstern Lande scheint es hell. - Aber das Licht scheint nicht. Überall leben Leute in der Dunkelheit. In China gibt es Menschen, die haben in ihrem ganzen Leben noch nie den Himmel gesehen, geschweige denn die Sonne, weil sie ständig unter einer riesigen Smog-Glocke leben. Sie wissen doch sicher selbst, dass es überall in der Welt gnadenlose Ausbeutung, Unterdrückung, Hunger, Krieg und Vertreibung gibt, da bleibt es dunkel, da scheint kein Licht. Je länger ich darüber nachdenke, umso klarer wird für mich, dass irgendjemand Gott getötet haben muss.“
„Und ich soll jetzt für Sie herausfinden wer?“
„Ja, ich bitte Sie darum.“
„Ich bin nicht billig, Lady. 40 € die Stunde plus Spesen. Können Sie sich das leisten?“
„Ich zahle Ihnen fünfhundert im Voraus. Wenn das verbraucht ist, können Sie die Ermittlungen abbrechen, aber ich hoffe, Sie werden vorher fündig. Nehmen Sie den Auftrag an?“
„Aber sicher, Lady.“, antwortete ich. Ich war gerade ziemlich klamm und selbst wenn ich nichts herausfand, sollte es mein Schaden nicht sein. Warum also nicht einmal ein bisschen ins Blaue ermitteln? „Ich mach mich gleich an die Arbeit und melde mich, sobald ich etwas herausgefunden habe. Lassen Sie mir Ihre Telefonnummer da?“
„Und was ist mit E-Mail?“
„Gehen Sie nicht ans Telefon?“
„Doch schon, aber ich bin nicht immer telefonisch erreichbar.“
„Dann versuch ich es eben noch einmal.“
„Haben Sie keinen Internetauftritt?“, fragte sie verwundert.
„Wie haben Sie mich gefunden?“, lautete meine Gegenfrage.
„Im Vorbeigehen habe ich das Schild gesehen.“, antwortete sie.
„Sehen Sie.“, entgegnete ich. „So mach ich das. Ich konzentriere mich aufs Wesentliche.“
Sie notierte ihre Nummer und verabschiedete sich.
Die halbe Nacht las ich diesen Jesaja und auch die Querverweise. Ich fand heraus, dass das Licht von einem Superhelden ausging, der Wunder wirken, den Frieden bringen und für Gerechtigkeit sorgen würde. Ein paar hundert Jahre, nachdem diese Prophezeiung notiert worden war, kam
Jesus von Nazareth zur Welt und um ihn rankten sich Legenden und viele sahen in ihm die Erfüllung der Prophezeiung. Er wurde tatsächlich ermordet, bzw. hingerichtet, aber wenn ich meinen Quellen Glauben schenken konnte, kehrte er kurz nach seinem Tod zurück und machte noch 40 Tage weiter, bevor er spurlos verschwand, d.h., das stimmt nicht ganz, denn er hinterließ haufenweise Spuren in der Geschichte und in den Köpfen und Herzen der Menschen. So lebte er ewig weiter und eigentlich müsste er das immer noch tun, aber meine Klientin hatte da ihre Zweifel. Irgendjemand hatte ihn also möglicherweise ein zweites Mal verschwinden lassen und nun ging es um die Frage des Motivs. Wer hat ein Interesse daran, Gott zu töten? Wem spuckt der Allmächtige in die Suppe?
Ich lief durch die Straßen – Harrys Bar war längst geschlossen – es denkt sich auch besser, wenn man einen Fuß vor den anderen setzt. Doch mir fiel nichts ein und so ging ich schließlich in mein winziges Apartment, legte mich in mein ungemachtes Bett und fiel in einen bleiernen Schlaf.
Am nächsten Morgen, nach einem schwarzen Kaffee und einem alten Milchbrötchen ging ich meine Überlegungen etwas systematischer an: Was waren die häufigsten Mordmotive?
Eifersucht
Kränkung
Existenzangst
Gier
Eifersucht schloss ich aus, mit Gott ging niemand eine Paarbeziehung ein. Nicht einmal die Nonnen, die sich als Bräute Christi bezeichneten und einen Verlobungsring am Finger trugen, lebten ernsthaft in einer Paarbeziehung mit ihrem Erlöser.
Kränkung kam da schon eher in Frage. Schließlich konnte man behaupten, von Gott gedemütigt worden zu sein, wenn das Leben einen in die Knie zwang und man seiner Würde beraubt wurde. Also standen schon einmal alle Entrechteten und vom Schicksal Gebeutelten unter Generalverdacht.
Existenzangst schied ebenfalls aus. Wer beim Kampf ums Überleben knappe Ressourcen verteidigt oder erobert, tut das immer in Konkurrenz zu anderen Wesen aus Fleisch und Blut, mit Gott zankt man nicht um den Braten oder um die günstige Wohnung oder um den Fortbestand der eigenen Firma.
Und schließlich die Gier. Um Gier ging es ja meistens. Selbst Beziehungstaten aus Eifersucht lag eigentlich Gier zugrunde. Ich überlegte, wer wohl der gierigste Mensch in meiner Umgebung war und dachte sofort an von Contzen, der mit seinem Riesenverlagshaus alle kleinen Konkurrenten nach und nach vom Markt verdrängte.
Seine Vorzimmerdame wollte mich zuerst nicht zu ihm lassen.
„Haben Sie einen Termin?“, fragte sie schnippisch?
„Nein.“, erklärte ich. „Aber ich ermittle in einem mutmaßlichen Mordfall und wie Sie sich denken können, kann so etwas nicht warten.“
„Können Sie sich ausweisen?“
„Selbstverständlich.“ Ich zeigte ihr meine Lizenz.
„Privatermittler.“ Sie rümpfte verächtlich die Nase. „Ich bin nicht sicher, ob Herr von Contzen bereit ist, Sie zu empfangen; verpflichtet ist er dazu jedenfalls nicht. Aber ich kann ihn ja einmal fragen.“
Sie verschwand hinter einer gepolsterten Doppeltür und kehrte kurz darauf zurück.
„Sie haben Glück.“, erklärte sie. „Der Herr von Contzen ist neugierig.“
Ich betrat die Höhle des Löwen, die beinahe genauso minimalistisch ausgestattet war wie mein Büro, nur war alles dreimal so groß und zehnmal so edel und die Außenfassade war komplett verglast.
„Sie ermitteln in einem Mordfall?“, fragte von Contzen, der mir in einem lässigen Designeranzug entgegentrat und mir die Hand reichte.
„In der Tat.“, erwiderte ich. „Margo ist mein Name. Es ist nicht ausgemacht, ob es wirklich um Mord geht. Zunächst einmal könnte man es auch wie eine Vermisstenmeldung behandeln.“
Wortlos wies von Contzen auf die bequemen Stühle am Besprechungstisch und wir nahmen beide Platz. Dann fragte er: „Und warum befasst sich nicht die Polizei mit dieser Angelegenheit?“
„Meine Auftraggeberin ist skeptisch, ob sie überhaupt ermitteln würden.“
„Warum?“
„Wenn es keinen deutlichen Hinweis auf ein Verbrechen gibt, gehen die erst einmal davon aus, dass der Vermisste von sich aus das Weite gesucht hat. Meine Klientin geht aber von einem Gewaltverbrechen aus.“
„Um wem handelt es sich bei dem Opfer?“
„Um Gott.“
„Wir bitte?“
„Ja, Sie haben richtig gehört. Meine Klientin sagt, er sei abhanden gekommen. Sie vermisse ihn schon länger. Nun meine Frage an Sie: Kannten Sie den Vermissten?“
„Nicht persönlich.“, antwortete Contzen. „Aber ich habe von ihm gehört. In ein paar Wochen ist ja auch wieder Weihnachten, da wird er dann ganz sicher wiedergeboren.“
Von Contzen lachte ironisch.
„Sie gehen also auch davon aus, dass er getötet wurde?“
„Sicher.“, antwortete Contzen und lachte noch lauter. „Wurde ja gekreuzigt, aber keine Sorge, der ist ein Stehaufmännchen.“
Der Verleger klopfte sich auf die Schenkel, begeistert von seinem eigenen Witz. Das alte Milchbrötchen machte sich wieder bemerkbar, ob es wohl gleich auf seinem hochwertigen Wollteppichboden landen würde?
„Wie standen Sie denn zu Gott?“, fragte ich.
„Ach wissen Sie.“, antwortete mein Gesprächspartner. „Ich bin Materialist. Religion ist etwas für Leute, die Trost brauchen. Bei mir hingegen läuft der Laden. Gott interessiert mich nicht, es sei denn, jemand schreibt ein gutes Buch über ihn.“
„Und wenn er plötzlich hier auftauchen würde?“
„Das ist doch Quatsch!“
„Mal angenommen, er würde sie überraschen.“
„Ich würde ihn für einen Psychopathen halten und die Polizei rufen.“
„Das glaube ich Ihnen aufs Wort, zumindest wenn er sich Ihnen in menschlicher Gestalt präsentieren würde, aber angenommen er wäre ganz anders und es gäbe keinen Zweifel und Sie wüssten, dass es Gott ist.“
„Sie verschwenden meine Zeit, Herr...Herr...“
„Margo“
„Ja, genau, Herr Margo. Ich schlage vor, Sie befragen einen Geistlichen. Der hält sicher die Antworten für sie bereit, nach denen Sie suchen. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich habe eine Menge zu tun.“
Ich verabschiedete mich und setzte von Contzen oben auf die Liste. Er wollte nicht über Gott reden, er war ihm lästig, stand ihm im Weg, behinderte ihn beim Erreichen seiner Ziele.
Nach zwei Tagen war der Vorschuss meiner Klientin aufgebraucht. Ich bestellte sie in mein Büro, ich wollte ihr wenigstens einen anständigen Bericht abliefern, wenn ich schon weder Opfer noch Täter präsentieren konnte.
„Hören Sie, Lady“, erklärte ich. „Ich habe Gott nicht gefunden, nicht einmal ein Spur von ihm. Die Zahl der infrage kommenden Täter ist uferlos, aber da Gott kein Mensch ist, den man erschießen kann, vermute ich, dass auch der Täter eine Energie ist, die wirkt, ein körperloses, allgegenwärtiges Wesen, das so wie Gott zwar spürbar aber nicht fassbar ist.“
„Und was für ein Wesen soll das sein?“, fragte sie ratlos.
„Die Gier.“
„Die Gier?“
„Ja, wer von Gier erfüllt ist, ganz egal ob Gier nach Geld, Land, Macht, Aufmerksamkeit, Sex, Essen, Bequemlichkeit oder was auch immer, dem steht Gott im Weg, denn Gott ist kein Automat der Bedürfnisse auf Abruf befriedigt. Gott fordert die Menschen heraus, stellt Anforderungen, verlangt Mitgefühl, Bereitschaft zu teilen und zu helfen. Das stört, das nervt. Und wenn sich die Gier in einem Menschen ausbreitet und immer mehr Raum einnimmt, dann ist da kein Platz mehr für Gott und der Mensch eliminiert Gott in sich, er löscht den göttlichen Funken und wird zur seelenlosen Fressmaschine. Das ist wie eine Seuche und sie breitet sich gerade über die ganze Welt aus. Je weniger Menschen von Gott erfüllt sind, umso weniger wahrnehmbar wird er und umso geringer sind auch seine Möglichkeiten zu wirken. Er wird immer körperloser.“
„Können wir die Seuche stoppen?“, fragte meine Klientin.
„Solange es noch Menschen gibt, die noch nicht vollständig von der Gier beherrscht sind, ja.“, antwortete ich. „Mit jedem Kind, das zur Welt kommt, erschafft Gott sich selbst eine neue Möglichkeit, zu uns zurückzukehren und es ist unserer Aufgabe, ihm dabei zu helfen, den Raum für sich zu erobern. Wir müssen dafür sorgen, dass die Gier in den Herzen unserer Kinder keinen Platz findet.“
„Wie soll das gehen?“
„Das weiß ich auch nicht. Lady. Aber ich bin sicher, Sie finden es heraus.“
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Freitag, 8. Dezember 2017
Alarm wegen Killerkeimen – ein Millieu-Kurzkrimi
c. fabry, 15:10h
„Aber wir müssen mehr werden!“, ruft Edeltraut.
„Ja“, unterstützt sie Bernhard. „Wachsen gegen den Trend. Schließlich wissen wir, für wen wir das alles tun.“
„Für das Leben.“, haucht Edeltraut
„Papperlapapp!“, geht Oskar dazwischen. „Ohne grundlegende Umbauarbeiten, brauchen wir hier gar nicht weitermachen. Hier muss alles raus und dann muss das ganz neu ausgestattet werden. Das ist mir hier alles viel zu fungiphil.“
„Jetzt geht der schon wieder auf die Pilze los.“, beklagt sich Henriette. „Wir dienen doch alle dem gleichen Zweck: dem Leben!“
„Pilze dienen nicht dem Leben!“, echauffiert sich Oskar. „Sie sind unsere Feinde, hast Du das immer noch nicht begriffen? Oder was glaubst Du, woraus der Zerstörer sich zusammensetzt? Aus Säuren oder Laugen? Nein, es sind die Pilze, die uns vernichten – so wie sie auch jedes andere Leben zugrunde richten. Sie sind nicht tierisch und nicht pflanzlich, sie sind einfach nur eine Ausgeburt des Bösen!“
„Hausgeburt des Bösen?“, hakt Herbert zittrig nach. Sein endoplasmatisches Reticulum ist ständig verstopft. Er hat aber auch schon jede Menge Umzüge hinter sich, im Gegensatz zu Henriette, die hier geboren wurde. Herbert wird ignoriert, es kann sich nur noch um Stunden handeln, bis er endgültig ausgeschieden wird.
„Die Frage ist.“, überlegt Edeltraut. „Was wir tun können, um die große Halle zu füllen, in der wir Wenigen uns verlaufen und dann womöglich keine Partner finden.“
„Jetzt übertreibst du aber, Edeltraut.“, sagt Gudula. Gudula ist auch schon zwei mal umgezogen, aber noch äußerst rüstig. „Mit dem Wirt muss man verantwortungsvoll umgehen. Er kann zu viele von uns gar nicht verkraften.“
„Ach, du immer mit deinem Nachhaltigkeitsgequatsche.“, geht Oskar unwirsch dazwischen. „Ich habe die Jungs vom jüngst zugezogenen Trupp angewiesen, reichlich Reizstoffe zu produzieren, damit der Wirt geeigneten Nachschub liefert. Die Neuen sind ziemlich vital, obwohl das hier auch nicht ihr erstes Domizil ist.“
Etwas später rast Edeltraut aufgeregt durch die Flora: „Oh ist das schön, so viele junger Nachwuchs und so schnell. Jetzt können wir endlich einen Chor gründen, bei soviel Leben in der Bude und wenn unsere Freunde von außen das hören, werden sie alles stehen und liegen lassen und einen Weg finden, dazu zu kommen!“
„Merkst du eigentlich noch irgendwas?“, regt Gudula sich auf. „ Der Wirt liefert kaum noch Nahrung, der kommt einfach nicht hinterher bei so vielen Bewohnern. Und dann kommt ja noch dazu, dass Leute wie du oder Oskar alles tun, damit wir schön unter uns bleiben. Ihr geht ja nicht nur auf die Pilze los. Die Rechtsdrehenden werden systematisch von den Futterplätzen verdrängt, von den Fettaufspaltenden mal ganz zu schweigen. Ich langweile mich hier zu Tode und niemand da, mit dem man ein paar nette Mutationen initiieren kann, außer diese gegen alles gefeiten Erfolgstypen, die sich hier reihenweise breit machen.“
„Ach jetzt hab' dich nicht so, Gudula.“, versucht Edeltraut sie zu beschwichtigen. „Wir machen es uns eben zusammen schön, und wenn dir das nicht gefällt – du weißt ja wo der Ausgang ist.“
DreiTage später: „Wie furchtbar!“, keucht Eldetraut. „Hier ist alles voller Pilze, mir ist schon ganz elend, ich kann kaum noch Nährstoffe aufnehmen. Wenn das so weiter geht, bin ich bald nur noch tote Biomasse.“
„Ja, so geht es eurer Generation.“, feixt der multiresistente Xavier. „Einfach keine Steherqualitäten. Aber mach dir nichts draus, wir dienen ja alle dem Leben. Auch wenn es für dich nun zu Ende geht, das Leben geht weiter, dafür sorgen wir.“
Fünf Tage später: „Hier oben ist auch alles voller Leichen!“, schreit Sabine mit letzter Kraft. Ich habe Rückstände von Pilzen gefunden, aber alle Nahrungsquellen sind heillos überlaufen!“
„Das bringt die Überbevölkerung so mit sich!“, grantelt Stefan. „Die Linksdrehenden haben alles belagert. Was ich nur nicht verstehe, ist die Tatsache, dass der Wirt kaum noch Nahrung liefert.“
„Vermutlich ist er erkrankt.“, mutmaßt Sabine.
„Wie kommst du darauf?“, fragt Stefan.
„Wenn ein Wirt erkrankt, verlangsamt sich seine Aktivität und es kann zu Versorgungsengpässen kommen. Das haben meine Eltern mir erzählt. Die Frage ist nur, was ihn krank gemacht hat. Vielleicht die Pilze?“
„Das kann sein.“, überlegt Stefan. „Aber wie sind die Pilze in den Nahrungstrakt gelangt?“
„Sie kamen kurz nach den Mutiresistenten. Ich glaube, die stecken unter einer Decke.“
„Aber die Multiresistenten sind doch auch Bakterien. Was haben die mit Pilzen zu schaffen?“
„Sie haben sich mit dem Bösen verbündet. Die Pilze schaden ihnen ja nicht. Sie hätten vielleicht nicht Fuß fassen können, wenn die Linksdrehenden sie nicht eingeschleppt hätten. Die Linksdrehenden wollten sich richtig festsetzen, alles sollte sich nur nach ihren Bedürfnissen richten. Es war vor allem Oskar, der die Multiresistenten unterstützt hat. Aber so viele Bakterien produzieren mehr Fäkalien, als ein Wirt vertragen kann. Ihre Ausscheidungen und die vielen Kadaver überschwemmen seine Organe und verstopfen alle möglichen Straßen. Er wird in Kürze sterben und dann haben wir hier keine heilige Halle mehr, dann sind wir in der Hölle angekommen und wenn wir nicht verhungern, ersticken wir. Wir müssen hier raus, bevor es zu spät ist und so viele retten, wie wir können.“
„Alles klar.“, keucht Sabine und schlägt Alarm.
„Ich gehe hier nicht mehr weg.“, flüstern Edeltraut mit letzter Kraft. „Hier bin ich aufgewachsen, hier will ich sterben. Das Leben wird weitergehen, auch ohne mich.“
„Wo ist eigentlich Oskar?“, fragt Sabine. Aber Edeltraut kann sie nicht mehr hören, sie beginnt bereits, sich zu zersetzen.
„Oskar ist in einer Flatulenzblase auf dem Weg nach unten.“, erklärt Gudula. „Er hat längst gewittert, dass es mit Klaus-Bärbel zu Ende geht und macht sich aus dem Staub.“
„Das ist auch das einzig Richtige.“, erwidert Sabine. „Aber von hier aus kommen wir schneller über den Magen nach draußen. Wir brauchen nur Verstärkung, damit wir genug Schub auslösen können, um nach draußen zu gelangen.“
Am Ende sammeln sie genug Einzeller um sich, um die notwendigen Kontraktionen in Klaus-Bärbels Magen auszulösen. Sie schaffen es mit dem letzten Erbrochenen nach draußen. Xavier schafft es natürlich auch, er gelangt direkt in den nächsten Wirt. Wie durch ein Wunder kommt im richtigen Moment eine Stubenfliege und Sabine und Stefan heften sich an ihre Fersen. Von dort gelangen sie direkt in eine geeignete Nährflüssigkeit, die schon bald vom nächsten Wirt aufgenommen wird.
„Es ist ein Wunder, dass wir das mit heiler Haut überlebt haben.“, bemerkt Sabine. „Und das obwohl Wunder immer Seltener werden. Der Zerstörer wird immer stärker. Ich befürchte er wird bald die Oberhand gewinnen.“
„Das liegt nicht am Zerstörer.“, erklärt Stefan. „Ich kann es nicht genau erklären, aber ich bin mir trotzdem sicher: Es liegt an den Wirten.“
„Ja“, unterstützt sie Bernhard. „Wachsen gegen den Trend. Schließlich wissen wir, für wen wir das alles tun.“
„Für das Leben.“, haucht Edeltraut
„Papperlapapp!“, geht Oskar dazwischen. „Ohne grundlegende Umbauarbeiten, brauchen wir hier gar nicht weitermachen. Hier muss alles raus und dann muss das ganz neu ausgestattet werden. Das ist mir hier alles viel zu fungiphil.“
„Jetzt geht der schon wieder auf die Pilze los.“, beklagt sich Henriette. „Wir dienen doch alle dem gleichen Zweck: dem Leben!“
„Pilze dienen nicht dem Leben!“, echauffiert sich Oskar. „Sie sind unsere Feinde, hast Du das immer noch nicht begriffen? Oder was glaubst Du, woraus der Zerstörer sich zusammensetzt? Aus Säuren oder Laugen? Nein, es sind die Pilze, die uns vernichten – so wie sie auch jedes andere Leben zugrunde richten. Sie sind nicht tierisch und nicht pflanzlich, sie sind einfach nur eine Ausgeburt des Bösen!“
„Hausgeburt des Bösen?“, hakt Herbert zittrig nach. Sein endoplasmatisches Reticulum ist ständig verstopft. Er hat aber auch schon jede Menge Umzüge hinter sich, im Gegensatz zu Henriette, die hier geboren wurde. Herbert wird ignoriert, es kann sich nur noch um Stunden handeln, bis er endgültig ausgeschieden wird.
„Die Frage ist.“, überlegt Edeltraut. „Was wir tun können, um die große Halle zu füllen, in der wir Wenigen uns verlaufen und dann womöglich keine Partner finden.“
„Jetzt übertreibst du aber, Edeltraut.“, sagt Gudula. Gudula ist auch schon zwei mal umgezogen, aber noch äußerst rüstig. „Mit dem Wirt muss man verantwortungsvoll umgehen. Er kann zu viele von uns gar nicht verkraften.“
„Ach, du immer mit deinem Nachhaltigkeitsgequatsche.“, geht Oskar unwirsch dazwischen. „Ich habe die Jungs vom jüngst zugezogenen Trupp angewiesen, reichlich Reizstoffe zu produzieren, damit der Wirt geeigneten Nachschub liefert. Die Neuen sind ziemlich vital, obwohl das hier auch nicht ihr erstes Domizil ist.“
Etwas später rast Edeltraut aufgeregt durch die Flora: „Oh ist das schön, so viele junger Nachwuchs und so schnell. Jetzt können wir endlich einen Chor gründen, bei soviel Leben in der Bude und wenn unsere Freunde von außen das hören, werden sie alles stehen und liegen lassen und einen Weg finden, dazu zu kommen!“
„Merkst du eigentlich noch irgendwas?“, regt Gudula sich auf. „ Der Wirt liefert kaum noch Nahrung, der kommt einfach nicht hinterher bei so vielen Bewohnern. Und dann kommt ja noch dazu, dass Leute wie du oder Oskar alles tun, damit wir schön unter uns bleiben. Ihr geht ja nicht nur auf die Pilze los. Die Rechtsdrehenden werden systematisch von den Futterplätzen verdrängt, von den Fettaufspaltenden mal ganz zu schweigen. Ich langweile mich hier zu Tode und niemand da, mit dem man ein paar nette Mutationen initiieren kann, außer diese gegen alles gefeiten Erfolgstypen, die sich hier reihenweise breit machen.“
„Ach jetzt hab' dich nicht so, Gudula.“, versucht Edeltraut sie zu beschwichtigen. „Wir machen es uns eben zusammen schön, und wenn dir das nicht gefällt – du weißt ja wo der Ausgang ist.“
DreiTage später: „Wie furchtbar!“, keucht Eldetraut. „Hier ist alles voller Pilze, mir ist schon ganz elend, ich kann kaum noch Nährstoffe aufnehmen. Wenn das so weiter geht, bin ich bald nur noch tote Biomasse.“
„Ja, so geht es eurer Generation.“, feixt der multiresistente Xavier. „Einfach keine Steherqualitäten. Aber mach dir nichts draus, wir dienen ja alle dem Leben. Auch wenn es für dich nun zu Ende geht, das Leben geht weiter, dafür sorgen wir.“
Fünf Tage später: „Hier oben ist auch alles voller Leichen!“, schreit Sabine mit letzter Kraft. Ich habe Rückstände von Pilzen gefunden, aber alle Nahrungsquellen sind heillos überlaufen!“
„Das bringt die Überbevölkerung so mit sich!“, grantelt Stefan. „Die Linksdrehenden haben alles belagert. Was ich nur nicht verstehe, ist die Tatsache, dass der Wirt kaum noch Nahrung liefert.“
„Vermutlich ist er erkrankt.“, mutmaßt Sabine.
„Wie kommst du darauf?“, fragt Stefan.
„Wenn ein Wirt erkrankt, verlangsamt sich seine Aktivität und es kann zu Versorgungsengpässen kommen. Das haben meine Eltern mir erzählt. Die Frage ist nur, was ihn krank gemacht hat. Vielleicht die Pilze?“
„Das kann sein.“, überlegt Stefan. „Aber wie sind die Pilze in den Nahrungstrakt gelangt?“
„Sie kamen kurz nach den Mutiresistenten. Ich glaube, die stecken unter einer Decke.“
„Aber die Multiresistenten sind doch auch Bakterien. Was haben die mit Pilzen zu schaffen?“
„Sie haben sich mit dem Bösen verbündet. Die Pilze schaden ihnen ja nicht. Sie hätten vielleicht nicht Fuß fassen können, wenn die Linksdrehenden sie nicht eingeschleppt hätten. Die Linksdrehenden wollten sich richtig festsetzen, alles sollte sich nur nach ihren Bedürfnissen richten. Es war vor allem Oskar, der die Multiresistenten unterstützt hat. Aber so viele Bakterien produzieren mehr Fäkalien, als ein Wirt vertragen kann. Ihre Ausscheidungen und die vielen Kadaver überschwemmen seine Organe und verstopfen alle möglichen Straßen. Er wird in Kürze sterben und dann haben wir hier keine heilige Halle mehr, dann sind wir in der Hölle angekommen und wenn wir nicht verhungern, ersticken wir. Wir müssen hier raus, bevor es zu spät ist und so viele retten, wie wir können.“
„Alles klar.“, keucht Sabine und schlägt Alarm.
„Ich gehe hier nicht mehr weg.“, flüstern Edeltraut mit letzter Kraft. „Hier bin ich aufgewachsen, hier will ich sterben. Das Leben wird weitergehen, auch ohne mich.“
„Wo ist eigentlich Oskar?“, fragt Sabine. Aber Edeltraut kann sie nicht mehr hören, sie beginnt bereits, sich zu zersetzen.
„Oskar ist in einer Flatulenzblase auf dem Weg nach unten.“, erklärt Gudula. „Er hat längst gewittert, dass es mit Klaus-Bärbel zu Ende geht und macht sich aus dem Staub.“
„Das ist auch das einzig Richtige.“, erwidert Sabine. „Aber von hier aus kommen wir schneller über den Magen nach draußen. Wir brauchen nur Verstärkung, damit wir genug Schub auslösen können, um nach draußen zu gelangen.“
Am Ende sammeln sie genug Einzeller um sich, um die notwendigen Kontraktionen in Klaus-Bärbels Magen auszulösen. Sie schaffen es mit dem letzten Erbrochenen nach draußen. Xavier schafft es natürlich auch, er gelangt direkt in den nächsten Wirt. Wie durch ein Wunder kommt im richtigen Moment eine Stubenfliege und Sabine und Stefan heften sich an ihre Fersen. Von dort gelangen sie direkt in eine geeignete Nährflüssigkeit, die schon bald vom nächsten Wirt aufgenommen wird.
„Es ist ein Wunder, dass wir das mit heiler Haut überlebt haben.“, bemerkt Sabine. „Und das obwohl Wunder immer Seltener werden. Der Zerstörer wird immer stärker. Ich befürchte er wird bald die Oberhand gewinnen.“
„Das liegt nicht am Zerstörer.“, erklärt Stefan. „Ich kann es nicht genau erklären, aber ich bin mir trotzdem sicher: Es liegt an den Wirten.“
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