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Dienstag, 29. August 2017
Kapitel 6 - "Ich hab' den Ausbau nicht gewollt"
c. fabry, 23:10h
Schröttinghausener Straße, Mittwoch, 14. September 2016
Das Mittagessen lag Luise schwer im Magen, obwohl Martina nicht besonders fettig kochte, aber Erbsen vertrug sie nicht mehr so gut und zusätzlich Möhren zu schälen, zu zerkleinern und zu schmoren, war Martina zu viel Arbeit gewesen. Luise beklagte sich nicht, denn Martina hätte ohnehin geantwortet: „Dann iss eben nicht so viel, bist sowieso ein bisschen voll um die Hüften.“
Auch solche Bemerkungen schluckte Luise herunter, obwohl Martinas Becken definitiv das Ausladendere war. Ein bisschen gerundet, klein und kompakt war die alte Frau schon als junges Mädchen gewesen und ihr Leben lang so geblieben, denn sie hatte nie hungern müssen, weder während des Zweiten Weltkrieges noch in der Nachkriegszeit. Nur hatte sie angefangen, auf ihre Ernährung zu achten, als sie gegen Ende ihres fünften Lebensjahrzehnts aufkommendes Sodbrennen bei sich beobachtete, wenn sie zu fettig oder mehr als ein Stück Torte gegessen hatte. Sie wollte nicht so enden wie ihre Mutter, die noch unter siebzigjährig einem schweren Magenleiden erlegen war, mit entsetzlichen Schmerzen, häufiger Übelkeit, dem Erbrechen von Blut und einer fortschreitenden Entkräftung. Gänzlich ohne Lebensfreude hatte ihre Mutter sich die letzten fünfundzwanzig Jahre ihres Lebens durch die Tage geschleppt und Luise vermutete, dass sie die frühen Warnsignale ignoriert und einfach weitergemacht hatte mit der guten, bäuerlichen, ostwestfälischen Kost: in Schmalz gebratenes Fleisch, zerlassene Butter an jedem Gemüse, herrlicher, selbst gebackener Kuchen, fettige Saucen und Rahmsuppen. Dazu häufig Kohl und Hülsenfrüchte, Zwiebeln und saure Äpfel. Luise hatte anfänglich auch so gekocht, aber als sie merkte, dass es in der Magengegend zwickte und sie sauer aufstoßen musste, fragte sie ihren Hausarzt, worauf sie achten müsse und ab sofort gab es weniger Gebratenes, viel gedünstetes Gemüse, leichtere Saucen zu den Salzkartoffeln, höchstens ein Stück Kuchen am Nachmittag und allerhöchstens vier Tassen Kaffee als Tagesdosis. Damit war sie nun ziemlich weit gekommen, ohne Magengeschwüre, Diabetes, Rheuma oder Gicht. Wenn nur Martina etwas rücksichtsvoller wäre. Sie legte sich, so wie sie war, aufs Bett und schloss die Augen. Immer noch lag ein feiner Duft in ihrem Schlafraum. Sie hatte schon Weichspüler für die Wäsche benutzt, als alle anderen darüber noch abfällig die Nase gerümpft hatten, aber in ihrem Schlafzimmer hatte schon damals die Wäsche ihr zartes Parfum verströmt, so dass sie sich zwischen den Laken gefühlt hatte, als habe jemand sie auf einer paradiesischen Blumenwolke gebettet. Das mit dem Weichspüler hatte Martina so beibehalten, auch wenn die Zusammensetzung der Duftstoffe heute viel süßlicher war als damals. Vor allem, wenn Martina bügelte, suchte Luise das Weite. Der intensive Geruch kitzelte unangenehm am Gaumenzäpfchen und verursachte eine leichte Übelkeit. Im kalten Zustand roch es jedoch angenehm sauber und frisch und so hatte sie es immer haben wollen und auch gehabt.
Plötzlich legte sich ein Schatten auf ihr Gesicht, den sie durch die geschlossenen Lider wahrnahm. Luise zuckte zusammen und öffnete reflexartig die Augen. Wie eine bedrohliche Erscheinung stand Martina vor ihrem Bett und schimpfte: „Was liegst du da mit deinen guten Sachen auf dem Bett rum? Das wird doch alles kraus! Zieh wenigstens das Kleid aus und deck dich anständig zu!“
Luise wäre gern einfach liegen geblieben, aber sie gehorchte, damit die Situation nur schnell vorüberging und sie in Ruhe ihr mittägliches Nickerchen halten konnte. Rüde und mit eckigen Bewegungen half ihr Martina beim Entkleiden und hängte das Kleid auf einem Bügel an den Schrank. Dann schlug sie die Bettdecke zurück, hob Luises Füße hoch, damit sie schneller in die Waagerechte kam und stopfte um sie herum die Bettdecke fest, als wolle sie sie im Bett fixieren, obwohl sie ganz genau wusste, dass Luise die Decke lieber locker auf sich liegen hatte, so dass sie auch mal einen Arm oder ein Bein darunter hervorstrecken konnte. Früher hätte sie sich so etwas von ihrer Tochter nicht bieten lassen, aber jetzt hatte sie einfach keine Kraft mehr, Widerstand zu leisten.
Außerdem befürchtete sie, wenn sie ihre Tochter und ihren Schwiegersohn zu sehr reizte, am Ende von ihnen misshandelt zu werden. Sie könnten sie auch in ein Pflegeheim abschieben, und das wollte sie auf jeden Fall verhindern, denn lieber wollte sie sterben, als die Jahre, die ihr blieben in so einer entmenschlichten, unpersönlichen Umgebung frei von jeder Privatsphäre und Selbstbestimmung dahinzuvegetieren. Darum wollte sie auch um jeden Preis verhindern, dass etwas von ihrem schief hängenden Haussegen nach außen drang. Möglicherweise wären Martina und Manfred darüber derartig verärgert, dass sie nicht lange fackeln würden und sie in ein Pflegeheim verfrachteten. Davon abgesehen hatte Luise einen guten Ruf zu wahren; kein noch so kleiner Skandal sollte ihre Familienehre beschmutzen. Selbst wenn Martina und Manfred auszögen und eine professionelle Pflegekraft sie so versorgen und verwöhnen würde, wie es ihren Wünschen entsprach, würde sie die Schmach nicht ertragen, als Mutter versagt zu haben und die Familie auseinanderbrechen zu lassen. Sie fragte sich, warum Martina so gänzlich anders geworden war, als sie es sich als Mutter erträumt hatte. Als Baby war sie so niedlich wie ein Püppchen gewesen und Luise hatte sich ihre Zukunft ausgemalt: ein Mädchen mit der Anmut einer kindlichen Shirley Temple, ein Backfisch wie die junge Romy Schneider, eine Braut wie Grace Kelly und eine Dame von Welt wie Jacky Kennedy.
Als Kleinkind hatte sie Martina herausgeputzt: niedliches Kleidchen mit gestärkter Spitze und Rüschen, im Sommer aus Leinen und im Winter aus leuchtend blauem Samt oder sie hatte weiße Angora-Jäckchen gestrickt und Mützchen gehäkelt, die sie farbig bestickte oder mit Seidenblumen verzierte. Alle erdenklichen Lackschuhe hatte Martina besessen und nichts war ihr für ihr Töchterchen zu kostspielig gewesen. In der Sportkarre hatte sie ihr Mädchen im Dorf spazieren gefahren, und sie wusste genau, wer neidisch und missgünstig hinter der Gardine lauerte, wenn sie ihren kleinen Prachtengel öffentlich präsentierte.
Als Martina die Grundschule besuchte, die damals noch direkt im Dorf stand und nicht wie heute im vier Kilometer entfernten Langenheide, hatte Luise sich dahinter geklemmt, dass ihr Kind gute Noten bekam. Sie hatte das kleine und das große Einmaleins mit ihr gelernt, Übungsdiktate geschrieben, ihr gezeigt, wie man häkelte und Knöpfe annähte, war zum Elternsprechtag gegangen und hatte aus dem Lehrer herausgekitzelt, wie sie ihre Tochter beim Lernen bestmöglich unterstützen konnte. Nie hatte sie sie mit schmutziger oder krauser Kleidung oder ungeputzten Schuhen zur Schule gehen lassen. Sie war immer gründlich gewaschen, ordentlich frisiert und die Fingernägel waren sauber und geschnitten. Sie hatte auch auf eine gehaltvolle Ernährung geachtet, damit das Kind einen guten Start bekam: Morgens gab es Milch und Haferschleim mit Honig, mittags täglich Fleisch mit Kartoffeln und Gemüse und immer Nachtisch, weil man beim Essen auch etwas für die Seele brauchte.
Als der Wechsel zur Realschule anstand, war sie stolz gewesen, dass ihre Tochter sich beim Essen nicht wie andere Mädchen zickig anstellte, sondern ordentlich zulangte und alles verputzte, was sie ihr vorsetzte.
Jeden Morgen hatte sie ihr ein paar stramme Zöpfe geflochten und Martina hatte sich nie beklagt, doch mit zwölf Jahren hatte sie plötzlich den Wunsch, ihr Haar offen zu tragen, nur durch ein Stirnband gehalten oder mit einer Spange zum einfachen Pferdeschwanz gebunden.
„Martina“, hatte Luise erklärt, „offene Haare sind nichts für die Schule. Das ist was für feine Damen, die sich kaum bewegen und immer einen Kamm oder eine Bürste in der Handtasche haben und sich zwischendurch kämmen. Deine Haare wären dann mittags ganz verfilzt und durcheinander und du würdest schreien und heulen, wenn ich sie dir dann bürsten würde.“
„Aber Gitta Hartmann hat die auch so offen und mit Stirnband.“
„Das kann ja sein, aber diese Hartmanns sind auch keine ordentlichen Leute. Das sind so Zugezogene aus Bielefeld, von denen keiner so genau weiß, wie die eigentlich ihr Geld verdienen. Mit denen gibst du dich am besten gar nicht ab.“
„Ich war aber schon bei der zu Hause, und da sieht es überall ganz schön aus, so wie in einem Schloss.“
„Ja, das kann ich mir denken.“, hatte Luise geantwortet und für sich behalten, für welche Art von Schloss sie die Wohnung der Familie Hartmann hielt, die Räume in einem alten Wohnhaus gemietet hatten, das mal der Familiensitz eines großen Glaserbetriebes gewesen war. Im Dorf wusste man, dass er eine kleine Halbweltkneipe in der Bielefelder Altstadt besaß, in der auch seine Frau kellnerte und man munkelte, dass ihm auch ein Bordell im nahegelegenen Steinhagen gehörte, weil er immer behauptete, noch mitten in der Nacht seine Kellnerinnen nach Hause fahren zu müssen. Alle waren sich einig, dass man in einer kleinen Kneipe wohl kaum bis in die Nacht mehrere Kellnerinnen benötigte, sondern dass Hartmann seine Huren heimfuhr, für die er sich als ihr Anstellungsträger und Zuhälter verantwortlich fühlte. Die Tochter besuchte zusammen mit Martina die Realschule und sah für eine Zwölfjährige schon reichlich lasziv aus. Sicher war die Wohnung eingerichtet wie ein Edelpuff. Von solchem Umgang sollte ihre Tochter sich tunlichst fernhalten.
Martina hatte nicht locker gelassen: „Warum kann ich nicht wenigstens mit einem Pferdeschwanz zur Schule gehen? Husemanns Rita hat auch einen.“
„Husemanns Rita hat nicht so lange Haare wie du. Dann hält das besser und die Haare geraten auch nicht so durcheinander. Aber dann müsste dir der Friseur ganz viel abschneiden und dann würdest du ja fast so aussehen wie ein Junge.“
Eines Tages hatte Martina ihre Zöpfe heimlich auf dem Schulweg gelöst und sie bei der Heimfahrt im Bus wieder neu geflochten. Doch das war Luise sofort aufgefallen, denn der Scheitel war nicht gerade, die Strähnen ungleichmäßig dick und es war nicht zu übersehen, dass sie gerade frisch geflochten worden waren. Luise hatte sie zur Rede gestellt und hart bestraft: eine Woche Hausarrest und nach den Hausaufgaben keine Freizeit, sondern putzen, Stachelbeeren abknipsen, Socken stopfen und Taschentücher bügeln. Nichts, was ihre Tochter vom geraden Weg hätte abbringen können, hatte sie ihr durchgehen lassen und Martina tat das nie wieder, sie behielt die Zöpfe bis zur Konfirmation.
Als Martina mit zwölf Jahren bei der Landjugend mitmachen wollte, wusste Luise auch das zu unterbinden. Für den Besuch des Kindergottesdienstes war sie zwar schon langsam zu alt und als Helferin noch zu jung, aber für den Übergang hatte Luise ihren Mann überreden können, einen Klavierlehrer ins Haus kommen zu lassen. Sie hatten ein solides, gebrauchtes Instrument erworben, dessen mit Wurzelholz verzierter Korpus sich einnehmend geschmackvoll in ihrem Wohnzimmer mit Perserteppich, beigefarbenen Polstermöbeln und Hochglanz lackiertem Nussbaumschrank machte. Wenn nun am Donnerstag Nachmittag Hans Dillinger – der Klavierlehrer – ins Haus kam, fühlte Luise sich wie eine Hochwohlgeborene. Er war in ihrem Alter, äußerst gutaussehend, gebildet und hatte so feine Manieren, wie Luise sie zuletzt im Pfarrhaus erlebt hatte, wenn sie in ihrer Kindheit und Jugend bei ihrer besten Freundin Elisabeth Schuchart zu Besuch gewesen war. Etwas von der Kultiviertheit dieses Mannes musste einfach auf ihre Tochter abfärben. Dillinger war streng und ernst, wurde aber niemals laut. Wenn seine perfekt manikürten Finger über die Tasten flatterten, glaubte sie jedes Mal, ihr Herz müsse vor Wonne überlaufen. Obwohl sie sich danach sehnte, von ihm als gleich zu gleich wahrgenommen zu werden und ihm auf Augenhöhe begegnen zu können, hatte sie es sich dennoch nie nehmen lassen, ihn jeden Donnerstag auf geradezu devote Weise zu empfangen. Sie hatte immer ein frisch gebügeltes, feines Kleid getragen, dazu Nylons und elegante Pumps, doch darüber eine blütenweiße, gestärkte Spitzenschürze, in der sie dem Lehrer Kaffee, schwarz mit einem Löffel Zucker und etwas Gebäck serviert hatte. Wie sie schon bald herausgefunden hatte, bevorzugte der Musikpädagoge knusprige Waffelröllchen, die sie von nun an immer in ihrem Plätzchen-Sortiment bereithielt. Auch Jahrzehnte nach den Klavierstunden gehörten die knusprigen Waffelröllchen zu Luises festem Bestand an Kaffeegebäck.
Heute fragte sie sich, ob es Martina wohl aufgefallen war, dass ihre Mutter den Klavierlehrer anschmachtete wie ein Backfisch, aber Luise hatte kein schlechtes Gewissen, denn sie hatte sich nichts zuschulden kommen lassen und nie ein Grenze überschritten. Mit Hans Dillinger war sie stets per Sie gewesen und hatte sein Bedürfnis nach Distanz respektiert., die er durch sein Verhalten zu wahren beabsichtigte.
Etwa um die gleiche Zeit begann für Martina auch der Katechumenen-Unterricht, immer Dienstags von 15.00 – 16.30 Uhr im Gemeindehaus, direkt neben der Kirche. Pfarrer Fischer, der seinen Dienst gerade erst angetreten hatte, hatte zwar bis zur Konfirmation durchgehalten, sich aber zwei Jahre später aus Häger verabschiedet und den Pfarrbezirk einer zweijährigen Vakanz überlassen. Doch im Jahr 1968, am zweiten Sonntag nach Ostern war Martinas großer Tag gewesen und noch heute erinnerte sich Luise an alle Details: Sie hatte den Blumenschmuck auf dem Altar gestiftet – ein Gesteck aus Tulpen, Nelken und Anthurien in rosa und weiß, durchwirkt mit Schleierkraut und eingerahmt in frische Buchsbaumzweige. Martinas Kleid hatte sie in einer Wertheraner Schneiderei nähen lassen, aus fest gewebtem, edlem weißen Bouclé, knielang, leicht ausgestellt mit hohem, aber breitem Rundhalsausschnitt und kurzen Ärmeln, die von feinster, weißer Spitze gesäumt waren. Dazu hatte Martina eine helle Feinstrumpfhose und weiße Riemenschuhe getragen, nicht ganz flach, aber nur mit gerade mal so viel Absatz, dass die Eleganz des Kleides nicht durch die Plumpheit der Schuhe konterkariert wurde.
Martina hatte sich die Haare kurz schneiden und sogar ein wenig toupieren lassen dürfen. Sie trug ein mit weißen Satinröschen besetztes Haarband und gegen den kühlen Wind ein weißes Jäckchen aus Kaninchenfell.
An ihr eigenes Kleid konnte Luise sich ebenfalls noch gut erinnern, das hatte sie auch in Werther nähen lassen: es war ein Kostüm mit geschlitztem Rock und Dreiviertel-Ärmel-Jacke aus altrosa Tweed gewesen, dazu hatte sie eine cremefarbene, weich fallende Nylonbluse gekauft, in der sie auch ohne die Jacke zusammen mit dem Rock eine glänzende Figur gemacht hatte. Cremefarben waren auch ihre weichen Lederpumps gewesen und rosa der Rosenquarz in ihrem Silberring mit ovaler Fassung, den ihr Ludwig zum zwanzigsten Hochzeitstag geschenkt hatte. So elegant war sie gewesen, obwohl sie zuvor zwei Wochen lang das Haus von oben bis unten geputzt hatte und Freitag und Samstag nahezu durchgehend in der Küche zugebracht hatte mit Kuchen backen, braten einlegen, Kartoffeln schälen, Gemüse putzen...Sogar das Mittagsmenü hatte sie noch im Kopf: Hühnersuppe mit Blumenkohl und Eierstich, Rinderbraten und Schweinebraten mit Sauce, Kartoffeln, dazu Erbsen, Möhren und frischen Spargel mit holländischer Sauce. Als Nachtisch gab es Weinschaumcreme in rot und weiß, zum Essen einen leichten Moselwein und nach dem Essen Wacholder für die Herren, Eierlikör für die Damen, und wer es zu schätzen wusste, konnte auch einen Cognac bekommen. Die Anzahl der Gäste war einigermaßen überschaubar gewesen, denn sowohl Ludwigs Vater, als auch ihre Mutter waren bereits verstorben. Ihr Bruder Rudi mit Frau und Kind, ihre Schwester Marie mit ihrem Mann, ihr Vater und Ludwigs Mutter waren die ganze Verwandtschaft. Luises Bruder Georg war im Krieg gefallen, Ludwigs Bruder Heinz ebenfalls und sein Bruder Ewald hatte im Gegensatz zu Ludwig die russische Gefangenschaft nicht überlebt. So waren nur noch Martinas Paten mit ihren Ehepartnern zugegen gewesen und die insgesamt vierzehn Personen hatte sie in Wohn- und Esszimmer unterbringen und bewirten können. Ach und Martina hatte so schöne Wäsche für die Aussteuer bekommen: Tischtücher aus bestem, feinstem Damast, halbleinene Geschirrtücher, griffige Frotteehandtücher und auch viel gutes Geld. Am meisten hatte das Kind sich aber über den Plattenspieler gefreut, den ihr der Patenonkel geschenkt hatte.
Nach der Konfirmation hatte Martina begonnen, sich langsam dem Einfluss ihrer Mutter zu entziehen. Oft hatte sie in ihrem Zimmer auf dem Bett gelegen und Schallplatten angehört, statt wie behauptet an ihren Hausaufgaben zu arbeiten. Luise hatte ihr zwar nicht erlaubt, sich die Bravo zu kaufen, aber Martina hatte immer jemanden gefunden, der ihr das ausgelesene Jugendmagazin zur Verfügung stellte.
Schon bei der Konfirmation war Martinas Körper deutlicher gerundeter gewesen, als der der meisten anderen Mädchen, aber im folgenden Jahr legte sie mächtig an Gewicht zu und hatte mit massiven Hautproblemen zu kämpfen. Es war in dieser Zeit oft zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Mutter und Tochter gekommen, doch in den meisten Fällen hatte Luise sich durchgesetzt. Sie war froh und dankbar gewesen, dass ihre Tochter weder rauchte noch trank und auch nicht mit den Jungs um die Häuser zog wie so manches leichte Mädchen, was dann am Ende mit einer unehelichen Schwangerschaft dastand.
Als Martina die zehnte Klasse besuchte, machte Luise sich große Sorgen. Die Fünfzehnjährige hatte zu gar nichts mehr Lust außer Musik hören, Fernsehen, stricken und häkeln. Höchst selten traf sie sich mit Freundinnen, und in der Schule strengte sie sich nicht mehr an als unbedingt nötig. Sie konnte sich nicht einmal aufraffen, Bewerbungen auf eine Lehrstelle zu schreiben. Bei jedem Beruf, den die Eltern ihr vorschlugen, fielen ihr Argumente ein, warum sie ihn unmöglich ausüben könne. Luise hätte ihre Tochter am liebsten als Chefsekretärin in einem angesehenen Betrieb gesehen, aber Martina hatte mit ihrem plumpen, reizlosen Äußeren und ihrem ungeschickten Auftreten nicht den Hauch einer Chance gehabt. Luise schüttete dem damaligen Pfarrer, der in der noch immer währenden Vakanz den Pfarrbezirk Häger mitbetreute, ihr Herz aus, und der hatte eine Idee: „Wenn die Martina so häuslich ist, wäre der Beruf der Erzieherin doch sicher für sie geeignet. Wer gern strickt, der bastelt auch gern, und den richtigen Umgang mit den Kindern lernt sie sicher schnell. Zum Sommer nächsten Jahres wird in Häger der Kindergarten eröffnet, da bietet es es sich doch geradezu an, einen Lehrling aus dem Dorf einzustellen. Sie soll mal einfach eine Bewerbung an die Gemeinde schicken und sich auch bei der Fachoberschule bewerben. Ich werde mich auf jeden Fall für sie einsetzen.“
Luise hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt und ihre Tochter angetrieben, bis sie die Bewerbungen geschrieben und abgeschickt hatte. Sie hatte genauestens kontrolliert, ob sie auch angemessen gekleidet und gepflegt zum Vorstellungsgespräch erschienen war und hatte erst wieder ruhig schlafen können, als Martina die Zusage für die Lehrstelle in der Tasche hatte. Und mit diesem uralten Gefühl einer tiefen Erleichterung glitt Luise nun in den ersehnten Mittagsschlaf.
Das Mittagessen lag Luise schwer im Magen, obwohl Martina nicht besonders fettig kochte, aber Erbsen vertrug sie nicht mehr so gut und zusätzlich Möhren zu schälen, zu zerkleinern und zu schmoren, war Martina zu viel Arbeit gewesen. Luise beklagte sich nicht, denn Martina hätte ohnehin geantwortet: „Dann iss eben nicht so viel, bist sowieso ein bisschen voll um die Hüften.“
Auch solche Bemerkungen schluckte Luise herunter, obwohl Martinas Becken definitiv das Ausladendere war. Ein bisschen gerundet, klein und kompakt war die alte Frau schon als junges Mädchen gewesen und ihr Leben lang so geblieben, denn sie hatte nie hungern müssen, weder während des Zweiten Weltkrieges noch in der Nachkriegszeit. Nur hatte sie angefangen, auf ihre Ernährung zu achten, als sie gegen Ende ihres fünften Lebensjahrzehnts aufkommendes Sodbrennen bei sich beobachtete, wenn sie zu fettig oder mehr als ein Stück Torte gegessen hatte. Sie wollte nicht so enden wie ihre Mutter, die noch unter siebzigjährig einem schweren Magenleiden erlegen war, mit entsetzlichen Schmerzen, häufiger Übelkeit, dem Erbrechen von Blut und einer fortschreitenden Entkräftung. Gänzlich ohne Lebensfreude hatte ihre Mutter sich die letzten fünfundzwanzig Jahre ihres Lebens durch die Tage geschleppt und Luise vermutete, dass sie die frühen Warnsignale ignoriert und einfach weitergemacht hatte mit der guten, bäuerlichen, ostwestfälischen Kost: in Schmalz gebratenes Fleisch, zerlassene Butter an jedem Gemüse, herrlicher, selbst gebackener Kuchen, fettige Saucen und Rahmsuppen. Dazu häufig Kohl und Hülsenfrüchte, Zwiebeln und saure Äpfel. Luise hatte anfänglich auch so gekocht, aber als sie merkte, dass es in der Magengegend zwickte und sie sauer aufstoßen musste, fragte sie ihren Hausarzt, worauf sie achten müsse und ab sofort gab es weniger Gebratenes, viel gedünstetes Gemüse, leichtere Saucen zu den Salzkartoffeln, höchstens ein Stück Kuchen am Nachmittag und allerhöchstens vier Tassen Kaffee als Tagesdosis. Damit war sie nun ziemlich weit gekommen, ohne Magengeschwüre, Diabetes, Rheuma oder Gicht. Wenn nur Martina etwas rücksichtsvoller wäre. Sie legte sich, so wie sie war, aufs Bett und schloss die Augen. Immer noch lag ein feiner Duft in ihrem Schlafraum. Sie hatte schon Weichspüler für die Wäsche benutzt, als alle anderen darüber noch abfällig die Nase gerümpft hatten, aber in ihrem Schlafzimmer hatte schon damals die Wäsche ihr zartes Parfum verströmt, so dass sie sich zwischen den Laken gefühlt hatte, als habe jemand sie auf einer paradiesischen Blumenwolke gebettet. Das mit dem Weichspüler hatte Martina so beibehalten, auch wenn die Zusammensetzung der Duftstoffe heute viel süßlicher war als damals. Vor allem, wenn Martina bügelte, suchte Luise das Weite. Der intensive Geruch kitzelte unangenehm am Gaumenzäpfchen und verursachte eine leichte Übelkeit. Im kalten Zustand roch es jedoch angenehm sauber und frisch und so hatte sie es immer haben wollen und auch gehabt.
Plötzlich legte sich ein Schatten auf ihr Gesicht, den sie durch die geschlossenen Lider wahrnahm. Luise zuckte zusammen und öffnete reflexartig die Augen. Wie eine bedrohliche Erscheinung stand Martina vor ihrem Bett und schimpfte: „Was liegst du da mit deinen guten Sachen auf dem Bett rum? Das wird doch alles kraus! Zieh wenigstens das Kleid aus und deck dich anständig zu!“
Luise wäre gern einfach liegen geblieben, aber sie gehorchte, damit die Situation nur schnell vorüberging und sie in Ruhe ihr mittägliches Nickerchen halten konnte. Rüde und mit eckigen Bewegungen half ihr Martina beim Entkleiden und hängte das Kleid auf einem Bügel an den Schrank. Dann schlug sie die Bettdecke zurück, hob Luises Füße hoch, damit sie schneller in die Waagerechte kam und stopfte um sie herum die Bettdecke fest, als wolle sie sie im Bett fixieren, obwohl sie ganz genau wusste, dass Luise die Decke lieber locker auf sich liegen hatte, so dass sie auch mal einen Arm oder ein Bein darunter hervorstrecken konnte. Früher hätte sie sich so etwas von ihrer Tochter nicht bieten lassen, aber jetzt hatte sie einfach keine Kraft mehr, Widerstand zu leisten.
Außerdem befürchtete sie, wenn sie ihre Tochter und ihren Schwiegersohn zu sehr reizte, am Ende von ihnen misshandelt zu werden. Sie könnten sie auch in ein Pflegeheim abschieben, und das wollte sie auf jeden Fall verhindern, denn lieber wollte sie sterben, als die Jahre, die ihr blieben in so einer entmenschlichten, unpersönlichen Umgebung frei von jeder Privatsphäre und Selbstbestimmung dahinzuvegetieren. Darum wollte sie auch um jeden Preis verhindern, dass etwas von ihrem schief hängenden Haussegen nach außen drang. Möglicherweise wären Martina und Manfred darüber derartig verärgert, dass sie nicht lange fackeln würden und sie in ein Pflegeheim verfrachteten. Davon abgesehen hatte Luise einen guten Ruf zu wahren; kein noch so kleiner Skandal sollte ihre Familienehre beschmutzen. Selbst wenn Martina und Manfred auszögen und eine professionelle Pflegekraft sie so versorgen und verwöhnen würde, wie es ihren Wünschen entsprach, würde sie die Schmach nicht ertragen, als Mutter versagt zu haben und die Familie auseinanderbrechen zu lassen. Sie fragte sich, warum Martina so gänzlich anders geworden war, als sie es sich als Mutter erträumt hatte. Als Baby war sie so niedlich wie ein Püppchen gewesen und Luise hatte sich ihre Zukunft ausgemalt: ein Mädchen mit der Anmut einer kindlichen Shirley Temple, ein Backfisch wie die junge Romy Schneider, eine Braut wie Grace Kelly und eine Dame von Welt wie Jacky Kennedy.
Als Kleinkind hatte sie Martina herausgeputzt: niedliches Kleidchen mit gestärkter Spitze und Rüschen, im Sommer aus Leinen und im Winter aus leuchtend blauem Samt oder sie hatte weiße Angora-Jäckchen gestrickt und Mützchen gehäkelt, die sie farbig bestickte oder mit Seidenblumen verzierte. Alle erdenklichen Lackschuhe hatte Martina besessen und nichts war ihr für ihr Töchterchen zu kostspielig gewesen. In der Sportkarre hatte sie ihr Mädchen im Dorf spazieren gefahren, und sie wusste genau, wer neidisch und missgünstig hinter der Gardine lauerte, wenn sie ihren kleinen Prachtengel öffentlich präsentierte.
Als Martina die Grundschule besuchte, die damals noch direkt im Dorf stand und nicht wie heute im vier Kilometer entfernten Langenheide, hatte Luise sich dahinter geklemmt, dass ihr Kind gute Noten bekam. Sie hatte das kleine und das große Einmaleins mit ihr gelernt, Übungsdiktate geschrieben, ihr gezeigt, wie man häkelte und Knöpfe annähte, war zum Elternsprechtag gegangen und hatte aus dem Lehrer herausgekitzelt, wie sie ihre Tochter beim Lernen bestmöglich unterstützen konnte. Nie hatte sie sie mit schmutziger oder krauser Kleidung oder ungeputzten Schuhen zur Schule gehen lassen. Sie war immer gründlich gewaschen, ordentlich frisiert und die Fingernägel waren sauber und geschnitten. Sie hatte auch auf eine gehaltvolle Ernährung geachtet, damit das Kind einen guten Start bekam: Morgens gab es Milch und Haferschleim mit Honig, mittags täglich Fleisch mit Kartoffeln und Gemüse und immer Nachtisch, weil man beim Essen auch etwas für die Seele brauchte.
Als der Wechsel zur Realschule anstand, war sie stolz gewesen, dass ihre Tochter sich beim Essen nicht wie andere Mädchen zickig anstellte, sondern ordentlich zulangte und alles verputzte, was sie ihr vorsetzte.
Jeden Morgen hatte sie ihr ein paar stramme Zöpfe geflochten und Martina hatte sich nie beklagt, doch mit zwölf Jahren hatte sie plötzlich den Wunsch, ihr Haar offen zu tragen, nur durch ein Stirnband gehalten oder mit einer Spange zum einfachen Pferdeschwanz gebunden.
„Martina“, hatte Luise erklärt, „offene Haare sind nichts für die Schule. Das ist was für feine Damen, die sich kaum bewegen und immer einen Kamm oder eine Bürste in der Handtasche haben und sich zwischendurch kämmen. Deine Haare wären dann mittags ganz verfilzt und durcheinander und du würdest schreien und heulen, wenn ich sie dir dann bürsten würde.“
„Aber Gitta Hartmann hat die auch so offen und mit Stirnband.“
„Das kann ja sein, aber diese Hartmanns sind auch keine ordentlichen Leute. Das sind so Zugezogene aus Bielefeld, von denen keiner so genau weiß, wie die eigentlich ihr Geld verdienen. Mit denen gibst du dich am besten gar nicht ab.“
„Ich war aber schon bei der zu Hause, und da sieht es überall ganz schön aus, so wie in einem Schloss.“
„Ja, das kann ich mir denken.“, hatte Luise geantwortet und für sich behalten, für welche Art von Schloss sie die Wohnung der Familie Hartmann hielt, die Räume in einem alten Wohnhaus gemietet hatten, das mal der Familiensitz eines großen Glaserbetriebes gewesen war. Im Dorf wusste man, dass er eine kleine Halbweltkneipe in der Bielefelder Altstadt besaß, in der auch seine Frau kellnerte und man munkelte, dass ihm auch ein Bordell im nahegelegenen Steinhagen gehörte, weil er immer behauptete, noch mitten in der Nacht seine Kellnerinnen nach Hause fahren zu müssen. Alle waren sich einig, dass man in einer kleinen Kneipe wohl kaum bis in die Nacht mehrere Kellnerinnen benötigte, sondern dass Hartmann seine Huren heimfuhr, für die er sich als ihr Anstellungsträger und Zuhälter verantwortlich fühlte. Die Tochter besuchte zusammen mit Martina die Realschule und sah für eine Zwölfjährige schon reichlich lasziv aus. Sicher war die Wohnung eingerichtet wie ein Edelpuff. Von solchem Umgang sollte ihre Tochter sich tunlichst fernhalten.
Martina hatte nicht locker gelassen: „Warum kann ich nicht wenigstens mit einem Pferdeschwanz zur Schule gehen? Husemanns Rita hat auch einen.“
„Husemanns Rita hat nicht so lange Haare wie du. Dann hält das besser und die Haare geraten auch nicht so durcheinander. Aber dann müsste dir der Friseur ganz viel abschneiden und dann würdest du ja fast so aussehen wie ein Junge.“
Eines Tages hatte Martina ihre Zöpfe heimlich auf dem Schulweg gelöst und sie bei der Heimfahrt im Bus wieder neu geflochten. Doch das war Luise sofort aufgefallen, denn der Scheitel war nicht gerade, die Strähnen ungleichmäßig dick und es war nicht zu übersehen, dass sie gerade frisch geflochten worden waren. Luise hatte sie zur Rede gestellt und hart bestraft: eine Woche Hausarrest und nach den Hausaufgaben keine Freizeit, sondern putzen, Stachelbeeren abknipsen, Socken stopfen und Taschentücher bügeln. Nichts, was ihre Tochter vom geraden Weg hätte abbringen können, hatte sie ihr durchgehen lassen und Martina tat das nie wieder, sie behielt die Zöpfe bis zur Konfirmation.
Als Martina mit zwölf Jahren bei der Landjugend mitmachen wollte, wusste Luise auch das zu unterbinden. Für den Besuch des Kindergottesdienstes war sie zwar schon langsam zu alt und als Helferin noch zu jung, aber für den Übergang hatte Luise ihren Mann überreden können, einen Klavierlehrer ins Haus kommen zu lassen. Sie hatten ein solides, gebrauchtes Instrument erworben, dessen mit Wurzelholz verzierter Korpus sich einnehmend geschmackvoll in ihrem Wohnzimmer mit Perserteppich, beigefarbenen Polstermöbeln und Hochglanz lackiertem Nussbaumschrank machte. Wenn nun am Donnerstag Nachmittag Hans Dillinger – der Klavierlehrer – ins Haus kam, fühlte Luise sich wie eine Hochwohlgeborene. Er war in ihrem Alter, äußerst gutaussehend, gebildet und hatte so feine Manieren, wie Luise sie zuletzt im Pfarrhaus erlebt hatte, wenn sie in ihrer Kindheit und Jugend bei ihrer besten Freundin Elisabeth Schuchart zu Besuch gewesen war. Etwas von der Kultiviertheit dieses Mannes musste einfach auf ihre Tochter abfärben. Dillinger war streng und ernst, wurde aber niemals laut. Wenn seine perfekt manikürten Finger über die Tasten flatterten, glaubte sie jedes Mal, ihr Herz müsse vor Wonne überlaufen. Obwohl sie sich danach sehnte, von ihm als gleich zu gleich wahrgenommen zu werden und ihm auf Augenhöhe begegnen zu können, hatte sie es sich dennoch nie nehmen lassen, ihn jeden Donnerstag auf geradezu devote Weise zu empfangen. Sie hatte immer ein frisch gebügeltes, feines Kleid getragen, dazu Nylons und elegante Pumps, doch darüber eine blütenweiße, gestärkte Spitzenschürze, in der sie dem Lehrer Kaffee, schwarz mit einem Löffel Zucker und etwas Gebäck serviert hatte. Wie sie schon bald herausgefunden hatte, bevorzugte der Musikpädagoge knusprige Waffelröllchen, die sie von nun an immer in ihrem Plätzchen-Sortiment bereithielt. Auch Jahrzehnte nach den Klavierstunden gehörten die knusprigen Waffelröllchen zu Luises festem Bestand an Kaffeegebäck.
Heute fragte sie sich, ob es Martina wohl aufgefallen war, dass ihre Mutter den Klavierlehrer anschmachtete wie ein Backfisch, aber Luise hatte kein schlechtes Gewissen, denn sie hatte sich nichts zuschulden kommen lassen und nie ein Grenze überschritten. Mit Hans Dillinger war sie stets per Sie gewesen und hatte sein Bedürfnis nach Distanz respektiert., die er durch sein Verhalten zu wahren beabsichtigte.
Etwa um die gleiche Zeit begann für Martina auch der Katechumenen-Unterricht, immer Dienstags von 15.00 – 16.30 Uhr im Gemeindehaus, direkt neben der Kirche. Pfarrer Fischer, der seinen Dienst gerade erst angetreten hatte, hatte zwar bis zur Konfirmation durchgehalten, sich aber zwei Jahre später aus Häger verabschiedet und den Pfarrbezirk einer zweijährigen Vakanz überlassen. Doch im Jahr 1968, am zweiten Sonntag nach Ostern war Martinas großer Tag gewesen und noch heute erinnerte sich Luise an alle Details: Sie hatte den Blumenschmuck auf dem Altar gestiftet – ein Gesteck aus Tulpen, Nelken und Anthurien in rosa und weiß, durchwirkt mit Schleierkraut und eingerahmt in frische Buchsbaumzweige. Martinas Kleid hatte sie in einer Wertheraner Schneiderei nähen lassen, aus fest gewebtem, edlem weißen Bouclé, knielang, leicht ausgestellt mit hohem, aber breitem Rundhalsausschnitt und kurzen Ärmeln, die von feinster, weißer Spitze gesäumt waren. Dazu hatte Martina eine helle Feinstrumpfhose und weiße Riemenschuhe getragen, nicht ganz flach, aber nur mit gerade mal so viel Absatz, dass die Eleganz des Kleides nicht durch die Plumpheit der Schuhe konterkariert wurde.
Martina hatte sich die Haare kurz schneiden und sogar ein wenig toupieren lassen dürfen. Sie trug ein mit weißen Satinröschen besetztes Haarband und gegen den kühlen Wind ein weißes Jäckchen aus Kaninchenfell.
An ihr eigenes Kleid konnte Luise sich ebenfalls noch gut erinnern, das hatte sie auch in Werther nähen lassen: es war ein Kostüm mit geschlitztem Rock und Dreiviertel-Ärmel-Jacke aus altrosa Tweed gewesen, dazu hatte sie eine cremefarbene, weich fallende Nylonbluse gekauft, in der sie auch ohne die Jacke zusammen mit dem Rock eine glänzende Figur gemacht hatte. Cremefarben waren auch ihre weichen Lederpumps gewesen und rosa der Rosenquarz in ihrem Silberring mit ovaler Fassung, den ihr Ludwig zum zwanzigsten Hochzeitstag geschenkt hatte. So elegant war sie gewesen, obwohl sie zuvor zwei Wochen lang das Haus von oben bis unten geputzt hatte und Freitag und Samstag nahezu durchgehend in der Küche zugebracht hatte mit Kuchen backen, braten einlegen, Kartoffeln schälen, Gemüse putzen...Sogar das Mittagsmenü hatte sie noch im Kopf: Hühnersuppe mit Blumenkohl und Eierstich, Rinderbraten und Schweinebraten mit Sauce, Kartoffeln, dazu Erbsen, Möhren und frischen Spargel mit holländischer Sauce. Als Nachtisch gab es Weinschaumcreme in rot und weiß, zum Essen einen leichten Moselwein und nach dem Essen Wacholder für die Herren, Eierlikör für die Damen, und wer es zu schätzen wusste, konnte auch einen Cognac bekommen. Die Anzahl der Gäste war einigermaßen überschaubar gewesen, denn sowohl Ludwigs Vater, als auch ihre Mutter waren bereits verstorben. Ihr Bruder Rudi mit Frau und Kind, ihre Schwester Marie mit ihrem Mann, ihr Vater und Ludwigs Mutter waren die ganze Verwandtschaft. Luises Bruder Georg war im Krieg gefallen, Ludwigs Bruder Heinz ebenfalls und sein Bruder Ewald hatte im Gegensatz zu Ludwig die russische Gefangenschaft nicht überlebt. So waren nur noch Martinas Paten mit ihren Ehepartnern zugegen gewesen und die insgesamt vierzehn Personen hatte sie in Wohn- und Esszimmer unterbringen und bewirten können. Ach und Martina hatte so schöne Wäsche für die Aussteuer bekommen: Tischtücher aus bestem, feinstem Damast, halbleinene Geschirrtücher, griffige Frotteehandtücher und auch viel gutes Geld. Am meisten hatte das Kind sich aber über den Plattenspieler gefreut, den ihr der Patenonkel geschenkt hatte.
Nach der Konfirmation hatte Martina begonnen, sich langsam dem Einfluss ihrer Mutter zu entziehen. Oft hatte sie in ihrem Zimmer auf dem Bett gelegen und Schallplatten angehört, statt wie behauptet an ihren Hausaufgaben zu arbeiten. Luise hatte ihr zwar nicht erlaubt, sich die Bravo zu kaufen, aber Martina hatte immer jemanden gefunden, der ihr das ausgelesene Jugendmagazin zur Verfügung stellte.
Schon bei der Konfirmation war Martinas Körper deutlicher gerundeter gewesen, als der der meisten anderen Mädchen, aber im folgenden Jahr legte sie mächtig an Gewicht zu und hatte mit massiven Hautproblemen zu kämpfen. Es war in dieser Zeit oft zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Mutter und Tochter gekommen, doch in den meisten Fällen hatte Luise sich durchgesetzt. Sie war froh und dankbar gewesen, dass ihre Tochter weder rauchte noch trank und auch nicht mit den Jungs um die Häuser zog wie so manches leichte Mädchen, was dann am Ende mit einer unehelichen Schwangerschaft dastand.
Als Martina die zehnte Klasse besuchte, machte Luise sich große Sorgen. Die Fünfzehnjährige hatte zu gar nichts mehr Lust außer Musik hören, Fernsehen, stricken und häkeln. Höchst selten traf sie sich mit Freundinnen, und in der Schule strengte sie sich nicht mehr an als unbedingt nötig. Sie konnte sich nicht einmal aufraffen, Bewerbungen auf eine Lehrstelle zu schreiben. Bei jedem Beruf, den die Eltern ihr vorschlugen, fielen ihr Argumente ein, warum sie ihn unmöglich ausüben könne. Luise hätte ihre Tochter am liebsten als Chefsekretärin in einem angesehenen Betrieb gesehen, aber Martina hatte mit ihrem plumpen, reizlosen Äußeren und ihrem ungeschickten Auftreten nicht den Hauch einer Chance gehabt. Luise schüttete dem damaligen Pfarrer, der in der noch immer währenden Vakanz den Pfarrbezirk Häger mitbetreute, ihr Herz aus, und der hatte eine Idee: „Wenn die Martina so häuslich ist, wäre der Beruf der Erzieherin doch sicher für sie geeignet. Wer gern strickt, der bastelt auch gern, und den richtigen Umgang mit den Kindern lernt sie sicher schnell. Zum Sommer nächsten Jahres wird in Häger der Kindergarten eröffnet, da bietet es es sich doch geradezu an, einen Lehrling aus dem Dorf einzustellen. Sie soll mal einfach eine Bewerbung an die Gemeinde schicken und sich auch bei der Fachoberschule bewerben. Ich werde mich auf jeden Fall für sie einsetzen.“
Luise hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt und ihre Tochter angetrieben, bis sie die Bewerbungen geschrieben und abgeschickt hatte. Sie hatte genauestens kontrolliert, ob sie auch angemessen gekleidet und gepflegt zum Vorstellungsgespräch erschienen war und hatte erst wieder ruhig schlafen können, als Martina die Zusage für die Lehrstelle in der Tasche hatte. Und mit diesem uralten Gefühl einer tiefen Erleichterung glitt Luise nun in den ersehnten Mittagsschlaf.
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Kapitel 4 und 5 - "Ich hab' den Ausbau nicht gewollt"
c. fabry, 02:23h
Dorfladen Häger – Montag, 12. September 2016
Christiane Kleinebekel stand seit einer Stunde hinter der Ladentheke. Sie tat das ehrenamtlich, damit das Dorf einen Ort bot, wo man sich mit dem Nötigsten versorgen konnte, ohne ins Auto zu steigen und wo man immer Leute traf, die man kannte, damit man morgens ein Schwätzchen halten konnte. Die Frühschicht, die im Übrigen dafür bezahlt wurde, hatte das kleine Geschäft bereits um fünf Uhr morgens geöffnet, denn zwischen fünf und neun Uhr gingen die meisten belegten Brötchen und Kaffees zum Mitnehmen über die Theke, an denen der Laden am meisten verdiente.
Christianes Freundin Sigrid Husemann-Rademacher, die im Gasthof schräg gegenüber lebte und arbeitete, war als Nächste an der Reihe, hinter ihr der Malermeister Volker Bracksiek und der Landwirt Hans-Werner Lohoff.
„Gibts du mir noch ein Dinkel-Chia-Brot?“, fragte Sigrid.
„Geschnitten oder am Stück?“
„Am Stück. Bleibt länger frisch.“
Martina Tappe betrat den Laden und stellte sich hinten an. Sigrid bezahlte und wandte sich an Martina, während Volker eine umfangreiche Bestellung für Samstag aufgab.
„Wie geht es eigentlich deiner Mutter, Martina? Die hab' ich schon seit Wochen nicht mehr gesehen.“
„Ach, die ist immer noch ganz schlecht zurecht.“, gab Martina Auskunft. „Seit sie die Grippe erwischt hat, ist sie ganz durcheinander.“
„Ja, das wirft so alte Menschen erst einmal gehörig aus den Puschen.“, meinte Sigrid mitfühlend.
„Ach, wenn sie nur erschöpft wäre“, beklagte Martina sich. „Aber sie wird ja nun allmählich immer dementer. Das ist schlimmer, als wenn man kleine Kinder hat, da kommt man gar nicht hinterher.“
„Na also dement ist Tante Luise ja nun wohl noch lange nicht.“, hielt Sigrid dagegen. „So was kommt ja nicht plötzlich innerhalb von ein paar Wochen über einen.“
„Nee, das geht schleichend, darum merkt man das auch nur, wenn man täglich mit den Leuten zu tun hat.“
„Also ich glaube, ich muss deine Mutter mal wieder besuchen.“, erklärte Sigrid. „Aber nicht jetzt. Wir haben gleich Gäste zum Essen. Mach's gut.“
Volker hatte sich mittlerweile einen Kaffee und eine Laugenecke bestellt und sich in das kleine Hinterzimmer gesetzt, das die Dorfladen-Initiative liebevoll als Café eingerichtet hatte.
Hans-Werner hatte einen Korb voller Lebensmittel und nachdem er bezahlt hatte, gesellte er sich auf ein Schwätzchen zu Volker. Nun war Martina an der Reihe. „Ich hätte gern ein Graubrot, geschnitten und eine Lage von dem Platenkuchen.“
„Ist ja wirklich schön, dass deine Mutter keine Diabetikerin ist wie die meisten in ihrem Alter.“, bemerkte Christiane.
„Nee, darauf hat sie immer aufgepasst. Von zu viel Kuchen bekommt sie Sodbrennen.“
„Ja und dick war sie ja auch nie.“
„Na ja, aber auch nicht gerade 'ne Gazelle.“
„Manch einer wäre froh, wenn er sich so gut halten würde. Wie alt ist sie jetzt eigentlich?“
„Zweiundneunzig. So alt werde ich bestimmt nicht. Manchmal frage ich mich, warum die nicht endlich stirbt. Schließlich will ich auch noch ein bisschen was vom Leben haben, jetzt wo die Kinder aus dem Haus sind. Aber kaum sind die Rangen selbstständig, machen die Eltern einen verrückt.“
„Aber deine Kinder sind doch schon seit Jahren aus dem Haus.“, wunderte sich Christiane.
„Und meine Mutter dreht schon seit Jahren durch.“, entgegnete Martina. „Dann will sie Kaffee zum Kuchen, dann lieber wieder Tee, dann tut's der Schließmuskel nicht mehr, aber Windeln will sie nicht, weil dann die Kleider nicht mehr sitzen, dann muss ich ihr dauernd ihre Wurstlocken aufdrehen, die schon seit dreißig Jahren keine mehr trägt, dann ihre Küche putzen, weil sie sich unbedingt abends noch ein Schnitzel braten muss und den ganzen Fliesenspiegel mit Fett voll spritzt. Ich hab' das so satt. Sie tut immer wie 'ne feine Dame, aber benimmt sich wie ein Kindergartenkind. Und auch nur so wird man mit ihr fertig. Ich sage es immer wieder: Alte Leute sind wie kleine Kinder und mit denen kenne ich mich aus, schließlich bin ich gelernte Erzieherin.“
„Na, dann hast du sicher alles super im Griff.“, stellte Christiane schmunzelnd fest und Martina erwiderte: „Man wurschtelt sich so durch. Was muss ich bezahlen?“
„Sechs fünfzig.“
Sie legte das abgezählte Geld auf den Tisch und verließ so schwerfällig den Laden, als müsste sie zwei übervolle Körbe tragen.
„Ist sie endlich weg?“, rief Volker aus dem Café.
Christiane stellte sich grinsend in den Türrahmen. „Das Meerschweinchen krabbelt zurück in seinen Stall.“
„Welches Meerschweinchen?“, fragte Hans-Werner.
„Sickendieks Martina. Hast du dir mal die Haare von der angeguckt?“
„Ich guck die lieber gar nicht an, erst recht nicht die Haare. War schon schlimm genug, ihr dummes Gerede mit anhören zu müssen. Ich wusste gar nicht, dass es Luise so schlecht geht.“
„Das ist ja auch Quatsch.“, erklärte Volker. „Luise sieht nicht nur aus wie die Queen, sie ist auch im Kopf noch genauso fit. Noch vor zwei-ein-halb Jahren ist sie mitten im Advent um elf Uhr abends von Krietemeiers zu Fuß nach Hause gegangen, in Nylons, Pumps und Persianer, weil sie Angst hatte, Martina zu wecken, wenn die sie so spät noch abholen sollte.“
„Krietemeiers im Nagelsholz?“
„Ja, genau die, das gehört ja schon längst zu Spenge. Sind bestimmt zwei Kilometer und dann so nachts im Winterwind durchs offene Feld. Die hat sich noch nicht mal 'ne Blasenentzündung geholt, hat sogar am nächsten Tag noch 'ne halbe Stunde 'n Vortrag bei der Frauenhilfe gehalten über 'ne Gemeinde im Rheinland, wo sie öfter zu Besuch ist.“
„Dann war sie aber vor zwei-ein-halb Jahren doch schon ganz schön unvernünftig.“, gab Hans-Werner zu bedenken.
„Aber klar im Kopf und fit wie'n Turnschuh.“, hielt Volker dagegen.
„Oh je, da kommt Kundschaft.“, stöhnte Christiane.
„Wieso? Ist doch schön.“, wunderte Volker sich.
„Nee, ist nicht schön, ist Irmtraut.“
„Ungefähr so schön wie Sickendieks Martina.“, erklärte Hans-Werner.
„Also gar nicht schön.“, sagte Volker. „Aber Martina hat doch echt nicht alle Latten am Zaun. Wie kann man beim Einkaufen erzählen, dass man es gar nicht erwarten kann, dass die eigene Mutter endlich stirbt, damit man noch auf die Pauke hauen kann, bevor man selber kaputt ist?“
„Die ist doch schon kaputt.“, entgegnete Hans-Werner. „Nervt alle mit ihrem Rheuma, sitzt ständig beim Arzt und ganz richtig im Kopf ist sie auch nicht. Wenn einer bei Sickendieks im Haus dement ist, dann ist das Martina und natürlich ihr bekloppter Manni. Der redet auch nur Stuss, sagt immer, er sucht Investoren für sein Land, dabei hat er rein gar nix an den Hacken, das bisschen, was die haben, gehört Luise und die wird 'n Teufel tun und ohne Not Land verkaufen.“
Irmtraut Rösener-Klute betrat den Laden mit einem afrikanischen Korb, aber nicht so einem, wie es sie massenhaft für wenige Euros in manchen großen Supermärkten gab, die sich schon nach ein paar Monaten in ihre Bestandteile auflösten, sondern mit einem echten Weltladen-Produkt, bei dem der Hersteller einen fairen Preis erzielt hatte – und der Korb hielt jahrelang. Irmtraut war erst mit ihrem Mann nach Häger gezogen, nachdem ihre Kinder aus der riesigen Wohnung im Bielefelder Westen ausgezogen waren. Sie hatten schon immer vom Leben auf dem Land geträumt und sich im neuesten Teil des Dorfes eine Parterre-Wohnung mit Garten gemietet. Irmtraut war als examinierte Altenpflegerin vor einigen Jahren vom aktiven Pflegedienst zum Unterrichten von Pflegeschülern gewechselt und tat dies nun noch ein paar Jahre in Altersteilzeit. Ihr Mann – fünfzehn Jahre älter als sie – hatte schon vor dem Umzug aufgehört, als Allgemeinmediziner zu praktizieren, war aber für seine siebenundsiebzig Jahre noch äußerst rüstig. Beide mischten in vielen Vereinen mit, vor allem aber in der Initiative „Unser Dorf hat Zukunft“.
Irmtrauts Lächeln beim Betreten des Ladens war so angestrengt strahlend, dass Christiane vom bloßen Hinsehen Schmerzen bekam.
„Ach, Hallo, guten Morgen, ist vielleicht noch was von dem Dinkel-Chia-Brot da?“, fragte Irmtraut überakzentuiert.
„Nee, nur noch Tschi-a-batta!“, tönte es aus dem Hinterzimmer.
„Gar nicht hinhören.“, wiegelte Christiane ab. „Die essen seit Generationen Graubrot und das ändert sich auch nicht mehr. Von dem Dinkel-Chia ist noch genug da. Geschnitten oder am Stück?“
„Geschnitten. Eigentlich hält sich das am Stück ja länger frisch, aber ich habe gerade wieder so eine Sehnenreizung am Handgelenk und Martin hat ja schon seit Jahren so schwere Arthrose in den Händen, der kann kein Brot mehr schneiden.“
„Habt ihr keinen Allesschneider?“
„Nein, so eine Mini-Kreissäge kommt mir nicht in die Küche. Alles Krachmacher und Energiefresser. Und dann sind sie auch noch hässlich, nehmen Platz weg und müssen dauernd geputzt werden. Wenn meine Sehnen sich erholt haben, greife ich wieder selbst zum Brotmesser. - Aber sag mal, das Fest am Wochenende war doch richtig schön, oder?“
„Ja, war wieder mehr so wie früher.“
„Ja gut, mir hat auch ein bisschen was im Kulturteil gefehlt. Der Projektchor war zwar ganz ambitioniert, aber wir haben hier doch diese nette, kleine Künstlerkolonie, die müssten wir doch irgendwie einbinden können. Ich hätte es toll gefunden, wenn es irgendwo Raum zum kreativ Werden gegeben hätte.“
„Aber das wurde doch schon beim letzten Mal kaum angenommen.“, erinnerte Christiane an das Dorffest, das fast alle als kläglich gescheiterten Reformversuch verbucht hatten.
„Das kannst du aber so nicht sagen.“, widersprach Irmtraut. „Eine ganze Menge Leute hat Glasfensterchen bemalt, sogar mehr, als sich überhaupt im Bücherhaus einsetzen lassen.“
„Ja, nur wurden sie bis heute nicht eingesetzt, obwohl es doch schon drei Jahre her ist, und es wäre ja auch blanker Unsinn, das einzige Fenster im Bücherhaus mit Buntglas auszufüllen, dann fällt ja gar nicht mehr genug Licht zum Lesen rein.“
„Aber drinnen gibt es doch eine Lampe.“
„Aber ist das nicht Energieverschwendung?“
„Ach was. Da ist doch eine LED-Birne drin.“
„Na, wenn du es sagst. - Brauchst du noch etwas außer dem Brot?“
„Ach, ich überlege, ob ich noch ein paar von den Äpfeln mitnehme. Wir haben ja welche im Garten, aber die sind schon noch reichlich grün.“
„Da würde ich nicht lange überlegen. Die sind aus Werther, und wie du weißt, keinen Cent teurer als im Supermarkt.“
„Ja, stimmt, man vergisst das immer, dass die Preise hier gar nicht höher sind, obwohl es doch so ein kleiner Dorfladen ist. Ach ja, dann nehme ich mal drei Äpfel mit. - Aber der Umzug gestern war doch wirklich ganz toll. Ich glaube so viele Wagen hat es noch nie gegeben.“
„Doch, hat es, aber das war vor deiner Zeit.“
„Ja, aber es ist doch toll, dass da nicht nur solche Gruppen mitwirken, die es in jedem Dorf gibt, sondern auch unsere Dorf-Ini und die Flüchtlingsinitiative und eben nicht nur Feuerwehr, Sportverein und Schützen.“
„Schützenverein haben wir in Häger gar nicht.“
„Ja, stimmt, das war auch einer der Gründe, warum Martin und ich uns für Häger entschieden haben. Was bin ich dir schuldig?“
„Fünf Euro vierzig.“
„Ja, das sind hier wirklich faire Preise.“, erklärte Irmtraut und setzte wieder ihr angestrengt strahlendes Lächeln auf. Als sie die Ladentür hinter sich geschlossen hatte, riefen die Männer im Hinterzimmer: „Ist sie endlich weg?“
Christiane stellte sich wieder grinsend in den Türrahmen: „Das hätten wir für heute überstanden.“, stöhnte sie.
„Die hat dir ja wieder die ganze Tasche vollgelabert.“, stellte Volker fest. „Bis obenhin.“
„Ja, und ich will jetzt endlich los und den Schweinestall ausmisten.“, sagte Hans-Werner, „bevor das nächste Ungeheuer auftaucht, um 'ne halbe Stunde lang für zwei fuffzich einzukaufen. Macht's gut.“
„Ich muss auch wieder an die Farbeimer.“, erklärte Volker und legte einen Zehner auf den Tisch. „Stimmt so.“
Schröttinghausener Straße, Dienstag, 13. September 2016
Luise Sickendiek saß auf der Couch und fieberte mit dem grundanständigen Mädchen, dem das intrigante Flittchen aus der vermeintlich besseren Gesellschaft gerade den Verlobten abspenstig machte. Sie liebte ihre tägliche Seifenoper und wollte sie um nichts in der Welt verpassen. Die Geschichten waren so einfach gestrickt, dass sie auch dann nachvollziehbar blieben, wenn man nicht jedes Wort mitbekam und die Gesichtszüge der Schauspieler nicht mehr klar erkennbar waren. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Martina stürmte herein, die mit ihren schweren Schritten trotz der weinroten Velours-Puschen an ihren geschwollenen Füßen einen so mächtigen Lärm verursachte, dass Luise gar nicht mehr verstand, was am Fürstenhof gesprochen wurde.
„Das ist ja nicht zum Aushalten!“, keifte Martina. „Mit dem Krach kannst du ja schon ganz Häger beschallen.“, rief sie und schaltete den Fernseher aus.
„Aber ich wollte das gucken.“, protestierte Luise.
„Du hast Besuch. Da lässt man den Fernseher nicht laufen.“, wies Martina sie zurecht.
„Wer ist denn da?“
„Onkel Erich. Komm rein. Ist ja jetzt Kaffeezeit. Soll ich dir einen Koffeinfreien machen?“
„Och, das ist nicht nötig.“, antwortete Erich Mensendiek, der der Eigentümer der nächsten Hofstelle war, die er auch bewohnte. Das Grundstück, auf dem Luise und ihr Mann das Haus gebaut hatten, hatte auch einmal dazu gehört.
„Jetzt sag schon, was du trinken willst.“, forderte Martina barsch. „Es ist schließlich Kaffeezeit.“
„Dann lieber einen Kaffee ohne Koffein.“
„Für mich aber mit.“, rief Luise.
„Ach Mama, du wirst schon nicht vom Stängel fallen, wenn du einmal koffeinfrei mit trinkst. Zwei Sorten Kaffee kochen für zwei Leute. Wo gibt’s denn so was?“
„Trinkst du denn keinen Kaffee, Martina?“, fragte Erich.
„Nein, nachmittags trinke ich immer Sauerkrautsaft. Das entschlackt.“
Als Martina zum Kaffee Kochen verschwunden war, sagte Erich: „Mensch, Luise, was lässt du dir das von Martina gefallen? Die behandelt dich ja wie 'ne Gefangene.“
„Ach, die hat nur einen rauen Ton.“
„Rauer Ton? Die benimmt sich wie 'ne durchgedrehte Gutsherrin. Dabei sollte sie froh sein, dass du sie hier wohnen lässt.“
„Ach Erich. Die Kinder sind eben die Kinder und das bleiben sie auch. Ich kann doch mein eigen Fleisch und Blut nicht vor die Tür setzen.“
„Meinetwegen behalt' sie da. Aber ihr sollte mal jemand den Kopf zurechtrücken. Ist ja schließlich nicht das erste Mal, dass sie dich so behandelt. Regelrecht unverschämt ist die und überhaupt kein Respekt vor dem Alter. Vorm Krieg hätte es so was nicht gegeben. Da hätte sie sich entweder zusammenreißen müssen oder sie wäre in'ne Anstalt gekommen.“
„Ach, Erich, das ist doch Quatsch. Weißt du noch, Baxmanns Mutter? Die habense auch nicht abgeholt.“
Aber nur weil Otto inner SS war, das sag ich dir. Der konnte da schützend seine Hand drüber halten. Ich denke, ich knöpfe mir eure Martina gleich mal vor.“
„Du, lass das bloß sein. Dann wird sie nur ärgerlich, und wenn die richtig ärgerlich ist, das ist so schlimm, das hast du noch nicht erlebt.“
„Ach, Luise, lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende. Schmeiß die undankbare Brut raus. Die werden schon nicht verhungern. So schlecht verdient Manfred nicht. Und du hast doch genug Geld auf der Kante, um dir die letzten Jahre 'ne eigene Pflegerin zu leisten. Die macht es dir dann richtig schön.“
„Da wäre ja ruck zuck alles verjubelt.“
„Ach was. Da nimmste einfach 'ne Polin, so wie ich. So teuer sind die nicht und viel netter als die jungen Leute hierzulande.“
„Ach Erich, wenn sie dir im Krieg erzählt hätten, dass du dich im Alter mal von einer vonne Pollacken versorgen lässt, das hätteste auch nicht geglaubt.“
Luise lachte herzlich und Erich zuckte schmunzelnd mit den Schultern.
„Du kannst auch zu mir ziehen.“, schlug er vor. „Dann können wir uns die Polin teilen.“
„Ach, jetzt hör aber auf damit!“, wies Luise ihn brüsk zurück. „Ich bin in den letzten siebzig Jahren nicht zu dir gezogen, warum sollte ich jetzt damit anfangen?“
„Weil du hier nicht geachtet wirst.“
„Schluss jetzt!“, sagte Luise. „Kein Wort mehr darüber und wehe, du erzählst irgendwo was. Wenn Martina ab und zu mal schlechte Laune hat, geht das keinen was an. Schließlich hat sie ganz schlimm mit ihrem Rheuma zu tun, da kann man dann nicht immer freundlich sein.“
„Na, wenn du meinst. Ich finde nur, du hättest etwas Besseres verdient. Du müsstest nur dein Land verkaufen, dann...“
„Das mache ich ganz bestimmt nicht!“, unterbrach Luise ihn barsch. „Erstens will ich meinem Kind was vererben und zweitens haben meine Eltern sich nicht ihr Leben lang den Buckel krumm geschuftet, damit die Hallodris von sonst wo ihre heulenden, hässlichen Windräder auf unser Land pflanzen. Als kleinen Acker nebenbei kann ich das ja ganz gut verpachten, aber der einzige, der es kaufen würde, wäre Lohoffs Hans-Werner, und der hat schon so viel, dem gönne ich es nicht.“
„Nee, so'n alten Kreiselspargel können wir in Häger nun wirklich nicht gebrauchen. Guck dir den Apparat in Jöllenbeck doch mal an: Sieht man von überall, und wenn du durch die Kuhle am alten Waldbad durch bist, dann hörst du es schon: flapp-flapp-flapp. Und aussehen tut es, als wennse da 'ne Fabrik bauen. Sollense den Quatsch doch weiter inne Nordsee pflanzen, da is' wenigstens Wind und nich' wie bei uns in Häger inne Kuhle. Was die sich immer für'n Quatsch ausdenken. Oder steckt euer Manfred dahinter?“
„Was soll denn wohl unser Manfred damit zu tun haben? Der sitzt da im Rathaus, telefoniert und schreibt Rechnungen. Von Landwirtschaft hat der überhaupt keine Ahnung, und ich hab' auch noch nicht mitgekriegt, dass er sich mit Windrädern befasst hat.“
„Ich dachte ja nur, weil Krietemeiers Gerd neulich auch erzählte, der Uwe würde immer im Internet rumgucken, ob er nicht auch ein Stück Land an so'ne Windkraftfirma verkaufen könnte. Man müsste mit der Zeit gehen, sagt er.“
„Mit der Zeit gehen!“, entrüstete sich Luise. „Die Bauern verschleudern ihr gutes Land wie die Huren ihren Körper, von der Ehre mal ganz zu schweigen. Und am Ende wundern sie sich, wo alles geblieben ist, wenn sie dann das ganze schöne Geld für moderne Fernseher, Computergedöns und viel zu große Autos rausgeschmissen haben. Geht doch heutzutage alles ruck zuck kaputt und dann stehense da: kein Geld mehr und auch kein Land mehr, um was zu verdienen.“
„Ja ja“, pflichtete Erich ihr bei. „Und dann geht Haus und Hof drauf. Früher habense wenigstens nur alles versoffen, heute kaufense sich tot und schmeißen hinterher alles auf'n Müll. Und unsere Urenkel können dann sehen, wiese damit fertig werden.“
Luise seufzte. „Und keiner steht auf und tut was.“
„Och“, meinte Erich. „Die Jungens vonne Windkraftgegner, die machen ja schon was los. Und die wissen auch, was sie wollen und nicht nur, was sie nicht wollen.“
„Ja ja“, erinnerte sich Luise an die Anfänge der Grünen in den Achtzigern. „Wir sind alternativ. Wir sind dafür, dass wir dagegen sind.“
Erich nickte eifrig und fiel dann mit ein: „Atomkraft, nein danke, bei uns kommt der Strom aus der Steckdose.“
Die Tür ging auf und Martina brachte ein Tablett mit Kaffee und einem Stück Platenkuchen für jeden.
„Oh, hier wird man ja bedient wie inne Gastronomie.“, versuchte Erich gut Wetter zu machen.
„Ja, und dabei ganz ohne zu bezahlen.“, erwiderte Martina schnippisch und servierte vorbildlich die kleine Kaffeemahlzeit, ohne es jedoch zu versäumen, mit ihrem ganzen Körper auszustrahlen, wie lästig ihr Erichs Besuch war. Das tat sie nahezu immer, aber Erich besuchte Luise trotzdem regelmäßig, denn sie war als nächste Nachbarin eine der Wenigen, die noch aus der alten Zeit übrig geblieben war und er hatte sie stets verehrt und bewundert. Und begehrt hatte er sie wie keine andere, doch sie hatte ihn nie erhört.
Christiane Kleinebekel stand seit einer Stunde hinter der Ladentheke. Sie tat das ehrenamtlich, damit das Dorf einen Ort bot, wo man sich mit dem Nötigsten versorgen konnte, ohne ins Auto zu steigen und wo man immer Leute traf, die man kannte, damit man morgens ein Schwätzchen halten konnte. Die Frühschicht, die im Übrigen dafür bezahlt wurde, hatte das kleine Geschäft bereits um fünf Uhr morgens geöffnet, denn zwischen fünf und neun Uhr gingen die meisten belegten Brötchen und Kaffees zum Mitnehmen über die Theke, an denen der Laden am meisten verdiente.
Christianes Freundin Sigrid Husemann-Rademacher, die im Gasthof schräg gegenüber lebte und arbeitete, war als Nächste an der Reihe, hinter ihr der Malermeister Volker Bracksiek und der Landwirt Hans-Werner Lohoff.
„Gibts du mir noch ein Dinkel-Chia-Brot?“, fragte Sigrid.
„Geschnitten oder am Stück?“
„Am Stück. Bleibt länger frisch.“
Martina Tappe betrat den Laden und stellte sich hinten an. Sigrid bezahlte und wandte sich an Martina, während Volker eine umfangreiche Bestellung für Samstag aufgab.
„Wie geht es eigentlich deiner Mutter, Martina? Die hab' ich schon seit Wochen nicht mehr gesehen.“
„Ach, die ist immer noch ganz schlecht zurecht.“, gab Martina Auskunft. „Seit sie die Grippe erwischt hat, ist sie ganz durcheinander.“
„Ja, das wirft so alte Menschen erst einmal gehörig aus den Puschen.“, meinte Sigrid mitfühlend.
„Ach, wenn sie nur erschöpft wäre“, beklagte Martina sich. „Aber sie wird ja nun allmählich immer dementer. Das ist schlimmer, als wenn man kleine Kinder hat, da kommt man gar nicht hinterher.“
„Na also dement ist Tante Luise ja nun wohl noch lange nicht.“, hielt Sigrid dagegen. „So was kommt ja nicht plötzlich innerhalb von ein paar Wochen über einen.“
„Nee, das geht schleichend, darum merkt man das auch nur, wenn man täglich mit den Leuten zu tun hat.“
„Also ich glaube, ich muss deine Mutter mal wieder besuchen.“, erklärte Sigrid. „Aber nicht jetzt. Wir haben gleich Gäste zum Essen. Mach's gut.“
Volker hatte sich mittlerweile einen Kaffee und eine Laugenecke bestellt und sich in das kleine Hinterzimmer gesetzt, das die Dorfladen-Initiative liebevoll als Café eingerichtet hatte.
Hans-Werner hatte einen Korb voller Lebensmittel und nachdem er bezahlt hatte, gesellte er sich auf ein Schwätzchen zu Volker. Nun war Martina an der Reihe. „Ich hätte gern ein Graubrot, geschnitten und eine Lage von dem Platenkuchen.“
„Ist ja wirklich schön, dass deine Mutter keine Diabetikerin ist wie die meisten in ihrem Alter.“, bemerkte Christiane.
„Nee, darauf hat sie immer aufgepasst. Von zu viel Kuchen bekommt sie Sodbrennen.“
„Ja und dick war sie ja auch nie.“
„Na ja, aber auch nicht gerade 'ne Gazelle.“
„Manch einer wäre froh, wenn er sich so gut halten würde. Wie alt ist sie jetzt eigentlich?“
„Zweiundneunzig. So alt werde ich bestimmt nicht. Manchmal frage ich mich, warum die nicht endlich stirbt. Schließlich will ich auch noch ein bisschen was vom Leben haben, jetzt wo die Kinder aus dem Haus sind. Aber kaum sind die Rangen selbstständig, machen die Eltern einen verrückt.“
„Aber deine Kinder sind doch schon seit Jahren aus dem Haus.“, wunderte sich Christiane.
„Und meine Mutter dreht schon seit Jahren durch.“, entgegnete Martina. „Dann will sie Kaffee zum Kuchen, dann lieber wieder Tee, dann tut's der Schließmuskel nicht mehr, aber Windeln will sie nicht, weil dann die Kleider nicht mehr sitzen, dann muss ich ihr dauernd ihre Wurstlocken aufdrehen, die schon seit dreißig Jahren keine mehr trägt, dann ihre Küche putzen, weil sie sich unbedingt abends noch ein Schnitzel braten muss und den ganzen Fliesenspiegel mit Fett voll spritzt. Ich hab' das so satt. Sie tut immer wie 'ne feine Dame, aber benimmt sich wie ein Kindergartenkind. Und auch nur so wird man mit ihr fertig. Ich sage es immer wieder: Alte Leute sind wie kleine Kinder und mit denen kenne ich mich aus, schließlich bin ich gelernte Erzieherin.“
„Na, dann hast du sicher alles super im Griff.“, stellte Christiane schmunzelnd fest und Martina erwiderte: „Man wurschtelt sich so durch. Was muss ich bezahlen?“
„Sechs fünfzig.“
Sie legte das abgezählte Geld auf den Tisch und verließ so schwerfällig den Laden, als müsste sie zwei übervolle Körbe tragen.
„Ist sie endlich weg?“, rief Volker aus dem Café.
Christiane stellte sich grinsend in den Türrahmen. „Das Meerschweinchen krabbelt zurück in seinen Stall.“
„Welches Meerschweinchen?“, fragte Hans-Werner.
„Sickendieks Martina. Hast du dir mal die Haare von der angeguckt?“
„Ich guck die lieber gar nicht an, erst recht nicht die Haare. War schon schlimm genug, ihr dummes Gerede mit anhören zu müssen. Ich wusste gar nicht, dass es Luise so schlecht geht.“
„Das ist ja auch Quatsch.“, erklärte Volker. „Luise sieht nicht nur aus wie die Queen, sie ist auch im Kopf noch genauso fit. Noch vor zwei-ein-halb Jahren ist sie mitten im Advent um elf Uhr abends von Krietemeiers zu Fuß nach Hause gegangen, in Nylons, Pumps und Persianer, weil sie Angst hatte, Martina zu wecken, wenn die sie so spät noch abholen sollte.“
„Krietemeiers im Nagelsholz?“
„Ja, genau die, das gehört ja schon längst zu Spenge. Sind bestimmt zwei Kilometer und dann so nachts im Winterwind durchs offene Feld. Die hat sich noch nicht mal 'ne Blasenentzündung geholt, hat sogar am nächsten Tag noch 'ne halbe Stunde 'n Vortrag bei der Frauenhilfe gehalten über 'ne Gemeinde im Rheinland, wo sie öfter zu Besuch ist.“
„Dann war sie aber vor zwei-ein-halb Jahren doch schon ganz schön unvernünftig.“, gab Hans-Werner zu bedenken.
„Aber klar im Kopf und fit wie'n Turnschuh.“, hielt Volker dagegen.
„Oh je, da kommt Kundschaft.“, stöhnte Christiane.
„Wieso? Ist doch schön.“, wunderte Volker sich.
„Nee, ist nicht schön, ist Irmtraut.“
„Ungefähr so schön wie Sickendieks Martina.“, erklärte Hans-Werner.
„Also gar nicht schön.“, sagte Volker. „Aber Martina hat doch echt nicht alle Latten am Zaun. Wie kann man beim Einkaufen erzählen, dass man es gar nicht erwarten kann, dass die eigene Mutter endlich stirbt, damit man noch auf die Pauke hauen kann, bevor man selber kaputt ist?“
„Die ist doch schon kaputt.“, entgegnete Hans-Werner. „Nervt alle mit ihrem Rheuma, sitzt ständig beim Arzt und ganz richtig im Kopf ist sie auch nicht. Wenn einer bei Sickendieks im Haus dement ist, dann ist das Martina und natürlich ihr bekloppter Manni. Der redet auch nur Stuss, sagt immer, er sucht Investoren für sein Land, dabei hat er rein gar nix an den Hacken, das bisschen, was die haben, gehört Luise und die wird 'n Teufel tun und ohne Not Land verkaufen.“
Irmtraut Rösener-Klute betrat den Laden mit einem afrikanischen Korb, aber nicht so einem, wie es sie massenhaft für wenige Euros in manchen großen Supermärkten gab, die sich schon nach ein paar Monaten in ihre Bestandteile auflösten, sondern mit einem echten Weltladen-Produkt, bei dem der Hersteller einen fairen Preis erzielt hatte – und der Korb hielt jahrelang. Irmtraut war erst mit ihrem Mann nach Häger gezogen, nachdem ihre Kinder aus der riesigen Wohnung im Bielefelder Westen ausgezogen waren. Sie hatten schon immer vom Leben auf dem Land geträumt und sich im neuesten Teil des Dorfes eine Parterre-Wohnung mit Garten gemietet. Irmtraut war als examinierte Altenpflegerin vor einigen Jahren vom aktiven Pflegedienst zum Unterrichten von Pflegeschülern gewechselt und tat dies nun noch ein paar Jahre in Altersteilzeit. Ihr Mann – fünfzehn Jahre älter als sie – hatte schon vor dem Umzug aufgehört, als Allgemeinmediziner zu praktizieren, war aber für seine siebenundsiebzig Jahre noch äußerst rüstig. Beide mischten in vielen Vereinen mit, vor allem aber in der Initiative „Unser Dorf hat Zukunft“.
Irmtrauts Lächeln beim Betreten des Ladens war so angestrengt strahlend, dass Christiane vom bloßen Hinsehen Schmerzen bekam.
„Ach, Hallo, guten Morgen, ist vielleicht noch was von dem Dinkel-Chia-Brot da?“, fragte Irmtraut überakzentuiert.
„Nee, nur noch Tschi-a-batta!“, tönte es aus dem Hinterzimmer.
„Gar nicht hinhören.“, wiegelte Christiane ab. „Die essen seit Generationen Graubrot und das ändert sich auch nicht mehr. Von dem Dinkel-Chia ist noch genug da. Geschnitten oder am Stück?“
„Geschnitten. Eigentlich hält sich das am Stück ja länger frisch, aber ich habe gerade wieder so eine Sehnenreizung am Handgelenk und Martin hat ja schon seit Jahren so schwere Arthrose in den Händen, der kann kein Brot mehr schneiden.“
„Habt ihr keinen Allesschneider?“
„Nein, so eine Mini-Kreissäge kommt mir nicht in die Küche. Alles Krachmacher und Energiefresser. Und dann sind sie auch noch hässlich, nehmen Platz weg und müssen dauernd geputzt werden. Wenn meine Sehnen sich erholt haben, greife ich wieder selbst zum Brotmesser. - Aber sag mal, das Fest am Wochenende war doch richtig schön, oder?“
„Ja, war wieder mehr so wie früher.“
„Ja gut, mir hat auch ein bisschen was im Kulturteil gefehlt. Der Projektchor war zwar ganz ambitioniert, aber wir haben hier doch diese nette, kleine Künstlerkolonie, die müssten wir doch irgendwie einbinden können. Ich hätte es toll gefunden, wenn es irgendwo Raum zum kreativ Werden gegeben hätte.“
„Aber das wurde doch schon beim letzten Mal kaum angenommen.“, erinnerte Christiane an das Dorffest, das fast alle als kläglich gescheiterten Reformversuch verbucht hatten.
„Das kannst du aber so nicht sagen.“, widersprach Irmtraut. „Eine ganze Menge Leute hat Glasfensterchen bemalt, sogar mehr, als sich überhaupt im Bücherhaus einsetzen lassen.“
„Ja, nur wurden sie bis heute nicht eingesetzt, obwohl es doch schon drei Jahre her ist, und es wäre ja auch blanker Unsinn, das einzige Fenster im Bücherhaus mit Buntglas auszufüllen, dann fällt ja gar nicht mehr genug Licht zum Lesen rein.“
„Aber drinnen gibt es doch eine Lampe.“
„Aber ist das nicht Energieverschwendung?“
„Ach was. Da ist doch eine LED-Birne drin.“
„Na, wenn du es sagst. - Brauchst du noch etwas außer dem Brot?“
„Ach, ich überlege, ob ich noch ein paar von den Äpfeln mitnehme. Wir haben ja welche im Garten, aber die sind schon noch reichlich grün.“
„Da würde ich nicht lange überlegen. Die sind aus Werther, und wie du weißt, keinen Cent teurer als im Supermarkt.“
„Ja, stimmt, man vergisst das immer, dass die Preise hier gar nicht höher sind, obwohl es doch so ein kleiner Dorfladen ist. Ach ja, dann nehme ich mal drei Äpfel mit. - Aber der Umzug gestern war doch wirklich ganz toll. Ich glaube so viele Wagen hat es noch nie gegeben.“
„Doch, hat es, aber das war vor deiner Zeit.“
„Ja, aber es ist doch toll, dass da nicht nur solche Gruppen mitwirken, die es in jedem Dorf gibt, sondern auch unsere Dorf-Ini und die Flüchtlingsinitiative und eben nicht nur Feuerwehr, Sportverein und Schützen.“
„Schützenverein haben wir in Häger gar nicht.“
„Ja, stimmt, das war auch einer der Gründe, warum Martin und ich uns für Häger entschieden haben. Was bin ich dir schuldig?“
„Fünf Euro vierzig.“
„Ja, das sind hier wirklich faire Preise.“, erklärte Irmtraut und setzte wieder ihr angestrengt strahlendes Lächeln auf. Als sie die Ladentür hinter sich geschlossen hatte, riefen die Männer im Hinterzimmer: „Ist sie endlich weg?“
Christiane stellte sich wieder grinsend in den Türrahmen: „Das hätten wir für heute überstanden.“, stöhnte sie.
„Die hat dir ja wieder die ganze Tasche vollgelabert.“, stellte Volker fest. „Bis obenhin.“
„Ja, und ich will jetzt endlich los und den Schweinestall ausmisten.“, sagte Hans-Werner, „bevor das nächste Ungeheuer auftaucht, um 'ne halbe Stunde lang für zwei fuffzich einzukaufen. Macht's gut.“
„Ich muss auch wieder an die Farbeimer.“, erklärte Volker und legte einen Zehner auf den Tisch. „Stimmt so.“
Schröttinghausener Straße, Dienstag, 13. September 2016
Luise Sickendiek saß auf der Couch und fieberte mit dem grundanständigen Mädchen, dem das intrigante Flittchen aus der vermeintlich besseren Gesellschaft gerade den Verlobten abspenstig machte. Sie liebte ihre tägliche Seifenoper und wollte sie um nichts in der Welt verpassen. Die Geschichten waren so einfach gestrickt, dass sie auch dann nachvollziehbar blieben, wenn man nicht jedes Wort mitbekam und die Gesichtszüge der Schauspieler nicht mehr klar erkennbar waren. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Martina stürmte herein, die mit ihren schweren Schritten trotz der weinroten Velours-Puschen an ihren geschwollenen Füßen einen so mächtigen Lärm verursachte, dass Luise gar nicht mehr verstand, was am Fürstenhof gesprochen wurde.
„Das ist ja nicht zum Aushalten!“, keifte Martina. „Mit dem Krach kannst du ja schon ganz Häger beschallen.“, rief sie und schaltete den Fernseher aus.
„Aber ich wollte das gucken.“, protestierte Luise.
„Du hast Besuch. Da lässt man den Fernseher nicht laufen.“, wies Martina sie zurecht.
„Wer ist denn da?“
„Onkel Erich. Komm rein. Ist ja jetzt Kaffeezeit. Soll ich dir einen Koffeinfreien machen?“
„Och, das ist nicht nötig.“, antwortete Erich Mensendiek, der der Eigentümer der nächsten Hofstelle war, die er auch bewohnte. Das Grundstück, auf dem Luise und ihr Mann das Haus gebaut hatten, hatte auch einmal dazu gehört.
„Jetzt sag schon, was du trinken willst.“, forderte Martina barsch. „Es ist schließlich Kaffeezeit.“
„Dann lieber einen Kaffee ohne Koffein.“
„Für mich aber mit.“, rief Luise.
„Ach Mama, du wirst schon nicht vom Stängel fallen, wenn du einmal koffeinfrei mit trinkst. Zwei Sorten Kaffee kochen für zwei Leute. Wo gibt’s denn so was?“
„Trinkst du denn keinen Kaffee, Martina?“, fragte Erich.
„Nein, nachmittags trinke ich immer Sauerkrautsaft. Das entschlackt.“
Als Martina zum Kaffee Kochen verschwunden war, sagte Erich: „Mensch, Luise, was lässt du dir das von Martina gefallen? Die behandelt dich ja wie 'ne Gefangene.“
„Ach, die hat nur einen rauen Ton.“
„Rauer Ton? Die benimmt sich wie 'ne durchgedrehte Gutsherrin. Dabei sollte sie froh sein, dass du sie hier wohnen lässt.“
„Ach Erich. Die Kinder sind eben die Kinder und das bleiben sie auch. Ich kann doch mein eigen Fleisch und Blut nicht vor die Tür setzen.“
„Meinetwegen behalt' sie da. Aber ihr sollte mal jemand den Kopf zurechtrücken. Ist ja schließlich nicht das erste Mal, dass sie dich so behandelt. Regelrecht unverschämt ist die und überhaupt kein Respekt vor dem Alter. Vorm Krieg hätte es so was nicht gegeben. Da hätte sie sich entweder zusammenreißen müssen oder sie wäre in'ne Anstalt gekommen.“
„Ach, Erich, das ist doch Quatsch. Weißt du noch, Baxmanns Mutter? Die habense auch nicht abgeholt.“
Aber nur weil Otto inner SS war, das sag ich dir. Der konnte da schützend seine Hand drüber halten. Ich denke, ich knöpfe mir eure Martina gleich mal vor.“
„Du, lass das bloß sein. Dann wird sie nur ärgerlich, und wenn die richtig ärgerlich ist, das ist so schlimm, das hast du noch nicht erlebt.“
„Ach, Luise, lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende. Schmeiß die undankbare Brut raus. Die werden schon nicht verhungern. So schlecht verdient Manfred nicht. Und du hast doch genug Geld auf der Kante, um dir die letzten Jahre 'ne eigene Pflegerin zu leisten. Die macht es dir dann richtig schön.“
„Da wäre ja ruck zuck alles verjubelt.“
„Ach was. Da nimmste einfach 'ne Polin, so wie ich. So teuer sind die nicht und viel netter als die jungen Leute hierzulande.“
„Ach Erich, wenn sie dir im Krieg erzählt hätten, dass du dich im Alter mal von einer vonne Pollacken versorgen lässt, das hätteste auch nicht geglaubt.“
Luise lachte herzlich und Erich zuckte schmunzelnd mit den Schultern.
„Du kannst auch zu mir ziehen.“, schlug er vor. „Dann können wir uns die Polin teilen.“
„Ach, jetzt hör aber auf damit!“, wies Luise ihn brüsk zurück. „Ich bin in den letzten siebzig Jahren nicht zu dir gezogen, warum sollte ich jetzt damit anfangen?“
„Weil du hier nicht geachtet wirst.“
„Schluss jetzt!“, sagte Luise. „Kein Wort mehr darüber und wehe, du erzählst irgendwo was. Wenn Martina ab und zu mal schlechte Laune hat, geht das keinen was an. Schließlich hat sie ganz schlimm mit ihrem Rheuma zu tun, da kann man dann nicht immer freundlich sein.“
„Na, wenn du meinst. Ich finde nur, du hättest etwas Besseres verdient. Du müsstest nur dein Land verkaufen, dann...“
„Das mache ich ganz bestimmt nicht!“, unterbrach Luise ihn barsch. „Erstens will ich meinem Kind was vererben und zweitens haben meine Eltern sich nicht ihr Leben lang den Buckel krumm geschuftet, damit die Hallodris von sonst wo ihre heulenden, hässlichen Windräder auf unser Land pflanzen. Als kleinen Acker nebenbei kann ich das ja ganz gut verpachten, aber der einzige, der es kaufen würde, wäre Lohoffs Hans-Werner, und der hat schon so viel, dem gönne ich es nicht.“
„Nee, so'n alten Kreiselspargel können wir in Häger nun wirklich nicht gebrauchen. Guck dir den Apparat in Jöllenbeck doch mal an: Sieht man von überall, und wenn du durch die Kuhle am alten Waldbad durch bist, dann hörst du es schon: flapp-flapp-flapp. Und aussehen tut es, als wennse da 'ne Fabrik bauen. Sollense den Quatsch doch weiter inne Nordsee pflanzen, da is' wenigstens Wind und nich' wie bei uns in Häger inne Kuhle. Was die sich immer für'n Quatsch ausdenken. Oder steckt euer Manfred dahinter?“
„Was soll denn wohl unser Manfred damit zu tun haben? Der sitzt da im Rathaus, telefoniert und schreibt Rechnungen. Von Landwirtschaft hat der überhaupt keine Ahnung, und ich hab' auch noch nicht mitgekriegt, dass er sich mit Windrädern befasst hat.“
„Ich dachte ja nur, weil Krietemeiers Gerd neulich auch erzählte, der Uwe würde immer im Internet rumgucken, ob er nicht auch ein Stück Land an so'ne Windkraftfirma verkaufen könnte. Man müsste mit der Zeit gehen, sagt er.“
„Mit der Zeit gehen!“, entrüstete sich Luise. „Die Bauern verschleudern ihr gutes Land wie die Huren ihren Körper, von der Ehre mal ganz zu schweigen. Und am Ende wundern sie sich, wo alles geblieben ist, wenn sie dann das ganze schöne Geld für moderne Fernseher, Computergedöns und viel zu große Autos rausgeschmissen haben. Geht doch heutzutage alles ruck zuck kaputt und dann stehense da: kein Geld mehr und auch kein Land mehr, um was zu verdienen.“
„Ja ja“, pflichtete Erich ihr bei. „Und dann geht Haus und Hof drauf. Früher habense wenigstens nur alles versoffen, heute kaufense sich tot und schmeißen hinterher alles auf'n Müll. Und unsere Urenkel können dann sehen, wiese damit fertig werden.“
Luise seufzte. „Und keiner steht auf und tut was.“
„Och“, meinte Erich. „Die Jungens vonne Windkraftgegner, die machen ja schon was los. Und die wissen auch, was sie wollen und nicht nur, was sie nicht wollen.“
„Ja ja“, erinnerte sich Luise an die Anfänge der Grünen in den Achtzigern. „Wir sind alternativ. Wir sind dafür, dass wir dagegen sind.“
Erich nickte eifrig und fiel dann mit ein: „Atomkraft, nein danke, bei uns kommt der Strom aus der Steckdose.“
Die Tür ging auf und Martina brachte ein Tablett mit Kaffee und einem Stück Platenkuchen für jeden.
„Oh, hier wird man ja bedient wie inne Gastronomie.“, versuchte Erich gut Wetter zu machen.
„Ja, und dabei ganz ohne zu bezahlen.“, erwiderte Martina schnippisch und servierte vorbildlich die kleine Kaffeemahlzeit, ohne es jedoch zu versäumen, mit ihrem ganzen Körper auszustrahlen, wie lästig ihr Erichs Besuch war. Das tat sie nahezu immer, aber Erich besuchte Luise trotzdem regelmäßig, denn sie war als nächste Nachbarin eine der Wenigen, die noch aus der alten Zeit übrig geblieben war und er hatte sie stets verehrt und bewundert. Und begehrt hatte er sie wie keine andere, doch sie hatte ihn nie erhört.
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Sonntag, 27. August 2017
Kapitel 3 - "Ich hab' den Ausbau nicht gewollt"
c. fabry, 22:12h
Schröttinghausener Straße – Sonntag, 11. September 2016
Luise Sickendiek stand am Schlafzimmerfenster und ließ den Blick durch die feinen Organza-Stores über die Pferdeweide gleiten. Beim Blick aus dem Schlafzimmerfenster ihrer Kindheit hatte sie um diese Jahreszeit meistens auf unendlich weite Stoppelfelder geblickt. Gab es heute kaum noch. Wurde ja alles gleich gegrubbert. Damals hatten im Frühherbst am Samstag Abend ihre Brüder am Küchentisch gesessen und Drachen gebaut aus kerzengeraden Haselnussgerten, Packpapier und selbst angerührtem Leim aus Mehl und Wasser. Mit pedantischer Akribie hatten sie den Schwerpunkt ausgelotet und das Papier millimetergenau zugeschnitten. Sie hatte sich immer darüber lustig gemacht, weil ihr selbst ebenso wie ihrer kleinen Schwester dieses Vergnügen nie vergönnt gewesen war – der Samstag Abend war die Zeit zum Stricken, Nähen oder Stopfen. Ihre Großmutter hatte sich noch aufs Spinnen verstanden, ihre Mutter hatte das zwar auch gelernt, aber überhaupt keine Lust dazu gehabt – nur am Webstuhl, der in einer eigenen Stube stand, war sie eine wahre Künstlerin gewesen. Doch ihre Töchter hatte sie nicht an das wertvolle und empfindliche Werkzeug heran gelassen, und so hatten sie das Weben nie gelernt, und der Webstuhl hatte jahrelang herumgestanden, bis er schließlich so wurmstichig gewesen war, dass der Bruder, der den Hof geerbt hatte, ihn aufs Feuer geworfen hatte. Wer hätte das damals gedacht, als sie an kühlen Samstag Abenden ihre Drachen bauten, die sie am Sonntag auf dem Stoppelfeld steigen ließen und oft auch in der Woche, am Nachmittag, während Luise ein Stück weiter die Gänse hüten musste.
Luise seufzte. Wie lange hatte es zu Weihnachten schon keinen Gänsebraten mehr gegeben. Sie liebte ihn besonders, wenn die Gans mit Äpfeln und Walnüssen gefüllt war, aber Martina, ihre Tochter, meinte, Gänsebraten sei viel zu fettig, verursache nur Magenbeschwerden und außerdem habe sie keine Lust, stundenlang in der Küche zu stehen, um das Vieh vorzubereiten und dann noch einmal stundenlang im Fünfzehn-Minuten-Takt den Braten aus der Röhre zu ziehen und mit Fett zu begießen. Ach ja, Luise seufzte erneut, Martina hatte schon als Kind zu nichts richtig Lust gehabt.
Ihre Beine begannen, leicht zu zittern, ein deutlicher Hinweis, dass sie sich bald setzen musste. Langsam und bedächtig tippelte sie über den Hausflur auf die gegenüber liegende Seite des Hauses, wo ihr Wohnzimmer lag. Hier hatte sie ein Fenster, das zur Straße hinaus ging und davor stand ein bequemer Ohrensessel. Sie hatte schon in jüngeren Jahren gern von diesem Fenster aus die Straße beobachtet, aber selten genug die Zeit dazu gefunden. Das war nun eines der wenigen Privilegien, die ihr das Alter zu bieten hatte, wenn ihr schon ein Großteil der kulinarischen Hochgenüsse versagt blieb, nicht etwa, weil der Zustand ihrer Organe dies nicht gestattete, sondern weil ihre Tochter sich standhaft weigerte, sich Mühe zu geben. Überhaupt hatte sie sie einfach nicht so hinbekommen, wie sie es sich gewünscht hatte. Was hatte sie nicht alles für ihre Tochter getan, die es einmal besser haben sollte als sie selbst: Realschule und eine ordentliche Berufsausbildung, Klavierstunden, Tanzstunden und immerzu Kleidung in bester Qualität. Ein eigenes Zimmer, Bücher, einen Plattenspieler, Kindergeburtstage, Urlaubsreisen. Sie hatte die besten Voraussetzungen genossen, sich zu einem grazilen Schwan zu entwickeln und war nun doch eine tapsige, fette Ente geworden, dabei aber nicht so gutmütig, sondern zänkisch und bissig wie eine Gans. Am Vater konnte es nicht liegen, der war so schneidig gewesen, schlank, mit vollendeter Haltung und aparten, markanten Gesichtszügen. Wenn Martina keine Hausgeburt gewesen wäre, hätte sie sie für ein Wechselbalg gehalten.
Ach ja, ihr Ludwig, vielleicht hätte sie das Martyrium von Schwangerschaft und Geburt doch noch einmal auf sich nehmen sollen, dann wäre ihr mehr von ihm geblieben, als diese ewig übellaunige, unansehnliche Tochter. Aber das, was da zwischen den gestärkten Laken passieren musste, um guter Hoffnung zu werden, hatte sie unendlich abgestoßen. Warum nur alle so ein Gewese darum machten? Es war schmerzhaft und außerdem entwürdigend, wenn der sonst so elegante Mann schwitzend und keuchend auf ihr herumzappelte und dabei Grimassen zog, die sie an seinem Wohlbefinden zweifeln ließen. Es war ihm schwer gefallen, die meiste Zeit darauf zu verzichten, aber er hatte Rücksicht auf sie genommen und das hatte sie ihm hoch angerechnet. Doch dann war er viel zu früh gestorben, gerade mal siebzig war er gewesen. Jochen hatte länger durchgehalten, aber er war auch ein Hallodri gewesen, der seiner Frau viel Kummer bereitet hatte, wenn auch ein reizvoller, interessanter und unterhaltsamer Zeitgenosse.
Sie blickte rüber zur Tischlerei, hinter der sich die Spitze des bescheidenen, achtzehn Meter hohen Kirchturms befand. Ob sie wohl noch einmal zur Frauenhilfe käme? Vor fünf Tagen hatte sie die Zeit verschlafen, das hieß, Martina hatte sie in ihrer Boshaftigkeit einfach nicht geweckt und Luise fragte sich, ob sie ihr nicht etwas ins Essen gerührt hatte, damit sie fest und lange schlief. In der Woche davor wollte ihr Kreislauf nicht so recht, ihr war so schwindelig gewesen, dass sie sich immer wieder hinlegen musste. In den beiden Wochen davor hatte eine hartnäckige Sommergrippe sie außer Gefecht gesetzt und davor war eine lange Sommerpause gewesen, denn in den Schulferien blieb das Gemeindehaus geschlossen, damit die ehrenamtlichen Küsterdienste auch einmal verschnaufen konnten.
Singenstroths Lieselotte war nun zum zweiten Mal Uroma geworden. Warum schafften ihre Enkel das eigentlich nicht? Larissa war mit achtundzwanzig im besten Alter, André mit dreißig Jahren erst recht dran mit der Familiengründung. Ob sie das wohl noch erleben würde? Aber die zwei ließen sich ja auch gar nicht mehr blicken und würden einen eventuellen Familienzuwachs möglicherweise gar nicht bekannt geben.
Luise musste sauer aufstoßen. Das vermaledeite Sodbrennen quälte sie schon seit vierzig Jahren, dabei hatte sie so gern Kuchen gegessen, vertrug aber höchstens ein Stück, sonst rächte sich ihr Magen mit einer Überproduktion an Säure. Ihre Mutter war viel zu früh an einem chronischen Magenleiden langsam und qualvoll zugrunde gegangen und sie hatte sich geschworen, gut auf sich aufzupassen, damit sie nicht das gleiche Schicksal ereilte.
Was für Torten es wohl heute beim Dorffest gab? Sie hätte so gern mal wieder ein Stück echte Schwarzwälder-Kirsch oder Mokkatorte gegessen und nicht diesen neumodischen Quatsch, den Martina immer buk: Fantaschnitten oder wie heute, Maulwurftorte.
Als heute Morgen die Glocken läuteten, war ihr noch ganz schwummrig gewesen, dabei wäre sie gern einmal wieder zur Kirche gegangen. Früher hatte sie keinen Sonntag ausgelassen, an dem in Häger ein Gottesdienst stattfand, das hatte sie sich nicht nehmen lassen, außer zu der Zeit, als Martina noch klein war. Schon in ihrer Jugend, also seit der Konfirmandenzeit war sie mit der Landwirtstochter Marianne Temming zur Kirche nach Werther geradelt, denn in Häger, das damals noch „Auf der Bleeke“ hieß, gab es zu der Zeit noch keine Predigtstätte. Manchmal waren sie zu dritt gewesen, wenn die Pfarrerstochter Elisabeth Schuchart bei ihr hatte übernachten dürfen. Was war das für eine Freude gewesen, als Häger, das endlich in den Fünfzigerjahren ein richtiges Dorf geworden war, eine eigene Kirche mit Gemeindehaus bekam – und eine eigene Frauenhilfe, deren Vorsitz Luise Anfang der Sechzigerjahre übernahm. Was hatten sie sich an den Mittwoch Nachmittagen während der geschäftigen Vor- und Nachbereitungen in der Kirche alles zu erzählen gehabt und Luise, die aus ihrem gerade neu gebauten Haus immer den perfekten Blick auf die Schröttinghausener Straße gehabt hatte, konnte nahezu lückenlos verfolgen, wer bei Brüning einkaufte, ob die Taschen hinterher prall gefüllt waren oder nur bescheiden das Nötigste enthielten, und wer sich wie lange in der Gaststube aufhielt und wie betrunken wieder heraus wankte.
Heutzutage sah man ja kaum noch jemanden die Straße entlang flanieren, abgesehen von den Flüchtlingen, die man in Brünings ehemaligen Gastwirtschafts- , Hotel- und Lebensmittelbetrieb einquartiert hatte. Ein Jammer, dass das einst so stolze Gebäude so weit herunter gekommen war, dass es eigentlich schon abgerissen werden sollte. In einem Winter waren etliche Leitungen kaputt gefroren, doch dann hatte die Stadt Werther alles aufwändig restauriert, so dass die Räume wieder halbwegs bewohnbar waren. Gut, dass Brünings Edeltraut das nicht mehr erleben musste, dass jetzt Fremde aus Persien oder dem alten Babel in ihren Zimmern hausten. Sicher, nach dem Krieg hatte es auch Flüchtlinge gegeben, aber das war doch etwas Anderes gewesen, das waren schließlich Deutsche und mit den Flüchtlingsströmen war immerhin auch Pastor Hahnemann nach Häger gekommen. Und was für einen Spaß sie mit Ulla gehabt hatte, die gegen Ende des Krieges aus dem Rheinland evakuiert worden war. Sie war auf Niewöhners Hof, also in Luises Elternhaus, untergebracht worden, und obwohl sie vier Jahre jünger war als Luise, hatten die beiden sich umgehend angefreundet. Die tägliche Arbeit auf dem Hof war viel leichter von der Hand gegangen, sie hatten immer etwas zu Lachen gehabt und nach getaner Arbeit hatten sie sich gelegentliche Ausflüge in die Umgebung gegönnt. Mit Ulla wagte sie es auch, an heißen Sommertagen in das nahe gelegene Freibad zu radeln, wenn sie nicht gerade bis zur Dunkelheit mit der Heuernte beschäftigt gewesen waren. Das Freibad war schon seit Jahrzehnten nur noch eine Ruine, vielleicht war es sein Fluch, dass es in dem Jahr eröffnet worden war, in dem die NSDAP die Macht ergriffen hatte. Kaum noch vorstellbar, wie sie als junge Frau, die in ihren stillen Momenten um ihren Verlobten bangte, mit dem rheinischen Backfisch im kühlen Nass geplanscht hatte, wo jetzt die Erlen und Ulmen mit ihrem Wurzelwerk den Boden aufbrachen. Auch Ulla und Jochen – obwohl sie doch jünger gewesen waren – waren nun schon seit zwei Jahren tot. Zu ihrem Neunzigsten waren sie noch da gewesen. Ulla hatte gerade wegen einer Darmkrebserkrankung einen Anus Praeter gelegt bekommen und fürchterlich an Gewicht verloren. Jochen hatte ein Jahr zuvor einen Bypass erhalten und war nach wie vor schrecklich kurzatmig. Ein paar Wochen später war Ulla im Alter von sechsundachtzig Jahren den Folgen ihrer Krebserkrankung erlegen und Jochen hatte diese schwere Zeit so sehr mitgenommen, dass er wenige Tage später einen schweren Herzinfarkt erlitt, den er nicht überlebte. Er hatte es immerhin auf achtundachtzig Jahre gebracht. So war nun einer nach dem anderen von ihren alten Weggefährten gegangen, nur Mariannes kleine Schwester Hildegard war noch übrig und eigentlich auch Elisabeth, aber die konnte man kaum dazu zählen, war sie doch längst beim Übergang in die andere Welt. Es war nicht schön, am Ende übrig zu bleiben, nur noch umgeben von Jüngeren, die sich gestört fühlten und ungeduldig darauf warteten, dass man endlich ging.
Luise Sickendiek stand am Schlafzimmerfenster und ließ den Blick durch die feinen Organza-Stores über die Pferdeweide gleiten. Beim Blick aus dem Schlafzimmerfenster ihrer Kindheit hatte sie um diese Jahreszeit meistens auf unendlich weite Stoppelfelder geblickt. Gab es heute kaum noch. Wurde ja alles gleich gegrubbert. Damals hatten im Frühherbst am Samstag Abend ihre Brüder am Küchentisch gesessen und Drachen gebaut aus kerzengeraden Haselnussgerten, Packpapier und selbst angerührtem Leim aus Mehl und Wasser. Mit pedantischer Akribie hatten sie den Schwerpunkt ausgelotet und das Papier millimetergenau zugeschnitten. Sie hatte sich immer darüber lustig gemacht, weil ihr selbst ebenso wie ihrer kleinen Schwester dieses Vergnügen nie vergönnt gewesen war – der Samstag Abend war die Zeit zum Stricken, Nähen oder Stopfen. Ihre Großmutter hatte sich noch aufs Spinnen verstanden, ihre Mutter hatte das zwar auch gelernt, aber überhaupt keine Lust dazu gehabt – nur am Webstuhl, der in einer eigenen Stube stand, war sie eine wahre Künstlerin gewesen. Doch ihre Töchter hatte sie nicht an das wertvolle und empfindliche Werkzeug heran gelassen, und so hatten sie das Weben nie gelernt, und der Webstuhl hatte jahrelang herumgestanden, bis er schließlich so wurmstichig gewesen war, dass der Bruder, der den Hof geerbt hatte, ihn aufs Feuer geworfen hatte. Wer hätte das damals gedacht, als sie an kühlen Samstag Abenden ihre Drachen bauten, die sie am Sonntag auf dem Stoppelfeld steigen ließen und oft auch in der Woche, am Nachmittag, während Luise ein Stück weiter die Gänse hüten musste.
Luise seufzte. Wie lange hatte es zu Weihnachten schon keinen Gänsebraten mehr gegeben. Sie liebte ihn besonders, wenn die Gans mit Äpfeln und Walnüssen gefüllt war, aber Martina, ihre Tochter, meinte, Gänsebraten sei viel zu fettig, verursache nur Magenbeschwerden und außerdem habe sie keine Lust, stundenlang in der Küche zu stehen, um das Vieh vorzubereiten und dann noch einmal stundenlang im Fünfzehn-Minuten-Takt den Braten aus der Röhre zu ziehen und mit Fett zu begießen. Ach ja, Luise seufzte erneut, Martina hatte schon als Kind zu nichts richtig Lust gehabt.
Ihre Beine begannen, leicht zu zittern, ein deutlicher Hinweis, dass sie sich bald setzen musste. Langsam und bedächtig tippelte sie über den Hausflur auf die gegenüber liegende Seite des Hauses, wo ihr Wohnzimmer lag. Hier hatte sie ein Fenster, das zur Straße hinaus ging und davor stand ein bequemer Ohrensessel. Sie hatte schon in jüngeren Jahren gern von diesem Fenster aus die Straße beobachtet, aber selten genug die Zeit dazu gefunden. Das war nun eines der wenigen Privilegien, die ihr das Alter zu bieten hatte, wenn ihr schon ein Großteil der kulinarischen Hochgenüsse versagt blieb, nicht etwa, weil der Zustand ihrer Organe dies nicht gestattete, sondern weil ihre Tochter sich standhaft weigerte, sich Mühe zu geben. Überhaupt hatte sie sie einfach nicht so hinbekommen, wie sie es sich gewünscht hatte. Was hatte sie nicht alles für ihre Tochter getan, die es einmal besser haben sollte als sie selbst: Realschule und eine ordentliche Berufsausbildung, Klavierstunden, Tanzstunden und immerzu Kleidung in bester Qualität. Ein eigenes Zimmer, Bücher, einen Plattenspieler, Kindergeburtstage, Urlaubsreisen. Sie hatte die besten Voraussetzungen genossen, sich zu einem grazilen Schwan zu entwickeln und war nun doch eine tapsige, fette Ente geworden, dabei aber nicht so gutmütig, sondern zänkisch und bissig wie eine Gans. Am Vater konnte es nicht liegen, der war so schneidig gewesen, schlank, mit vollendeter Haltung und aparten, markanten Gesichtszügen. Wenn Martina keine Hausgeburt gewesen wäre, hätte sie sie für ein Wechselbalg gehalten.
Ach ja, ihr Ludwig, vielleicht hätte sie das Martyrium von Schwangerschaft und Geburt doch noch einmal auf sich nehmen sollen, dann wäre ihr mehr von ihm geblieben, als diese ewig übellaunige, unansehnliche Tochter. Aber das, was da zwischen den gestärkten Laken passieren musste, um guter Hoffnung zu werden, hatte sie unendlich abgestoßen. Warum nur alle so ein Gewese darum machten? Es war schmerzhaft und außerdem entwürdigend, wenn der sonst so elegante Mann schwitzend und keuchend auf ihr herumzappelte und dabei Grimassen zog, die sie an seinem Wohlbefinden zweifeln ließen. Es war ihm schwer gefallen, die meiste Zeit darauf zu verzichten, aber er hatte Rücksicht auf sie genommen und das hatte sie ihm hoch angerechnet. Doch dann war er viel zu früh gestorben, gerade mal siebzig war er gewesen. Jochen hatte länger durchgehalten, aber er war auch ein Hallodri gewesen, der seiner Frau viel Kummer bereitet hatte, wenn auch ein reizvoller, interessanter und unterhaltsamer Zeitgenosse.
Sie blickte rüber zur Tischlerei, hinter der sich die Spitze des bescheidenen, achtzehn Meter hohen Kirchturms befand. Ob sie wohl noch einmal zur Frauenhilfe käme? Vor fünf Tagen hatte sie die Zeit verschlafen, das hieß, Martina hatte sie in ihrer Boshaftigkeit einfach nicht geweckt und Luise fragte sich, ob sie ihr nicht etwas ins Essen gerührt hatte, damit sie fest und lange schlief. In der Woche davor wollte ihr Kreislauf nicht so recht, ihr war so schwindelig gewesen, dass sie sich immer wieder hinlegen musste. In den beiden Wochen davor hatte eine hartnäckige Sommergrippe sie außer Gefecht gesetzt und davor war eine lange Sommerpause gewesen, denn in den Schulferien blieb das Gemeindehaus geschlossen, damit die ehrenamtlichen Küsterdienste auch einmal verschnaufen konnten.
Singenstroths Lieselotte war nun zum zweiten Mal Uroma geworden. Warum schafften ihre Enkel das eigentlich nicht? Larissa war mit achtundzwanzig im besten Alter, André mit dreißig Jahren erst recht dran mit der Familiengründung. Ob sie das wohl noch erleben würde? Aber die zwei ließen sich ja auch gar nicht mehr blicken und würden einen eventuellen Familienzuwachs möglicherweise gar nicht bekannt geben.
Luise musste sauer aufstoßen. Das vermaledeite Sodbrennen quälte sie schon seit vierzig Jahren, dabei hatte sie so gern Kuchen gegessen, vertrug aber höchstens ein Stück, sonst rächte sich ihr Magen mit einer Überproduktion an Säure. Ihre Mutter war viel zu früh an einem chronischen Magenleiden langsam und qualvoll zugrunde gegangen und sie hatte sich geschworen, gut auf sich aufzupassen, damit sie nicht das gleiche Schicksal ereilte.
Was für Torten es wohl heute beim Dorffest gab? Sie hätte so gern mal wieder ein Stück echte Schwarzwälder-Kirsch oder Mokkatorte gegessen und nicht diesen neumodischen Quatsch, den Martina immer buk: Fantaschnitten oder wie heute, Maulwurftorte.
Als heute Morgen die Glocken läuteten, war ihr noch ganz schwummrig gewesen, dabei wäre sie gern einmal wieder zur Kirche gegangen. Früher hatte sie keinen Sonntag ausgelassen, an dem in Häger ein Gottesdienst stattfand, das hatte sie sich nicht nehmen lassen, außer zu der Zeit, als Martina noch klein war. Schon in ihrer Jugend, also seit der Konfirmandenzeit war sie mit der Landwirtstochter Marianne Temming zur Kirche nach Werther geradelt, denn in Häger, das damals noch „Auf der Bleeke“ hieß, gab es zu der Zeit noch keine Predigtstätte. Manchmal waren sie zu dritt gewesen, wenn die Pfarrerstochter Elisabeth Schuchart bei ihr hatte übernachten dürfen. Was war das für eine Freude gewesen, als Häger, das endlich in den Fünfzigerjahren ein richtiges Dorf geworden war, eine eigene Kirche mit Gemeindehaus bekam – und eine eigene Frauenhilfe, deren Vorsitz Luise Anfang der Sechzigerjahre übernahm. Was hatten sie sich an den Mittwoch Nachmittagen während der geschäftigen Vor- und Nachbereitungen in der Kirche alles zu erzählen gehabt und Luise, die aus ihrem gerade neu gebauten Haus immer den perfekten Blick auf die Schröttinghausener Straße gehabt hatte, konnte nahezu lückenlos verfolgen, wer bei Brüning einkaufte, ob die Taschen hinterher prall gefüllt waren oder nur bescheiden das Nötigste enthielten, und wer sich wie lange in der Gaststube aufhielt und wie betrunken wieder heraus wankte.
Heutzutage sah man ja kaum noch jemanden die Straße entlang flanieren, abgesehen von den Flüchtlingen, die man in Brünings ehemaligen Gastwirtschafts- , Hotel- und Lebensmittelbetrieb einquartiert hatte. Ein Jammer, dass das einst so stolze Gebäude so weit herunter gekommen war, dass es eigentlich schon abgerissen werden sollte. In einem Winter waren etliche Leitungen kaputt gefroren, doch dann hatte die Stadt Werther alles aufwändig restauriert, so dass die Räume wieder halbwegs bewohnbar waren. Gut, dass Brünings Edeltraut das nicht mehr erleben musste, dass jetzt Fremde aus Persien oder dem alten Babel in ihren Zimmern hausten. Sicher, nach dem Krieg hatte es auch Flüchtlinge gegeben, aber das war doch etwas Anderes gewesen, das waren schließlich Deutsche und mit den Flüchtlingsströmen war immerhin auch Pastor Hahnemann nach Häger gekommen. Und was für einen Spaß sie mit Ulla gehabt hatte, die gegen Ende des Krieges aus dem Rheinland evakuiert worden war. Sie war auf Niewöhners Hof, also in Luises Elternhaus, untergebracht worden, und obwohl sie vier Jahre jünger war als Luise, hatten die beiden sich umgehend angefreundet. Die tägliche Arbeit auf dem Hof war viel leichter von der Hand gegangen, sie hatten immer etwas zu Lachen gehabt und nach getaner Arbeit hatten sie sich gelegentliche Ausflüge in die Umgebung gegönnt. Mit Ulla wagte sie es auch, an heißen Sommertagen in das nahe gelegene Freibad zu radeln, wenn sie nicht gerade bis zur Dunkelheit mit der Heuernte beschäftigt gewesen waren. Das Freibad war schon seit Jahrzehnten nur noch eine Ruine, vielleicht war es sein Fluch, dass es in dem Jahr eröffnet worden war, in dem die NSDAP die Macht ergriffen hatte. Kaum noch vorstellbar, wie sie als junge Frau, die in ihren stillen Momenten um ihren Verlobten bangte, mit dem rheinischen Backfisch im kühlen Nass geplanscht hatte, wo jetzt die Erlen und Ulmen mit ihrem Wurzelwerk den Boden aufbrachen. Auch Ulla und Jochen – obwohl sie doch jünger gewesen waren – waren nun schon seit zwei Jahren tot. Zu ihrem Neunzigsten waren sie noch da gewesen. Ulla hatte gerade wegen einer Darmkrebserkrankung einen Anus Praeter gelegt bekommen und fürchterlich an Gewicht verloren. Jochen hatte ein Jahr zuvor einen Bypass erhalten und war nach wie vor schrecklich kurzatmig. Ein paar Wochen später war Ulla im Alter von sechsundachtzig Jahren den Folgen ihrer Krebserkrankung erlegen und Jochen hatte diese schwere Zeit so sehr mitgenommen, dass er wenige Tage später einen schweren Herzinfarkt erlitt, den er nicht überlebte. Er hatte es immerhin auf achtundachtzig Jahre gebracht. So war nun einer nach dem anderen von ihren alten Weggefährten gegangen, nur Mariannes kleine Schwester Hildegard war noch übrig und eigentlich auch Elisabeth, aber die konnte man kaum dazu zählen, war sie doch längst beim Übergang in die andere Welt. Es war nicht schön, am Ende übrig zu bleiben, nur noch umgeben von Jüngeren, die sich gestört fühlten und ungeduldig darauf warteten, dass man endlich ging.
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Freitag, 25. August 2017
Ich hab' den Ausbau nicht gewollt - 1. und 2. Kapitel aus dem gleichnamigen Roman von Cristina Fabry
c. fabry, 00:02h
Prolog – Dezember 2016
Sie wunderte sich nicht, als nach einmaligem Klingeln niemand öffnete. Sicher hatte er wieder nichts gehört und aufgeregt war er bestimmt auch, war ja kein leichter Gang für ihn heute. Glücklicherweise hatte sie ihren eigenen Haustürschlüssel dabei; sie hatte ihn am Ende doch überreden können, ihr einen zu überlassen, falls einmal ein Notfall eintreten sollte. Jetzt beschwerte er sich dauernd, wenn sie einfach aufschloss, weil sie nicht die Geduld und die Nerven hatte, fünfmal zu klingeln, bevor er sich bequemte, endlich zur Haustür zu schlurfen.
Alles war in Ordnung. Die Zeitung und die Post hatte er schon herein geholt, vermutlich hielt er gerade sein Mittagsschläfchen. Sie steuerte direkt auf sein Schlafzimmer zu. Das Zimmer war leer und dem Bett sah man an, dass er es soeben verlassen hatte. Dann war er wohl schon im Bad, aber auch hier rührte sich nichts. Sie zuckte mit den Schultern und öffnete die Wohnzimmertür. Er lag vor dem offenen Kaminofen. Neben sich einen Stapel mit Zeitungen und einen Stapel mit Prospekten. Ein Feuer hatte bei offener Tür im Ofen gebrannt, war aber mittlerweile erloschen. Sie beugte sich zu ihm herab, um ihn anzusprechen. Als sie ihn berührte, merkte sie, dass er sich ganz kalt und starr anfühlte, offensichtlich war er schon vor Stunden gestorben. Etwas von dem Papier, das er zum Anzünden benutzt hatte, war wieder aus dem Ofen herausgefallen. Er hatte es wohl ausgetreten, bevor er gestürzt war, unter seinem Hausschuh war es ganz schwarz und die Asche um das Papier war zerstoben. Auf den übriggebliebenen Fetzen konnte sie eine Frauenhandschrift entziffern. War das etwa ein Liebesbrief? Sie nahm das fast verbrannte Papier in die Hand und entzifferte „lauwarmem Wasser“, „Tageslicht“ und „Heizung auf der Fensterbank“. Ach nein, da ging es wohl eher um die Anleitung zur Anzucht von Gemüse oder Blumen für die Rabatten. Sie warf den Zettel zurück in den Ofen – beim nächsten Beheizen würde er endgültig verbrennen. Sie ging zum Telefon und rief als erstes den Hausarzt an. Danach das Bestattungsunternehmen.
ERSTER TEIL
Häger Zentrum – Sonntag, 11. September 2016
Pünktlich um 09.50 Uhr rief die Glocke zum Gebet, sehr zum Ärgernis der benachbarten Jugendlichen, sowie der Gruppe gereifter Mittelalter, die aber nach eigener Einschätzung noch voll im Saft standen. Sie hatten Freitag und Samstag im Festzelt die Nacht zum Tag gemacht; freitags mit hipper Bravo-Hits-Disco bei Bier, Cola und Alkopops, samstags mit dem Besten aus den sechziger, siebziger, achtziger und neunziger Jahren und gelegentlichen Hits von heute. Das Alkoholsortiment war mit Cocktail- und Sektbar erheblich umfangreicher, die Anzahl der Schnapsleichen von vergleichbarer Anzahl. Wenigstens war ihnen ein nächtlicher Naziüberfall erspart geblieben; der letzte lag etwa zehn Jahre zurück, denn zum Glück war die Clique der Ewiggestrigen beziehungsweise frustriert Gewaltbereiten mit extrem begrenztem Horizont, die im Nachbardorf Schröttinghausen ihr Hauptquartier bezogen hatten, mittlerweile zu Verstand gekommen oder weggezogen oder eingeschüchtert oder hatten einfach die Lust an der Randale verloren, weil sie in die Jahre gekommen waren. Glücklicherweise hatten sie keinen Nachwuchs herangezogen.
Jetzt waren die Kirchenbänke locker gefüllt – Weihnachten war es dreimal so voll – um das traditionelle Dorfgemeinschaftsfest, das beim letzten Mal einem sichtlich gescheiterten Reformationsversuch zum Opfer gefallen war, mit einem Gottesdienst zu eröffnen. Anschließend boten Hühnersuppe und Grillwurst eine adäquate Grundlage für den Frühschoppen. Im Festzelt traten der Posaunenchor, die Feuerwehrkapelle sowie ein eigens für das Dorfgemeinschaftsfest und das in Kürze folgende Gemeindefest gegründeter Projektchor auf, um die Anwesenden mit einem abwechslungsreichen Bühnenprogramm bei Laune zu halten. Einige Bewohner des Übergangswohnheims für Geflüchtete, die man überredet hatte, den Festgottesdienst zu besuchen, saßen nun pflichtschuldig vor einem Teller Hühnersuppe und ertrugen höflich lächelnd die gut gemeinten musikalischen Darbietungen. Wenigstens die Kinder hatten Spaß daran, um das Zelt herum Verstecken zu spielen oder sich auf der bereit gestellten Hüpfburg zu vergnügen.
Um 14.00 Uhr lebte eine weitere lieb gewonnene Tradition wieder auf: Der Festumzug. Dort präsentierten sich Vereine und Initiativen mit phantasievoll dekorierten Wagen, die von Traktoren gezogen alle dicht besiedelten Straßen diesseits und jenseits der Landstraße entlang rollten und von deren Plattformen wie im Kölner Karneval Bonbons in die Menge geworfen und begeistert von den Kindern aufgesammelt wurden.
Da gab es zum Beispiel den Heimatverein mit einem Wagen, der geschmückt war wie eine von Landfrauen gefertigte Erntekrone: Bögen aus geflochtenem Stroh, mit Hasel- und Weidengerten verstärkt – und eingearbeitet in dieses Gesamtkunstwerk waren Sonnenblumen, Dahlien, Astern und Efeu. Führende Vereinsmitglieder nahmen huldvoll die Ehrbekundungen des Fußvolks entgegen wie Protokoll-geübte Angehörige des britischen Königshauses.
Die Landjugend hatte in der ihr eigenen, derb-humoristischen Kreativität Zweige wie sprießende Bäume an ihren Wagen gebunden, die sogar Früchte trugen, allerdings in Form winziger Schnapsfläschchen, deren beeindruckende Vielfalt ein schillernd buntes Bild abgab.
Die Feuerwehr hatte ihr Vehikel ganz in rotes Krepppapier eingekleidet, eine alte Holzleiter mit flatternden Bändern geschmückt und ein mobiles Blaulicht auf der Zugmaschine befestigt, einem winzigen, feuerroten Traktor aus den fünfziger Jahren. Den hatte der Trecker-Verein zur Verfügung gestellt und sich selbst mit einem noch älteren Modell in leuchtendem Blau, auf Hochglanz poliert eingereiht. Der Wagen selbst war mit einfachen Girlanden geschmückt, um der eigentlichen Attraktion nicht die Schau zu stehlen.
Sogar die örtliche Möbelmanufaktur war diesmal dabei und kutschierte eine gemütliche Sitzgruppe durchs Dorf wie ein Wohnzimmer auf Rädern. Sie warfen auch die edelste Bonbon-Mischung in die Menge, was die Kinder hingegen kaum zu würdigen wussten.
Die kleine, örtliche Künstlerkolonie hatte ein Maskottchen entwickelt, das sie in Übergröße und aus Pappmaschee durch den Ort zogen: Das Häger-Schweinchen. Dieses Schweinchen bezog sich auf den Slogan „Häger hat Schwein gehabt“, den sich die Dorfladen-Initiative auf die Fahne geschrieben hatte. Die engagierten Mitglieder des erst kürzlich gegründeten Vereins, der für eine fußläufig erreichbare Einkaufsmöglichkeit mit angeschlossenem Café-Betrieb gesorgt hatte, war vom ehrenamtlich aktiven Grafiker mit einem tollen, großflächigen Plakat versorgt worden, das nun in einem stabilen Holzrahmen auf dem bunt geschmückten Hänger die Straßen entlang glitt wie ein Segel auf glitzerndem Gewässer.
Der örtliche Fußballverein hatte seinen Wagen mit ausrangiertem Kunstrasen eingekleidet und die Flüchtlingsinitiative zog einen Bollerwagen mit einer riesigen Traube bunter Ballons durchs Dorf. Den Vogel aber hatte die Initiative der Windkraftgegner abgeschossen: Ein etwa 1,50 Meter hohes, funktionstüchtiges Windrad wurde ebenfalls auf einem Bollerwagen durch den Ort gezogen und bewies sogleich sein zerstörerisches Potential: Husemanns Hecke erhielt einen außerplanmäßigen Formschnitt, der für den rasenkantenreinen Vorzeigegartenbesitzer schlimmer war als Gänseblümchen im Verbundpflaster, so dass er es nicht mit einem Achselzucken abtun oder gar mit einem Augenzwinkern als Extrabonbon der Gartenbau-Avantgarde verkaufen konnte.
Das Schlusslicht bildete die Initiative „Unser Dorf hat Zukunft“ oder, wie sie sich selbst im Telegrammstil nannten die „Dorf-Ini“. Hier mischten all jene mit, die in den Vereinen mit ihren spezifischen Ausrichtungen nicht so recht Fuß fassen konnten, aber dennoch große Lust hatten, sich für ihr Dorf einzusetzen. Von den traditionellen, alteingesessenen Dorfbewohnern wurde die Gruppe allgemein belächelt, insbesondere ihr Wagen, der auf einen kleinen PKW-Anhänger montiert von einem Mittelklassewagen gezogen wurde. Ein Potpourri aus Blumenarrangements, selbst gemalten, abstrakten Bildern wie auf Leinwand gebannte Vollrausch-Visionen, Häkelblumen, einem bestrickten Wagenrad und einem bunten Vogelhäuschen, in dem einige Bücher steckten – eine Anspielung auf das Bücherhaus, in dem jeder unbürokratisch Bücher bringen oder mitnehmen durfte.
Es fehlte der CVJM, dessen Mitgliederzahl überschaubar war und dessen Ehrenamtliche lieber anderweitig beim Fest mitmischten, als den Verein zu repräsentieren, sowie die Landfrauen, die bereits hinter dem Kuchenbuffet schwitzten. Fabelhafte Meisterwerke ländlicher Konditorinnenkunst, unter denen sich die Bierzelt-Tischplatten bogen, warteten auf die gierigen Mäuler, die sie zu verschlingen gedachten. Der Umzug war noch nicht zu Ende, da standen bereits die ersten ungeduldigen Rentner mit gezückten Portemonnaies vor der Kuchenausgabe, wild entschlossen, sich nichts von den gelungensten Kreationen entgehen zu lassen: Friesentorte, Schwarzwälder Kirsch, Maracuja-Traum, Fanta-Torte, Kiwi-Banane, Frankfurter Kranz und so weiter und so fort.
„Oh, die Ruhe vor dem Sturm ist wohl vorbei.“, bemerkte Sigrid schmunzelnd.
„Das ist erst das Wetterleuchten.“, erwiderte Christiane. „In zehn Jahren steht Hildegard auch da, klappert mit dem Gebiss und rasselt mit dem Rollator. Eigentlich unfassbar, dass sie mit 86 immer noch auf dieser Seite der Theke steht.“
Hildegard war Sigrids Großmutter und setzte nun ihrerseits mit ihrer 68-jährigen Tochter Renate zur Nachlese des Gottesdienstes an.
„Was hat der Wellmann eigentlich heute Morgen auf der Kanzel für’n Tinnef erzählt? Dabei war das so ein schlichter Predigttext: Respekt vor dem Alter und sich gegenseitig mit Achtung begegnen und sich vor allem Gott unterordnen. Alle eure Sorge werft auf ihn, denn er sorgt für euch.“
„Dass du das noch so weißt. Ich glaube, ich habe gar nicht zugehört.“, sagte Renate.
„Ich lese vor dem Gottesdienst immer die Losungen und mache mir zum Predigttext schon mal meine eigenen Gedanken. 1. Petrus 5,5c-11 war das. War alles sonnenklar, aber der Wellmann, der da was vom Internet und Fernsehserien erzählte und denn noch vonne Moslems. Ich bin da gar nicht mehr durchgefunden.“, beklagte sich Hildegard.
„Ja ja.“, seufzte Renate. „Wenn das mit diesen Laienpredigern so weitergeht und die Pastöre dauernd Urlaub machen, braucht man bald nicht mehr hingehen.“
„Die Pastorin predigt aber auch so komisches Zeugs“, erklärte die Mutter. „Pastor Hahnemann, den hat man wenigstens noch verstanden.“
„Ach, Mama, vielleicht sind wir einfach schon zu alt, zumal du heute ja schon als Oma durchgehst, wenn der Hintern nicht mehr knackt, der Busen nicht mehr wippt und du nicht den ganzen Tag auf deinem neumodischen Handy rumwischt.“
„Ja, so sindse.“, erwiderte Hildegard. „Und immer mit Stöpsel inne Ohren. Die hören ja nichts mehr, wenn die sich den ganzen Tag dieses Presslufthammergetöse aufs Trommelfell pflanzen. Ich möcht‘ nicht wissen, wo das mal alles endet.“
Als der Umzug zu Ende war und damit das allgemeine Kaffeetrinken offiziell eröffnet wurde, war die Hälfte des Kuchenbuffets bereits vom aggressiven Rollator-Geschwader abgeräumt.
„Man könnte direkt gerontophob werden.“, zischte Sigrid, „wenn man nicht wüsste, dass man höchstwahrscheinlich mal genauso wird.“
„So nicht.“, widersprach Christiane. „Das sind die, die als Kinder immer den anderen die Ellenbogen in die Rippen gerammt haben, um als erste vorne zu stehen, die sich als Jugendliche gegenseitig die Liebsten ausgespannt haben, sich beim Spanien-Urlaub in den Siebzigern über die Scheiß Gastarbeiter aufgeregt haben, die nicht einmal Schnitzel braten und anständiges Bier zapfen können, die sich in der Schule über den Englischlehrer beschwert haben, weil ihre Kinder bei dem angeblich nicht genug lernen und so einen Wettbewerbsnachteil haben, die sich bei Silberhochzeiten als erste die Schüssel mit den Kroketten gekrallt und halb leer geräumt haben, obwohl sie für acht Leute reichen musste und die einem, als die noch’n Einkaufswagen schieben konnten, den an der Kasse immer in die Hacken gerammt haben. Das waren schon immer Kotzkannen, nur im Alter können sie es nicht mehr überspielen. Glaub mir, wir werden nicht so. Deine Mutter und deine Oma sind ja auch anders.“
„Dann sieh dir Sickendieks Luise an. Bis vor zwei Jahren war die noch ganz große Dame, immer ’n flotten Spruch auf der Lippe, aber auch für jeden was Nettes und Aufmunterndes. Und jetzt, wo sie nicht mehr kann, bleibt sie eben zu Hause oder schiebt ihren Rollator das kurze Stück bis zum Gemeindehaus. Aber so eine würdelose Nummer wie diese Aasgeier würde sie sich nie erlauben.
„Ja, da hast du Recht. Und Luise ist immerhin auch schon zwei-und-neunzig. Ihren Neunzigsten hat sie noch im großen Stil im Gasthof gefeiert. Beim Sektempfang stand sie wie ‘ne Eins und hat Hände geschüttelt wie die Königin von England.“
Ein gutaussehender, rothaariger Mittvierziger mit Millionen von Sommersprossen im Gesicht trat an die Torten dealenden Landfrauen heran.
„Gibt's noch Himbeer-Papagallo-Massakerpone oder ist die schon ausverkauft?“
„Hallo Volker.“, begrüßte Christiane den örtlichen Malermeister. „Sahne- und Cremetörtchen sind schon in den faltigen Mägen mit noch funktionierenden Bauchspeicheldrüsen gelandet. Diabetiker-Zitronenrolle ist auch schon aus. Es gibt noch Obsttorten und trockenen Kuchen.“
„Auch keine Sahne mehr aus'm Siphon?“
„Doch, die haben wir noch.“
„Na dann immer her damit. So wie das hier läuft, könntet ihr eure Torten auch Mittwochs nachmittags im Dorfladen anbieten, die wären bestimmt auch immer ratzeputz alle.“
„Ja, aber wer hat schon Zeit, jede Woche 'ne Torte zu zaubern, außer die Rentner von der Dorf-Ini und die sind da, glaube ich, alle zu faul für.“
„Stimmt, die labern nur. Beim Laden machen die ja auch nicht richtig mit. Erwarten noch, dass man vor Dankbarkeit auf die Knie fällt, wenn sie Samstags mal drei Brötchen kaufen.“
„Aber sie haben viele neue Ideen.“, mischte Sigrid sich ein. „Klar, wenn sich welche 'Unser Dorf hat Zukunft' nennen, denkt man vielleicht, dass die was tun, um die örtlichen Unternehmen zu stützen, wieder 'ne Post- und 'ne Sparkassenfiliale ins Dorf zu holen, das Vereinsleben zu fördern, vielleicht auch mal 'ne Theateraufführung oder ein Konzert veransstalten und nicht nur mit Geranien bepflanzte Riesenkübel auf den Verkehrsinseln aufstellen. Aber das Bücherhaus war doch 'ne super Nummer.“
„Ich lese nicht.“, antwortete Volker knapp, bedankte sich für den Kuchen und nahm auf einem freien Stuhl Platz.
Das Bücherhaus, von dem sie gesprochen hatten, war eine Luxusversion der allseits bekannten Bücherkisten, in denen man ausgelesene Bücher spenden, und solche, die man dort findet, einfach mitnehmen kann. Diese Variante hingegen war begehbar, etwa sechs Quadratmeter groß – ein Ziegelbau aus alten Steinen mit Spitzdach und ebenso alten Dachziegeln. In der Giebelwand gegenüber der Tür war ein entzückendes Bleiglasfenster eingemauert. An den Wänden rechts und links waren die Regale gefüllt mit historischen Beständen aus den Bertelsmann-Clubs der Sechziger und Siebziger Jahre, etlichen ausgelesenen Taschenbüchern, aber auch skurrilen Einzelstücken und echten Schätzchen. In der unmittelbaren Nachbarschaft regte sich jedoch Ärger, weil regelmäßig ein Fahrzeug mit Osnabrücker Kennzeichen hier vorfuhr und kistenweise Bücher abtransportierte, um sie offensichtlich dem eigenen, kommerziellen Antiquariat zuzuführen. Einige Jugendliche vom CVJM, die dies auch schon mit großem Missbehagen beobachtet hatten, schmiedeten bereits Pläne, wie sie dem räuberischen Pärchen in die Suppe spucken konnten.
„Vorsicht!“, zischte Christiane plötzlich. „Meerschweinchenalarm auf zehn vor zwölf!“
Sigird blickte in die angegebene Richtung und brach augenblicklich in wildes Gekicher aus. „Wo war die denn beim Friseur?“
„Ich schätze auf You-tube-Hair-Colorations-Tutorial. Strähnchen nach Landfrauenart. Herzallerliebst.“
„Das Beste ist“, kicherte Sigrid, die sich noch immer nicht beruhigt hatte, „die Frisur rundet das Bild perfekt ab, denn im Gesicht sah Martina schon immer aus wie'n Meerschweinchen.“
„Das kann man so nicht sagen.“, widersprach Christiane. „Vor ihrer Zahnspange hatte sie eher was von 'nem Shetland-Pony.“
„Oh, Martina, kommst du auch noch?“, krähte eine hoch gewachsene Landwirtsgattin mit ausladendem Becken, überdimensinierter Oberweite und männlich-kantigen Geischtszügen; ein wandelnder Antagonismus.
„Ich konnte unsere Mutter nicht eher allein lassen.“, rechtfertigte sich die Angesprochene. „Die ist heute wieder ganz durcheinander, das wird von Tag zu Tag schlimmer. Wenn die Alten dement werden, muss man doller auf die aufpassen wie auf kleine Kinder.“
„Hätte Manni das nicht mal übernehmen können?“
„Nee, Manni musste ja im Zug mitmarschieren. Bei der Feuerwehr waren doch auch welche ausgefallen. Außerdem wird der da sowieso nicht mit fertig. Ist ja auch meine Mutter, aber auch wenn es seine wäre, könnte der das, glaube ich, nicht. Wie gut, dass seine Eltern schon tot sind.“
Die Bauersfrau schluckte heftig und war zu schockiert, um etwas zu erwidern.
„Hast du denn wenigstens noch 'ne schöne Torte mitgebracht?“
„Maulwurfskuchen.“ antwortete Martina.
„Meerschweinchentorte“, stieß Sigrid hervor und brach unter dem eigenen Gekicher fast zusammen.
„Oh, Sigrid.“, wandte Martina sich um, „heute mal ausnahmsweise manisch statt depressiv?“ Dabei grinste sie mit zur Schau gestellter Überlegenheit.
„Ich bezweifle, dass du überhaupt beurteilen kannst, wer oder was manisch-depressiv ist.“, schleuderte Christiane ihr entgegen. „So'n bisschen Küchenpsychologie aus der Tina reicht da wohl kaum aus. Komm, Sigrid, ich denke, unsere Hochleistungsmartina kann uns hinter der Theke würdig vertreten. Der schlimmste Ansturm ist ja jetzt vorbei, da können wir auch mal Kaffee trinken gehen.“
Sie fanden schließlich zwei freie Stühle mit ungehindertem Blick auf die Gruppe der Initiative „Unser Dorf hat Zukunft“, die sich zu Kaffee und Kuchen gemeinsam eingefunden hatte und gerade die Bürgermeisterin mit neuen, bahnbrechenden, innovativen Ideen bestürmten.
„Da ist Martina aber sicher traurig“, überlegte Sigrid, „dass sie bei diesem wichtigen Termin nicht dabei sein kann und stattdessen zum Kaffee- und Kuchenschubsen verdammt ist.“
„Gut für die Dorf-Ini.“, erwiderte Christiane. „Sie würde das Bildungsniveau direkt um 20 Prozent senken.“
„Ja, aber was nützt die beste Bildung, wenn Intelligenz und Charakter so hinterher hinken?“, entgegnete Sigrid. „Guck dir nur mal das Duckface von Irmtraut an. Eine Verzweifelte, die versucht mit Brachialgewalt im letzten Drittel alles aus ihrem Leben rauszuholen, was sie in den ersten beiden Dritteln verpasst hat. In zwanzig Jahren schiebt die auch um viertel nach zwei mit dem Rollator an die Kuchentheke und fordert vier Stückchen Sahnetorte, aber sofort.“
„Ja, genau.“, kicherte Christiane. „Himbeer-Papagallo-Massakerpone mit doppelt Käse.“
„Volker hat schon Recht.“, meinte Sigrid. „Nur Labertaschen, diese Initiative.“
„Ach komm, Grankemeiers machen doch auch mit und die sind jawohl das genaue Gegenteil von Labertaschen, die packen überall mit an.“, erklärte Christiane.
„Ja, Grankemeiers sind ja nun auch überall dabei.“
„Aber sie sind nicht in der Frauenhilfe. Außerdem kann ich es den beiden nicht verübeln. Die haben noch echt Pfeffer im Hintern und in Häger passiert ja nichts, da muss man sich eben beschäftigen.“
„Ja, das stimmt.“, gab Sigrid Christiane Recht. „Hier passiert nichts. Hoffen wir, dass es auch so bleibt.“
Sie wunderte sich nicht, als nach einmaligem Klingeln niemand öffnete. Sicher hatte er wieder nichts gehört und aufgeregt war er bestimmt auch, war ja kein leichter Gang für ihn heute. Glücklicherweise hatte sie ihren eigenen Haustürschlüssel dabei; sie hatte ihn am Ende doch überreden können, ihr einen zu überlassen, falls einmal ein Notfall eintreten sollte. Jetzt beschwerte er sich dauernd, wenn sie einfach aufschloss, weil sie nicht die Geduld und die Nerven hatte, fünfmal zu klingeln, bevor er sich bequemte, endlich zur Haustür zu schlurfen.
Alles war in Ordnung. Die Zeitung und die Post hatte er schon herein geholt, vermutlich hielt er gerade sein Mittagsschläfchen. Sie steuerte direkt auf sein Schlafzimmer zu. Das Zimmer war leer und dem Bett sah man an, dass er es soeben verlassen hatte. Dann war er wohl schon im Bad, aber auch hier rührte sich nichts. Sie zuckte mit den Schultern und öffnete die Wohnzimmertür. Er lag vor dem offenen Kaminofen. Neben sich einen Stapel mit Zeitungen und einen Stapel mit Prospekten. Ein Feuer hatte bei offener Tür im Ofen gebrannt, war aber mittlerweile erloschen. Sie beugte sich zu ihm herab, um ihn anzusprechen. Als sie ihn berührte, merkte sie, dass er sich ganz kalt und starr anfühlte, offensichtlich war er schon vor Stunden gestorben. Etwas von dem Papier, das er zum Anzünden benutzt hatte, war wieder aus dem Ofen herausgefallen. Er hatte es wohl ausgetreten, bevor er gestürzt war, unter seinem Hausschuh war es ganz schwarz und die Asche um das Papier war zerstoben. Auf den übriggebliebenen Fetzen konnte sie eine Frauenhandschrift entziffern. War das etwa ein Liebesbrief? Sie nahm das fast verbrannte Papier in die Hand und entzifferte „lauwarmem Wasser“, „Tageslicht“ und „Heizung auf der Fensterbank“. Ach nein, da ging es wohl eher um die Anleitung zur Anzucht von Gemüse oder Blumen für die Rabatten. Sie warf den Zettel zurück in den Ofen – beim nächsten Beheizen würde er endgültig verbrennen. Sie ging zum Telefon und rief als erstes den Hausarzt an. Danach das Bestattungsunternehmen.
ERSTER TEIL
Häger Zentrum – Sonntag, 11. September 2016
Pünktlich um 09.50 Uhr rief die Glocke zum Gebet, sehr zum Ärgernis der benachbarten Jugendlichen, sowie der Gruppe gereifter Mittelalter, die aber nach eigener Einschätzung noch voll im Saft standen. Sie hatten Freitag und Samstag im Festzelt die Nacht zum Tag gemacht; freitags mit hipper Bravo-Hits-Disco bei Bier, Cola und Alkopops, samstags mit dem Besten aus den sechziger, siebziger, achtziger und neunziger Jahren und gelegentlichen Hits von heute. Das Alkoholsortiment war mit Cocktail- und Sektbar erheblich umfangreicher, die Anzahl der Schnapsleichen von vergleichbarer Anzahl. Wenigstens war ihnen ein nächtlicher Naziüberfall erspart geblieben; der letzte lag etwa zehn Jahre zurück, denn zum Glück war die Clique der Ewiggestrigen beziehungsweise frustriert Gewaltbereiten mit extrem begrenztem Horizont, die im Nachbardorf Schröttinghausen ihr Hauptquartier bezogen hatten, mittlerweile zu Verstand gekommen oder weggezogen oder eingeschüchtert oder hatten einfach die Lust an der Randale verloren, weil sie in die Jahre gekommen waren. Glücklicherweise hatten sie keinen Nachwuchs herangezogen.
Jetzt waren die Kirchenbänke locker gefüllt – Weihnachten war es dreimal so voll – um das traditionelle Dorfgemeinschaftsfest, das beim letzten Mal einem sichtlich gescheiterten Reformationsversuch zum Opfer gefallen war, mit einem Gottesdienst zu eröffnen. Anschließend boten Hühnersuppe und Grillwurst eine adäquate Grundlage für den Frühschoppen. Im Festzelt traten der Posaunenchor, die Feuerwehrkapelle sowie ein eigens für das Dorfgemeinschaftsfest und das in Kürze folgende Gemeindefest gegründeter Projektchor auf, um die Anwesenden mit einem abwechslungsreichen Bühnenprogramm bei Laune zu halten. Einige Bewohner des Übergangswohnheims für Geflüchtete, die man überredet hatte, den Festgottesdienst zu besuchen, saßen nun pflichtschuldig vor einem Teller Hühnersuppe und ertrugen höflich lächelnd die gut gemeinten musikalischen Darbietungen. Wenigstens die Kinder hatten Spaß daran, um das Zelt herum Verstecken zu spielen oder sich auf der bereit gestellten Hüpfburg zu vergnügen.
Um 14.00 Uhr lebte eine weitere lieb gewonnene Tradition wieder auf: Der Festumzug. Dort präsentierten sich Vereine und Initiativen mit phantasievoll dekorierten Wagen, die von Traktoren gezogen alle dicht besiedelten Straßen diesseits und jenseits der Landstraße entlang rollten und von deren Plattformen wie im Kölner Karneval Bonbons in die Menge geworfen und begeistert von den Kindern aufgesammelt wurden.
Da gab es zum Beispiel den Heimatverein mit einem Wagen, der geschmückt war wie eine von Landfrauen gefertigte Erntekrone: Bögen aus geflochtenem Stroh, mit Hasel- und Weidengerten verstärkt – und eingearbeitet in dieses Gesamtkunstwerk waren Sonnenblumen, Dahlien, Astern und Efeu. Führende Vereinsmitglieder nahmen huldvoll die Ehrbekundungen des Fußvolks entgegen wie Protokoll-geübte Angehörige des britischen Königshauses.
Die Landjugend hatte in der ihr eigenen, derb-humoristischen Kreativität Zweige wie sprießende Bäume an ihren Wagen gebunden, die sogar Früchte trugen, allerdings in Form winziger Schnapsfläschchen, deren beeindruckende Vielfalt ein schillernd buntes Bild abgab.
Die Feuerwehr hatte ihr Vehikel ganz in rotes Krepppapier eingekleidet, eine alte Holzleiter mit flatternden Bändern geschmückt und ein mobiles Blaulicht auf der Zugmaschine befestigt, einem winzigen, feuerroten Traktor aus den fünfziger Jahren. Den hatte der Trecker-Verein zur Verfügung gestellt und sich selbst mit einem noch älteren Modell in leuchtendem Blau, auf Hochglanz poliert eingereiht. Der Wagen selbst war mit einfachen Girlanden geschmückt, um der eigentlichen Attraktion nicht die Schau zu stehlen.
Sogar die örtliche Möbelmanufaktur war diesmal dabei und kutschierte eine gemütliche Sitzgruppe durchs Dorf wie ein Wohnzimmer auf Rädern. Sie warfen auch die edelste Bonbon-Mischung in die Menge, was die Kinder hingegen kaum zu würdigen wussten.
Die kleine, örtliche Künstlerkolonie hatte ein Maskottchen entwickelt, das sie in Übergröße und aus Pappmaschee durch den Ort zogen: Das Häger-Schweinchen. Dieses Schweinchen bezog sich auf den Slogan „Häger hat Schwein gehabt“, den sich die Dorfladen-Initiative auf die Fahne geschrieben hatte. Die engagierten Mitglieder des erst kürzlich gegründeten Vereins, der für eine fußläufig erreichbare Einkaufsmöglichkeit mit angeschlossenem Café-Betrieb gesorgt hatte, war vom ehrenamtlich aktiven Grafiker mit einem tollen, großflächigen Plakat versorgt worden, das nun in einem stabilen Holzrahmen auf dem bunt geschmückten Hänger die Straßen entlang glitt wie ein Segel auf glitzerndem Gewässer.
Der örtliche Fußballverein hatte seinen Wagen mit ausrangiertem Kunstrasen eingekleidet und die Flüchtlingsinitiative zog einen Bollerwagen mit einer riesigen Traube bunter Ballons durchs Dorf. Den Vogel aber hatte die Initiative der Windkraftgegner abgeschossen: Ein etwa 1,50 Meter hohes, funktionstüchtiges Windrad wurde ebenfalls auf einem Bollerwagen durch den Ort gezogen und bewies sogleich sein zerstörerisches Potential: Husemanns Hecke erhielt einen außerplanmäßigen Formschnitt, der für den rasenkantenreinen Vorzeigegartenbesitzer schlimmer war als Gänseblümchen im Verbundpflaster, so dass er es nicht mit einem Achselzucken abtun oder gar mit einem Augenzwinkern als Extrabonbon der Gartenbau-Avantgarde verkaufen konnte.
Das Schlusslicht bildete die Initiative „Unser Dorf hat Zukunft“ oder, wie sie sich selbst im Telegrammstil nannten die „Dorf-Ini“. Hier mischten all jene mit, die in den Vereinen mit ihren spezifischen Ausrichtungen nicht so recht Fuß fassen konnten, aber dennoch große Lust hatten, sich für ihr Dorf einzusetzen. Von den traditionellen, alteingesessenen Dorfbewohnern wurde die Gruppe allgemein belächelt, insbesondere ihr Wagen, der auf einen kleinen PKW-Anhänger montiert von einem Mittelklassewagen gezogen wurde. Ein Potpourri aus Blumenarrangements, selbst gemalten, abstrakten Bildern wie auf Leinwand gebannte Vollrausch-Visionen, Häkelblumen, einem bestrickten Wagenrad und einem bunten Vogelhäuschen, in dem einige Bücher steckten – eine Anspielung auf das Bücherhaus, in dem jeder unbürokratisch Bücher bringen oder mitnehmen durfte.
Es fehlte der CVJM, dessen Mitgliederzahl überschaubar war und dessen Ehrenamtliche lieber anderweitig beim Fest mitmischten, als den Verein zu repräsentieren, sowie die Landfrauen, die bereits hinter dem Kuchenbuffet schwitzten. Fabelhafte Meisterwerke ländlicher Konditorinnenkunst, unter denen sich die Bierzelt-Tischplatten bogen, warteten auf die gierigen Mäuler, die sie zu verschlingen gedachten. Der Umzug war noch nicht zu Ende, da standen bereits die ersten ungeduldigen Rentner mit gezückten Portemonnaies vor der Kuchenausgabe, wild entschlossen, sich nichts von den gelungensten Kreationen entgehen zu lassen: Friesentorte, Schwarzwälder Kirsch, Maracuja-Traum, Fanta-Torte, Kiwi-Banane, Frankfurter Kranz und so weiter und so fort.
„Oh, die Ruhe vor dem Sturm ist wohl vorbei.“, bemerkte Sigrid schmunzelnd.
„Das ist erst das Wetterleuchten.“, erwiderte Christiane. „In zehn Jahren steht Hildegard auch da, klappert mit dem Gebiss und rasselt mit dem Rollator. Eigentlich unfassbar, dass sie mit 86 immer noch auf dieser Seite der Theke steht.“
Hildegard war Sigrids Großmutter und setzte nun ihrerseits mit ihrer 68-jährigen Tochter Renate zur Nachlese des Gottesdienstes an.
„Was hat der Wellmann eigentlich heute Morgen auf der Kanzel für’n Tinnef erzählt? Dabei war das so ein schlichter Predigttext: Respekt vor dem Alter und sich gegenseitig mit Achtung begegnen und sich vor allem Gott unterordnen. Alle eure Sorge werft auf ihn, denn er sorgt für euch.“
„Dass du das noch so weißt. Ich glaube, ich habe gar nicht zugehört.“, sagte Renate.
„Ich lese vor dem Gottesdienst immer die Losungen und mache mir zum Predigttext schon mal meine eigenen Gedanken. 1. Petrus 5,5c-11 war das. War alles sonnenklar, aber der Wellmann, der da was vom Internet und Fernsehserien erzählte und denn noch vonne Moslems. Ich bin da gar nicht mehr durchgefunden.“, beklagte sich Hildegard.
„Ja ja.“, seufzte Renate. „Wenn das mit diesen Laienpredigern so weitergeht und die Pastöre dauernd Urlaub machen, braucht man bald nicht mehr hingehen.“
„Die Pastorin predigt aber auch so komisches Zeugs“, erklärte die Mutter. „Pastor Hahnemann, den hat man wenigstens noch verstanden.“
„Ach, Mama, vielleicht sind wir einfach schon zu alt, zumal du heute ja schon als Oma durchgehst, wenn der Hintern nicht mehr knackt, der Busen nicht mehr wippt und du nicht den ganzen Tag auf deinem neumodischen Handy rumwischt.“
„Ja, so sindse.“, erwiderte Hildegard. „Und immer mit Stöpsel inne Ohren. Die hören ja nichts mehr, wenn die sich den ganzen Tag dieses Presslufthammergetöse aufs Trommelfell pflanzen. Ich möcht‘ nicht wissen, wo das mal alles endet.“
Als der Umzug zu Ende war und damit das allgemeine Kaffeetrinken offiziell eröffnet wurde, war die Hälfte des Kuchenbuffets bereits vom aggressiven Rollator-Geschwader abgeräumt.
„Man könnte direkt gerontophob werden.“, zischte Sigrid, „wenn man nicht wüsste, dass man höchstwahrscheinlich mal genauso wird.“
„So nicht.“, widersprach Christiane. „Das sind die, die als Kinder immer den anderen die Ellenbogen in die Rippen gerammt haben, um als erste vorne zu stehen, die sich als Jugendliche gegenseitig die Liebsten ausgespannt haben, sich beim Spanien-Urlaub in den Siebzigern über die Scheiß Gastarbeiter aufgeregt haben, die nicht einmal Schnitzel braten und anständiges Bier zapfen können, die sich in der Schule über den Englischlehrer beschwert haben, weil ihre Kinder bei dem angeblich nicht genug lernen und so einen Wettbewerbsnachteil haben, die sich bei Silberhochzeiten als erste die Schüssel mit den Kroketten gekrallt und halb leer geräumt haben, obwohl sie für acht Leute reichen musste und die einem, als die noch’n Einkaufswagen schieben konnten, den an der Kasse immer in die Hacken gerammt haben. Das waren schon immer Kotzkannen, nur im Alter können sie es nicht mehr überspielen. Glaub mir, wir werden nicht so. Deine Mutter und deine Oma sind ja auch anders.“
„Dann sieh dir Sickendieks Luise an. Bis vor zwei Jahren war die noch ganz große Dame, immer ’n flotten Spruch auf der Lippe, aber auch für jeden was Nettes und Aufmunterndes. Und jetzt, wo sie nicht mehr kann, bleibt sie eben zu Hause oder schiebt ihren Rollator das kurze Stück bis zum Gemeindehaus. Aber so eine würdelose Nummer wie diese Aasgeier würde sie sich nie erlauben.
„Ja, da hast du Recht. Und Luise ist immerhin auch schon zwei-und-neunzig. Ihren Neunzigsten hat sie noch im großen Stil im Gasthof gefeiert. Beim Sektempfang stand sie wie ‘ne Eins und hat Hände geschüttelt wie die Königin von England.“
Ein gutaussehender, rothaariger Mittvierziger mit Millionen von Sommersprossen im Gesicht trat an die Torten dealenden Landfrauen heran.
„Gibt's noch Himbeer-Papagallo-Massakerpone oder ist die schon ausverkauft?“
„Hallo Volker.“, begrüßte Christiane den örtlichen Malermeister. „Sahne- und Cremetörtchen sind schon in den faltigen Mägen mit noch funktionierenden Bauchspeicheldrüsen gelandet. Diabetiker-Zitronenrolle ist auch schon aus. Es gibt noch Obsttorten und trockenen Kuchen.“
„Auch keine Sahne mehr aus'm Siphon?“
„Doch, die haben wir noch.“
„Na dann immer her damit. So wie das hier läuft, könntet ihr eure Torten auch Mittwochs nachmittags im Dorfladen anbieten, die wären bestimmt auch immer ratzeputz alle.“
„Ja, aber wer hat schon Zeit, jede Woche 'ne Torte zu zaubern, außer die Rentner von der Dorf-Ini und die sind da, glaube ich, alle zu faul für.“
„Stimmt, die labern nur. Beim Laden machen die ja auch nicht richtig mit. Erwarten noch, dass man vor Dankbarkeit auf die Knie fällt, wenn sie Samstags mal drei Brötchen kaufen.“
„Aber sie haben viele neue Ideen.“, mischte Sigrid sich ein. „Klar, wenn sich welche 'Unser Dorf hat Zukunft' nennen, denkt man vielleicht, dass die was tun, um die örtlichen Unternehmen zu stützen, wieder 'ne Post- und 'ne Sparkassenfiliale ins Dorf zu holen, das Vereinsleben zu fördern, vielleicht auch mal 'ne Theateraufführung oder ein Konzert veransstalten und nicht nur mit Geranien bepflanzte Riesenkübel auf den Verkehrsinseln aufstellen. Aber das Bücherhaus war doch 'ne super Nummer.“
„Ich lese nicht.“, antwortete Volker knapp, bedankte sich für den Kuchen und nahm auf einem freien Stuhl Platz.
Das Bücherhaus, von dem sie gesprochen hatten, war eine Luxusversion der allseits bekannten Bücherkisten, in denen man ausgelesene Bücher spenden, und solche, die man dort findet, einfach mitnehmen kann. Diese Variante hingegen war begehbar, etwa sechs Quadratmeter groß – ein Ziegelbau aus alten Steinen mit Spitzdach und ebenso alten Dachziegeln. In der Giebelwand gegenüber der Tür war ein entzückendes Bleiglasfenster eingemauert. An den Wänden rechts und links waren die Regale gefüllt mit historischen Beständen aus den Bertelsmann-Clubs der Sechziger und Siebziger Jahre, etlichen ausgelesenen Taschenbüchern, aber auch skurrilen Einzelstücken und echten Schätzchen. In der unmittelbaren Nachbarschaft regte sich jedoch Ärger, weil regelmäßig ein Fahrzeug mit Osnabrücker Kennzeichen hier vorfuhr und kistenweise Bücher abtransportierte, um sie offensichtlich dem eigenen, kommerziellen Antiquariat zuzuführen. Einige Jugendliche vom CVJM, die dies auch schon mit großem Missbehagen beobachtet hatten, schmiedeten bereits Pläne, wie sie dem räuberischen Pärchen in die Suppe spucken konnten.
„Vorsicht!“, zischte Christiane plötzlich. „Meerschweinchenalarm auf zehn vor zwölf!“
Sigird blickte in die angegebene Richtung und brach augenblicklich in wildes Gekicher aus. „Wo war die denn beim Friseur?“
„Ich schätze auf You-tube-Hair-Colorations-Tutorial. Strähnchen nach Landfrauenart. Herzallerliebst.“
„Das Beste ist“, kicherte Sigrid, die sich noch immer nicht beruhigt hatte, „die Frisur rundet das Bild perfekt ab, denn im Gesicht sah Martina schon immer aus wie'n Meerschweinchen.“
„Das kann man so nicht sagen.“, widersprach Christiane. „Vor ihrer Zahnspange hatte sie eher was von 'nem Shetland-Pony.“
„Oh, Martina, kommst du auch noch?“, krähte eine hoch gewachsene Landwirtsgattin mit ausladendem Becken, überdimensinierter Oberweite und männlich-kantigen Geischtszügen; ein wandelnder Antagonismus.
„Ich konnte unsere Mutter nicht eher allein lassen.“, rechtfertigte sich die Angesprochene. „Die ist heute wieder ganz durcheinander, das wird von Tag zu Tag schlimmer. Wenn die Alten dement werden, muss man doller auf die aufpassen wie auf kleine Kinder.“
„Hätte Manni das nicht mal übernehmen können?“
„Nee, Manni musste ja im Zug mitmarschieren. Bei der Feuerwehr waren doch auch welche ausgefallen. Außerdem wird der da sowieso nicht mit fertig. Ist ja auch meine Mutter, aber auch wenn es seine wäre, könnte der das, glaube ich, nicht. Wie gut, dass seine Eltern schon tot sind.“
Die Bauersfrau schluckte heftig und war zu schockiert, um etwas zu erwidern.
„Hast du denn wenigstens noch 'ne schöne Torte mitgebracht?“
„Maulwurfskuchen.“ antwortete Martina.
„Meerschweinchentorte“, stieß Sigrid hervor und brach unter dem eigenen Gekicher fast zusammen.
„Oh, Sigrid.“, wandte Martina sich um, „heute mal ausnahmsweise manisch statt depressiv?“ Dabei grinste sie mit zur Schau gestellter Überlegenheit.
„Ich bezweifle, dass du überhaupt beurteilen kannst, wer oder was manisch-depressiv ist.“, schleuderte Christiane ihr entgegen. „So'n bisschen Küchenpsychologie aus der Tina reicht da wohl kaum aus. Komm, Sigrid, ich denke, unsere Hochleistungsmartina kann uns hinter der Theke würdig vertreten. Der schlimmste Ansturm ist ja jetzt vorbei, da können wir auch mal Kaffee trinken gehen.“
Sie fanden schließlich zwei freie Stühle mit ungehindertem Blick auf die Gruppe der Initiative „Unser Dorf hat Zukunft“, die sich zu Kaffee und Kuchen gemeinsam eingefunden hatte und gerade die Bürgermeisterin mit neuen, bahnbrechenden, innovativen Ideen bestürmten.
„Da ist Martina aber sicher traurig“, überlegte Sigrid, „dass sie bei diesem wichtigen Termin nicht dabei sein kann und stattdessen zum Kaffee- und Kuchenschubsen verdammt ist.“
„Gut für die Dorf-Ini.“, erwiderte Christiane. „Sie würde das Bildungsniveau direkt um 20 Prozent senken.“
„Ja, aber was nützt die beste Bildung, wenn Intelligenz und Charakter so hinterher hinken?“, entgegnete Sigrid. „Guck dir nur mal das Duckface von Irmtraut an. Eine Verzweifelte, die versucht mit Brachialgewalt im letzten Drittel alles aus ihrem Leben rauszuholen, was sie in den ersten beiden Dritteln verpasst hat. In zwanzig Jahren schiebt die auch um viertel nach zwei mit dem Rollator an die Kuchentheke und fordert vier Stückchen Sahnetorte, aber sofort.“
„Ja, genau.“, kicherte Christiane. „Himbeer-Papagallo-Massakerpone mit doppelt Käse.“
„Volker hat schon Recht.“, meinte Sigrid. „Nur Labertaschen, diese Initiative.“
„Ach komm, Grankemeiers machen doch auch mit und die sind jawohl das genaue Gegenteil von Labertaschen, die packen überall mit an.“, erklärte Christiane.
„Ja, Grankemeiers sind ja nun auch überall dabei.“
„Aber sie sind nicht in der Frauenhilfe. Außerdem kann ich es den beiden nicht verübeln. Die haben noch echt Pfeffer im Hintern und in Häger passiert ja nichts, da muss man sich eben beschäftigen.“
„Ja, das stimmt.“, gab Sigrid Christiane Recht. „Hier passiert nichts. Hoffen wir, dass es auch so bleibt.“
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Samstag, 19. August 2017
Abraham ist schuld – vierteiliger Kurzkrimi – Teil IV
c. fabry, 00:29h
Ein Jahr nachdem Hagar von ihrem Sohn getrennt worden war, bat sie Abraham, zu Ismael reisen zu dürfen, denn sie könne nicht von Isaak erwarten, dass er im Alter zwei Mütter versorge. Abraham ließ sie gewähren, gab ihr reichlich gefüllte Wasserschläuche, Trockenfleisch, ungesäuertes Brot und getrocknete Datteln mit und bat sie, Ismael seine wärmsten Grüße zu überbringen. Als Hagar nach mehreren Wochen den neuen Wohnsitz ihres Sohnes erreichte, hatte der dort bereits eine prachtvolle Oase aufgebaut, in der es sich trefflich leben ließ. Wenig später heiratete er und in den langen Nächten unter dem Sternenhimmel der arabischen Wüste erzählte er seine Geschichte und schloss mit den Worten: „...und dann hat mein Vater mich mit der ganzen Herde hier her gebracht und hier habe ich schließlich mein Glück gemacht.“
Als Ismaels Söhne und Töchter heranwuchsen, erzählte ihre Mutter ihnen: „Großvater Ibrahim hat seinen Sohn Ismail in die Wüste geschickt, weil der Bastard Isaak ihn sonst umgebracht hätte. Nur ein paar Tiere durfte er mitnehmen. Aber euer Vater ist klug, stark und mutig und hat eine Menge aus seinem Leben gemacht. Der Isaak, das verwöhnte Nesthäkchen, hat ihm seinen Platz gestohlen, aber er wohnt heute noch in einem Zelt und züchtet Schafe und Ziegen. Nie hat er sich für irgendetwas angestrengt.“ Nejabot, Kedar und Adbeel gehörten begeistert zu, aber die Tochter Mahalat hegte Zweifel an der Darstellung ihrer Mutter, von der sie sich stets wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt fühlte.
Auch Isaak fand seine Frau, Rebekka war ihr Name und der erzählte er: „Mein Halbbruder hat das ganze Vieh bekommen, ich musste ganz von vorn anfangen. Aber das Land, das, was wirklich zählt, das bewohnen wir und wir haben eine blühende Zukunft vor uns.“
Ihren Söhnen Jakob und Esau erzählte Rebekka: „Großvater Abraham hat Ismael, den Bastard, in die Wüste geschickt, aber er musste ihn abfinden. Ismael hat euren Vater immer gequält, darum musste er verschwinden. Seine Nachkommen sind unsere Feinde. Tut euch nicht mit denen zusammen. Jakob, der Jüngere, hing an den Lippen seiner Mutter. Esau, der Ältere ging bald seiner Wege, hatte nichts übrig für das Weibergewäsch und ging lieber jagen. Rebekkas und Isaaks Söhne entzweiten sich, aber sie vertrugen sich schließlich wieder. Und Esau heiratete Mahalat, die Tochter seines Halbonkels Ismael.
Ismaels Kinder erzählten seinen Enkeln: „Euer Großvater sollte geopfert werden. Das hatte Elohim so befohlen, aber er hat es sich anders überlegt und stattdessen ein Tier geopfert und dann ist er mit Ismael gen Osten gezogen und hat den heiligen Tempel wieder aufgebaut. Von Sarah und Isaak spricht heute niemand mehr.“
Isaaks Sohn Jakob erzählte seinen Enkeln: „Euer Urgroßvater sollte Isaak verbrennen, seinen einzigen wahren Sohn, denn den anderen, den Ismael, der nur das Kind einer Zofe war, den hatte er schon mitsamt seiner ägyptischen Mutter in die Wüste geschickt.“
So wurden Geschichte weitererzählt und schließlich aufgeschrieben und abgeschrieben und übersetzt. So vieles ging verloren, so vieles wurde dazu erfunden und zweitausend Jahre später streiten die vermeintlichen Erben um die Wahrheit, dabei weiß man nichts und wird auch nie wissen, nicht einmal, ob es wirklich wahr ist, dass Ismael nach Hebron reiste, als Abraham gestorben war, um ihn gemeinsam mit seinem Halbbruder Isaak an Sarahs Seite zu bestatten.
Kerime sah nichts als weiß. War sie auf dem Weg ins Paradies? Was würde sie dort erwarten? Worauf die Männer spekulierten, war ja hinlänglich bekannt, aber auf was durften die Frauen hoffen? Kerime sehnte sich nach Ruhe, Frieden, Licht, Wärme, Wohlgerüchen und warmen Farben. Gerade jetzt war es zwar ruhig und friedlich, aber ihr war kalt, es roch seltsam und unangenehm und es gab keine Farben, nur weiß. Sie spürte nach, ob sie noch einen Körper hatte. Doch da waren ihre Hände, sie konnte sie bewegen, auch die Füße. Sie spürte ihre Beine, ihre Hüften, den Rücken nur den Bauch konnte sie nicht so richtig fühlen. Oder doch? Sie wusste es nicht. Ob sie sich bewegen konnte? Sie ballte die Hände zu Fäusten. Sie wackelte mit den Zehen. Dann drehte sie den Kopf zur Seite. Was für ein Gestell war das denn? In ihrem Kopf arbeitete es, sie versuchte eine Verbindung herzustellen zwischen dem, was sie sah und dem, was sie bereits kannte. Ihr dämmerte allmählich, wo sie sich befand. Sie fuhr nicht auf ins Paradies, sie lag im Krankenhaus. Wie war sie hier hingekommen? Was war geschehen? Das letzte, an das sie sich erinnern konnte, war die Platte mit Dolma, die sie aufs Buffet gestellt hatte. Welches Buffet eigentlich? Ach ja richtig, Torgays Klassenfest. Sie erschrak. Tuncay, was war mit Tuncay? Sie versuchte, sich aufzurichten, aber ihre Bauchmuskeln gehorchten ihr nicht und da waren überall Schläuche. Sie sah wieder Jörn vor sich. Jörn mit dem Messer, der auf Tuncay losging. Sie musste wissen, was passiert war, doch schon verließen sie die Kräfte und sie sank zurück in die Dunkelheit.
Fünf Stunden später saßen Daniel und Tuncay gemeinsam an Kerimes Krankenbett und warteten ungeduldig darauf, dass sie erwachte. Sie hatte die Messerattacke nicht nur überlebt, sie war auch außer Gefahr, obschon die Klinge einige Organe verletzt hatte, aber die Operateure hatten die Blutung stillen können und die Wunden verschlossen. Tuncay wollte ihr dringend sagen, wie sehr er sie liebte, nicht nur, weil sie ihm das Leben gerettet hatte. Daniel brannte darauf, ihr mitzuteilen, dass Jörn bereits in Untersuchungshaft saß und dass die Chancen gut standen, dass der Staatsanwalt eine sehr lange Haftstrafe beantragen würde. So viele Zeugen hatten beobachtet, was geschehen war, er käme sicher nicht mit einem blauen Auge davon.
Tuncay hielt Kerimes Hand. Er fühlte sich schuldig. Hätte er sich nicht provozieren lassen, läge sie jetzt nicht hier. Wie hatte er es nur so weit kommen lassen können? Er wollte seine schöne Frau zurück haben, heil und gesund. Er weinte. „Und das alles wegen Ibrahim.“, schluchzte er.
„Ja.“, pflichtete Daniel ihm betroffen bei. „Abraham ist schuld.“
ENDE
Als Ismaels Söhne und Töchter heranwuchsen, erzählte ihre Mutter ihnen: „Großvater Ibrahim hat seinen Sohn Ismail in die Wüste geschickt, weil der Bastard Isaak ihn sonst umgebracht hätte. Nur ein paar Tiere durfte er mitnehmen. Aber euer Vater ist klug, stark und mutig und hat eine Menge aus seinem Leben gemacht. Der Isaak, das verwöhnte Nesthäkchen, hat ihm seinen Platz gestohlen, aber er wohnt heute noch in einem Zelt und züchtet Schafe und Ziegen. Nie hat er sich für irgendetwas angestrengt.“ Nejabot, Kedar und Adbeel gehörten begeistert zu, aber die Tochter Mahalat hegte Zweifel an der Darstellung ihrer Mutter, von der sie sich stets wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt fühlte.
Auch Isaak fand seine Frau, Rebekka war ihr Name und der erzählte er: „Mein Halbbruder hat das ganze Vieh bekommen, ich musste ganz von vorn anfangen. Aber das Land, das, was wirklich zählt, das bewohnen wir und wir haben eine blühende Zukunft vor uns.“
Ihren Söhnen Jakob und Esau erzählte Rebekka: „Großvater Abraham hat Ismael, den Bastard, in die Wüste geschickt, aber er musste ihn abfinden. Ismael hat euren Vater immer gequält, darum musste er verschwinden. Seine Nachkommen sind unsere Feinde. Tut euch nicht mit denen zusammen. Jakob, der Jüngere, hing an den Lippen seiner Mutter. Esau, der Ältere ging bald seiner Wege, hatte nichts übrig für das Weibergewäsch und ging lieber jagen. Rebekkas und Isaaks Söhne entzweiten sich, aber sie vertrugen sich schließlich wieder. Und Esau heiratete Mahalat, die Tochter seines Halbonkels Ismael.
Ismaels Kinder erzählten seinen Enkeln: „Euer Großvater sollte geopfert werden. Das hatte Elohim so befohlen, aber er hat es sich anders überlegt und stattdessen ein Tier geopfert und dann ist er mit Ismael gen Osten gezogen und hat den heiligen Tempel wieder aufgebaut. Von Sarah und Isaak spricht heute niemand mehr.“
Isaaks Sohn Jakob erzählte seinen Enkeln: „Euer Urgroßvater sollte Isaak verbrennen, seinen einzigen wahren Sohn, denn den anderen, den Ismael, der nur das Kind einer Zofe war, den hatte er schon mitsamt seiner ägyptischen Mutter in die Wüste geschickt.“
So wurden Geschichte weitererzählt und schließlich aufgeschrieben und abgeschrieben und übersetzt. So vieles ging verloren, so vieles wurde dazu erfunden und zweitausend Jahre später streiten die vermeintlichen Erben um die Wahrheit, dabei weiß man nichts und wird auch nie wissen, nicht einmal, ob es wirklich wahr ist, dass Ismael nach Hebron reiste, als Abraham gestorben war, um ihn gemeinsam mit seinem Halbbruder Isaak an Sarahs Seite zu bestatten.
Kerime sah nichts als weiß. War sie auf dem Weg ins Paradies? Was würde sie dort erwarten? Worauf die Männer spekulierten, war ja hinlänglich bekannt, aber auf was durften die Frauen hoffen? Kerime sehnte sich nach Ruhe, Frieden, Licht, Wärme, Wohlgerüchen und warmen Farben. Gerade jetzt war es zwar ruhig und friedlich, aber ihr war kalt, es roch seltsam und unangenehm und es gab keine Farben, nur weiß. Sie spürte nach, ob sie noch einen Körper hatte. Doch da waren ihre Hände, sie konnte sie bewegen, auch die Füße. Sie spürte ihre Beine, ihre Hüften, den Rücken nur den Bauch konnte sie nicht so richtig fühlen. Oder doch? Sie wusste es nicht. Ob sie sich bewegen konnte? Sie ballte die Hände zu Fäusten. Sie wackelte mit den Zehen. Dann drehte sie den Kopf zur Seite. Was für ein Gestell war das denn? In ihrem Kopf arbeitete es, sie versuchte eine Verbindung herzustellen zwischen dem, was sie sah und dem, was sie bereits kannte. Ihr dämmerte allmählich, wo sie sich befand. Sie fuhr nicht auf ins Paradies, sie lag im Krankenhaus. Wie war sie hier hingekommen? Was war geschehen? Das letzte, an das sie sich erinnern konnte, war die Platte mit Dolma, die sie aufs Buffet gestellt hatte. Welches Buffet eigentlich? Ach ja richtig, Torgays Klassenfest. Sie erschrak. Tuncay, was war mit Tuncay? Sie versuchte, sich aufzurichten, aber ihre Bauchmuskeln gehorchten ihr nicht und da waren überall Schläuche. Sie sah wieder Jörn vor sich. Jörn mit dem Messer, der auf Tuncay losging. Sie musste wissen, was passiert war, doch schon verließen sie die Kräfte und sie sank zurück in die Dunkelheit.
Fünf Stunden später saßen Daniel und Tuncay gemeinsam an Kerimes Krankenbett und warteten ungeduldig darauf, dass sie erwachte. Sie hatte die Messerattacke nicht nur überlebt, sie war auch außer Gefahr, obschon die Klinge einige Organe verletzt hatte, aber die Operateure hatten die Blutung stillen können und die Wunden verschlossen. Tuncay wollte ihr dringend sagen, wie sehr er sie liebte, nicht nur, weil sie ihm das Leben gerettet hatte. Daniel brannte darauf, ihr mitzuteilen, dass Jörn bereits in Untersuchungshaft saß und dass die Chancen gut standen, dass der Staatsanwalt eine sehr lange Haftstrafe beantragen würde. So viele Zeugen hatten beobachtet, was geschehen war, er käme sicher nicht mit einem blauen Auge davon.
Tuncay hielt Kerimes Hand. Er fühlte sich schuldig. Hätte er sich nicht provozieren lassen, läge sie jetzt nicht hier. Wie hatte er es nur so weit kommen lassen können? Er wollte seine schöne Frau zurück haben, heil und gesund. Er weinte. „Und das alles wegen Ibrahim.“, schluchzte er.
„Ja.“, pflichtete Daniel ihm betroffen bei. „Abraham ist schuld.“
ENDE
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