Sonntag, 27. August 2017
Kapitel 3 - "Ich hab' den Ausbau nicht gewollt"
Schröttinghausener Straße – Sonntag, 11. September 2016

Luise Sickendiek stand am Schlafzimmerfenster und ließ den Blick durch die feinen Organza-Stores über die Pferdeweide gleiten. Beim Blick aus dem Schlafzimmerfenster ihrer Kindheit hatte sie um diese Jahreszeit meistens auf unendlich weite Stoppelfelder geblickt. Gab es heute kaum noch. Wurde ja alles gleich gegrubbert. Damals hatten im Frühherbst am Samstag Abend ihre Brüder am Küchentisch gesessen und Drachen gebaut aus kerzengeraden Haselnussgerten, Packpapier und selbst angerührtem Leim aus Mehl und Wasser. Mit pedantischer Akribie hatten sie den Schwerpunkt ausgelotet und das Papier millimetergenau zugeschnitten. Sie hatte sich immer darüber lustig gemacht, weil ihr selbst ebenso wie ihrer kleinen Schwester dieses Vergnügen nie vergönnt gewesen war – der Samstag Abend war die Zeit zum Stricken, Nähen oder Stopfen. Ihre Großmutter hatte sich noch aufs Spinnen verstanden, ihre Mutter hatte das zwar auch gelernt, aber überhaupt keine Lust dazu gehabt – nur am Webstuhl, der in einer eigenen Stube stand, war sie eine wahre Künstlerin gewesen. Doch ihre Töchter hatte sie nicht an das wertvolle und empfindliche Werkzeug heran gelassen, und so hatten sie das Weben nie gelernt, und der Webstuhl hatte jahrelang herumgestanden, bis er schließlich so wurmstichig gewesen war, dass der Bruder, der den Hof geerbt hatte, ihn aufs Feuer geworfen hatte. Wer hätte das damals gedacht, als sie an kühlen Samstag Abenden ihre Drachen bauten, die sie am Sonntag auf dem Stoppelfeld steigen ließen und oft auch in der Woche, am Nachmittag, während Luise ein Stück weiter die Gänse hüten musste.

Luise seufzte. Wie lange hatte es zu Weihnachten schon keinen Gänsebraten mehr gegeben. Sie liebte ihn besonders, wenn die Gans mit Äpfeln und Walnüssen gefüllt war, aber Martina, ihre Tochter, meinte, Gänsebraten sei viel zu fettig, verursache nur Magenbeschwerden und außerdem habe sie keine Lust, stundenlang in der Küche zu stehen, um das Vieh vorzubereiten und dann noch einmal stundenlang im Fünfzehn-Minuten-Takt den Braten aus der Röhre zu ziehen und mit Fett zu begießen. Ach ja, Luise seufzte erneut, Martina hatte schon als Kind zu nichts richtig Lust gehabt.

Ihre Beine begannen, leicht zu zittern, ein deutlicher Hinweis, dass sie sich bald setzen musste. Langsam und bedächtig tippelte sie über den Hausflur auf die gegenüber liegende Seite des Hauses, wo ihr Wohnzimmer lag. Hier hatte sie ein Fenster, das zur Straße hinaus ging und davor stand ein bequemer Ohrensessel. Sie hatte schon in jüngeren Jahren gern von diesem Fenster aus die Straße beobachtet, aber selten genug die Zeit dazu gefunden. Das war nun eines der wenigen Privilegien, die ihr das Alter zu bieten hatte, wenn ihr schon ein Großteil der kulinarischen Hochgenüsse versagt blieb, nicht etwa, weil der Zustand ihrer Organe dies nicht gestattete, sondern weil ihre Tochter sich standhaft weigerte, sich Mühe zu geben. Überhaupt hatte sie sie einfach nicht so hinbekommen, wie sie es sich gewünscht hatte. Was hatte sie nicht alles für ihre Tochter getan, die es einmal besser haben sollte als sie selbst: Realschule und eine ordentliche Berufsausbildung, Klavierstunden, Tanzstunden und immerzu Kleidung in bester Qualität. Ein eigenes Zimmer, Bücher, einen Plattenspieler, Kindergeburtstage, Urlaubsreisen. Sie hatte die besten Voraussetzungen genossen, sich zu einem grazilen Schwan zu entwickeln und war nun doch eine tapsige, fette Ente geworden, dabei aber nicht so gutmütig, sondern zänkisch und bissig wie eine Gans. Am Vater konnte es nicht liegen, der war so schneidig gewesen, schlank, mit vollendeter Haltung und aparten, markanten Gesichtszügen. Wenn Martina keine Hausgeburt gewesen wäre, hätte sie sie für ein Wechselbalg gehalten.
Ach ja, ihr Ludwig, vielleicht hätte sie das Martyrium von Schwangerschaft und Geburt doch noch einmal auf sich nehmen sollen, dann wäre ihr mehr von ihm geblieben, als diese ewig übellaunige, unansehnliche Tochter. Aber das, was da zwischen den gestärkten Laken passieren musste, um guter Hoffnung zu werden, hatte sie unendlich abgestoßen. Warum nur alle so ein Gewese darum machten? Es war schmerzhaft und außerdem entwürdigend, wenn der sonst so elegante Mann schwitzend und keuchend auf ihr herumzappelte und dabei Grimassen zog, die sie an seinem Wohlbefinden zweifeln ließen. Es war ihm schwer gefallen, die meiste Zeit darauf zu verzichten, aber er hatte Rücksicht auf sie genommen und das hatte sie ihm hoch angerechnet. Doch dann war er viel zu früh gestorben, gerade mal siebzig war er gewesen. Jochen hatte länger durchgehalten, aber er war auch ein Hallodri gewesen, der seiner Frau viel Kummer bereitet hatte, wenn auch ein reizvoller, interessanter und unterhaltsamer Zeitgenosse.
Sie blickte rüber zur Tischlerei, hinter der sich die Spitze des bescheidenen, achtzehn Meter hohen Kirchturms befand. Ob sie wohl noch einmal zur Frauenhilfe käme? Vor fünf Tagen hatte sie die Zeit verschlafen, das hieß, Martina hatte sie in ihrer Boshaftigkeit einfach nicht geweckt und Luise fragte sich, ob sie ihr nicht etwas ins Essen gerührt hatte, damit sie fest und lange schlief. In der Woche davor wollte ihr Kreislauf nicht so recht, ihr war so schwindelig gewesen, dass sie sich immer wieder hinlegen musste. In den beiden Wochen davor hatte eine hartnäckige Sommergrippe sie außer Gefecht gesetzt und davor war eine lange Sommerpause gewesen, denn in den Schulferien blieb das Gemeindehaus geschlossen, damit die ehrenamtlichen Küsterdienste auch einmal verschnaufen konnten.
Singenstroths Lieselotte war nun zum zweiten Mal Uroma geworden. Warum schafften ihre Enkel das eigentlich nicht? Larissa war mit achtundzwanzig im besten Alter, André mit dreißig Jahren erst recht dran mit der Familiengründung. Ob sie das wohl noch erleben würde? Aber die zwei ließen sich ja auch gar nicht mehr blicken und würden einen eventuellen Familienzuwachs möglicherweise gar nicht bekannt geben.
Luise musste sauer aufstoßen. Das vermaledeite Sodbrennen quälte sie schon seit vierzig Jahren, dabei hatte sie so gern Kuchen gegessen, vertrug aber höchstens ein Stück, sonst rächte sich ihr Magen mit einer Überproduktion an Säure. Ihre Mutter war viel zu früh an einem chronischen Magenleiden langsam und qualvoll zugrunde gegangen und sie hatte sich geschworen, gut auf sich aufzupassen, damit sie nicht das gleiche Schicksal ereilte.
Was für Torten es wohl heute beim Dorffest gab? Sie hätte so gern mal wieder ein Stück echte Schwarzwälder-Kirsch oder Mokkatorte gegessen und nicht diesen neumodischen Quatsch, den Martina immer buk: Fantaschnitten oder wie heute, Maulwurftorte.
Als heute Morgen die Glocken läuteten, war ihr noch ganz schwummrig gewesen, dabei wäre sie gern einmal wieder zur Kirche gegangen. Früher hatte sie keinen Sonntag ausgelassen, an dem in Häger ein Gottesdienst stattfand, das hatte sie sich nicht nehmen lassen, außer zu der Zeit, als Martina noch klein war. Schon in ihrer Jugend, also seit der Konfirmandenzeit war sie mit der Landwirtstochter Marianne Temming zur Kirche nach Werther geradelt, denn in Häger, das damals noch „Auf der Bleeke“ hieß, gab es zu der Zeit noch keine Predigtstätte. Manchmal waren sie zu dritt gewesen, wenn die Pfarrerstochter Elisabeth Schuchart bei ihr hatte übernachten dürfen. Was war das für eine Freude gewesen, als Häger, das endlich in den Fünfzigerjahren ein richtiges Dorf geworden war, eine eigene Kirche mit Gemeindehaus bekam – und eine eigene Frauenhilfe, deren Vorsitz Luise Anfang der Sechzigerjahre übernahm. Was hatten sie sich an den Mittwoch Nachmittagen während der geschäftigen Vor- und Nachbereitungen in der Kirche alles zu erzählen gehabt und Luise, die aus ihrem gerade neu gebauten Haus immer den perfekten Blick auf die Schröttinghausener Straße gehabt hatte, konnte nahezu lückenlos verfolgen, wer bei Brüning einkaufte, ob die Taschen hinterher prall gefüllt waren oder nur bescheiden das Nötigste enthielten, und wer sich wie lange in der Gaststube aufhielt und wie betrunken wieder heraus wankte.
Heutzutage sah man ja kaum noch jemanden die Straße entlang flanieren, abgesehen von den Flüchtlingen, die man in Brünings ehemaligen Gastwirtschafts- , Hotel- und Lebensmittelbetrieb einquartiert hatte. Ein Jammer, dass das einst so stolze Gebäude so weit herunter gekommen war, dass es eigentlich schon abgerissen werden sollte. In einem Winter waren etliche Leitungen kaputt gefroren, doch dann hatte die Stadt Werther alles aufwändig restauriert, so dass die Räume wieder halbwegs bewohnbar waren. Gut, dass Brünings Edeltraut das nicht mehr erleben musste, dass jetzt Fremde aus Persien oder dem alten Babel in ihren Zimmern hausten. Sicher, nach dem Krieg hatte es auch Flüchtlinge gegeben, aber das war doch etwas Anderes gewesen, das waren schließlich Deutsche und mit den Flüchtlingsströmen war immerhin auch Pastor Hahnemann nach Häger gekommen. Und was für einen Spaß sie mit Ulla gehabt hatte, die gegen Ende des Krieges aus dem Rheinland evakuiert worden war. Sie war auf Niewöhners Hof, also in Luises Elternhaus, untergebracht worden, und obwohl sie vier Jahre jünger war als Luise, hatten die beiden sich umgehend angefreundet. Die tägliche Arbeit auf dem Hof war viel leichter von der Hand gegangen, sie hatten immer etwas zu Lachen gehabt und nach getaner Arbeit hatten sie sich gelegentliche Ausflüge in die Umgebung gegönnt. Mit Ulla wagte sie es auch, an heißen Sommertagen in das nahe gelegene Freibad zu radeln, wenn sie nicht gerade bis zur Dunkelheit mit der Heuernte beschäftigt gewesen waren. Das Freibad war schon seit Jahrzehnten nur noch eine Ruine, vielleicht war es sein Fluch, dass es in dem Jahr eröffnet worden war, in dem die NSDAP die Macht ergriffen hatte. Kaum noch vorstellbar, wie sie als junge Frau, die in ihren stillen Momenten um ihren Verlobten bangte, mit dem rheinischen Backfisch im kühlen Nass geplanscht hatte, wo jetzt die Erlen und Ulmen mit ihrem Wurzelwerk den Boden aufbrachen. Auch Ulla und Jochen – obwohl sie doch jünger gewesen waren – waren nun schon seit zwei Jahren tot. Zu ihrem Neunzigsten waren sie noch da gewesen. Ulla hatte gerade wegen einer Darmkrebserkrankung einen Anus Praeter gelegt bekommen und fürchterlich an Gewicht verloren. Jochen hatte ein Jahr zuvor einen Bypass erhalten und war nach wie vor schrecklich kurzatmig. Ein paar Wochen später war Ulla im Alter von sechsundachtzig Jahren den Folgen ihrer Krebserkrankung erlegen und Jochen hatte diese schwere Zeit so sehr mitgenommen, dass er wenige Tage später einen schweren Herzinfarkt erlitt, den er nicht überlebte. Er hatte es immerhin auf achtundachtzig Jahre gebracht. So war nun einer nach dem anderen von ihren alten Weggefährten gegangen, nur Mariannes kleine Schwester Hildegard war noch übrig und eigentlich auch Elisabeth, aber die konnte man kaum dazu zählen, war sie doch längst beim Übergang in die andere Welt. Es war nicht schön, am Ende übrig zu bleiben, nur noch umgeben von Jüngeren, die sich gestört fühlten und ungeduldig darauf warteten, dass man endlich ging.

... link (1 Kommentar)   ... comment


Freitag, 25. August 2017
Ich hab' den Ausbau nicht gewollt - 1. und 2. Kapitel aus dem gleichnamigen Roman von Cristina Fabry
Prolog – Dezember 2016
Sie wunderte sich nicht, als nach einmaligem Klingeln niemand öffnete. Sicher hatte er wieder nichts gehört und aufgeregt war er bestimmt auch, war ja kein leichter Gang für ihn heute. Glücklicherweise hatte sie ihren eigenen Haustürschlüssel dabei; sie hatte ihn am Ende doch überreden können, ihr einen zu überlassen, falls einmal ein Notfall eintreten sollte. Jetzt beschwerte er sich dauernd, wenn sie einfach aufschloss, weil sie nicht die Geduld und die Nerven hatte, fünfmal zu klingeln, bevor er sich bequemte, endlich zur Haustür zu schlurfen.
Alles war in Ordnung. Die Zeitung und die Post hatte er schon herein geholt, vermutlich hielt er gerade sein Mittagsschläfchen. Sie steuerte direkt auf sein Schlafzimmer zu. Das Zimmer war leer und dem Bett sah man an, dass er es soeben verlassen hatte. Dann war er wohl schon im Bad, aber auch hier rührte sich nichts. Sie zuckte mit den Schultern und öffnete die Wohnzimmertür. Er lag vor dem offenen Kaminofen. Neben sich einen Stapel mit Zeitungen und einen Stapel mit Prospekten. Ein Feuer hatte bei offener Tür im Ofen gebrannt, war aber mittlerweile erloschen. Sie beugte sich zu ihm herab, um ihn anzusprechen. Als sie ihn berührte, merkte sie, dass er sich ganz kalt und starr anfühlte, offensichtlich war er schon vor Stunden gestorben. Etwas von dem Papier, das er zum Anzünden benutzt hatte, war wieder aus dem Ofen herausgefallen. Er hatte es wohl ausgetreten, bevor er gestürzt war, unter seinem Hausschuh war es ganz schwarz und die Asche um das Papier war zerstoben. Auf den übriggebliebenen Fetzen konnte sie eine Frauenhandschrift entziffern. War das etwa ein Liebesbrief? Sie nahm das fast verbrannte Papier in die Hand und entzifferte „lauwarmem Wasser“, „Tageslicht“ und „Heizung auf der Fensterbank“. Ach nein, da ging es wohl eher um die Anleitung zur Anzucht von Gemüse oder Blumen für die Rabatten. Sie warf den Zettel zurück in den Ofen – beim nächsten Beheizen würde er endgültig verbrennen. Sie ging zum Telefon und rief als erstes den Hausarzt an. Danach das Bestattungsunternehmen.
ERSTER TEIL
Häger Zentrum – Sonntag, 11. September 2016
Pünktlich um 09.50 Uhr rief die Glocke zum Gebet, sehr zum Ärgernis der benachbarten Jugendlichen, sowie der Gruppe gereifter Mittelalter, die aber nach eigener Einschätzung noch voll im Saft standen. Sie hatten Freitag und Samstag im Festzelt die Nacht zum Tag gemacht; freitags mit hipper Bravo-Hits-Disco bei Bier, Cola und Alkopops, samstags mit dem Besten aus den sechziger, siebziger, achtziger und neunziger Jahren und gelegentlichen Hits von heute. Das Alkoholsortiment war mit Cocktail- und Sektbar erheblich umfangreicher, die Anzahl der Schnapsleichen von vergleichbarer Anzahl. Wenigstens war ihnen ein nächtlicher Naziüberfall erspart geblieben; der letzte lag etwa zehn Jahre zurück, denn zum Glück war die Clique der Ewiggestrigen beziehungsweise frustriert Gewaltbereiten mit extrem begrenztem Horizont, die im Nachbardorf Schröttinghausen ihr Hauptquartier bezogen hatten, mittlerweile zu Verstand gekommen oder weggezogen oder eingeschüchtert oder hatten einfach die Lust an der Randale verloren, weil sie in die Jahre gekommen waren. Glücklicherweise hatten sie keinen Nachwuchs herangezogen.
Jetzt waren die Kirchenbänke locker gefüllt – Weihnachten war es dreimal so voll – um das traditionelle Dorfgemeinschaftsfest, das beim letzten Mal einem sichtlich gescheiterten Reformationsversuch zum Opfer gefallen war, mit einem Gottesdienst zu eröffnen. Anschließend boten Hühnersuppe und Grillwurst eine adäquate Grundlage für den Frühschoppen. Im Festzelt traten der Posaunenchor, die Feuerwehrkapelle sowie ein eigens für das Dorfgemeinschaftsfest und das in Kürze folgende Gemeindefest gegründeter Projektchor auf, um die Anwesenden mit einem abwechslungsreichen Bühnenprogramm bei Laune zu halten. Einige Bewohner des Übergangswohnheims für Geflüchtete, die man überredet hatte, den Festgottesdienst zu besuchen, saßen nun pflichtschuldig vor einem Teller Hühnersuppe und ertrugen höflich lächelnd die gut gemeinten musikalischen Darbietungen. Wenigstens die Kinder hatten Spaß daran, um das Zelt herum Verstecken zu spielen oder sich auf der bereit gestellten Hüpfburg zu vergnügen.
Um 14.00 Uhr lebte eine weitere lieb gewonnene Tradition wieder auf: Der Festumzug. Dort präsentierten sich Vereine und Initiativen mit phantasievoll dekorierten Wagen, die von Traktoren gezogen alle dicht besiedelten Straßen diesseits und jenseits der Landstraße entlang rollten und von deren Plattformen wie im Kölner Karneval Bonbons in die Menge geworfen und begeistert von den Kindern aufgesammelt wurden.
Da gab es zum Beispiel den Heimatverein mit einem Wagen, der geschmückt war wie eine von Landfrauen gefertigte Erntekrone: Bögen aus geflochtenem Stroh, mit Hasel- und Weidengerten verstärkt – und eingearbeitet in dieses Gesamtkunstwerk waren Sonnenblumen, Dahlien, Astern und Efeu. Führende Vereinsmitglieder nahmen huldvoll die Ehrbekundungen des Fußvolks entgegen wie Protokoll-geübte Angehörige des britischen Königshauses.
Die Landjugend hatte in der ihr eigenen, derb-humoristischen Kreativität Zweige wie sprießende Bäume an ihren Wagen gebunden, die sogar Früchte trugen, allerdings in Form winziger Schnapsfläschchen, deren beeindruckende Vielfalt ein schillernd buntes Bild abgab.
Die Feuerwehr hatte ihr Vehikel ganz in rotes Krepppapier eingekleidet, eine alte Holzleiter mit flatternden Bändern geschmückt und ein mobiles Blaulicht auf der Zugmaschine befestigt, einem winzigen, feuerroten Traktor aus den fünfziger Jahren. Den hatte der Trecker-Verein zur Verfügung gestellt und sich selbst mit einem noch älteren Modell in leuchtendem Blau, auf Hochglanz poliert eingereiht. Der Wagen selbst war mit einfachen Girlanden geschmückt, um der eigentlichen Attraktion nicht die Schau zu stehlen.
Sogar die örtliche Möbelmanufaktur war diesmal dabei und kutschierte eine gemütliche Sitzgruppe durchs Dorf wie ein Wohnzimmer auf Rädern. Sie warfen auch die edelste Bonbon-Mischung in die Menge, was die Kinder hingegen kaum zu würdigen wussten.
Die kleine, örtliche Künstlerkolonie hatte ein Maskottchen entwickelt, das sie in Übergröße und aus Pappmaschee durch den Ort zogen: Das Häger-Schweinchen. Dieses Schweinchen bezog sich auf den Slogan „Häger hat Schwein gehabt“, den sich die Dorfladen-Initiative auf die Fahne geschrieben hatte. Die engagierten Mitglieder des erst kürzlich gegründeten Vereins, der für eine fußläufig erreichbare Einkaufsmöglichkeit mit angeschlossenem Café-Betrieb gesorgt hatte, war vom ehrenamtlich aktiven Grafiker mit einem tollen, großflächigen Plakat versorgt worden, das nun in einem stabilen Holzrahmen auf dem bunt geschmückten Hänger die Straßen entlang glitt wie ein Segel auf glitzerndem Gewässer.
Der örtliche Fußballverein hatte seinen Wagen mit ausrangiertem Kunstrasen eingekleidet und die Flüchtlingsinitiative zog einen Bollerwagen mit einer riesigen Traube bunter Ballons durchs Dorf. Den Vogel aber hatte die Initiative der Windkraftgegner abgeschossen: Ein etwa 1,50 Meter hohes, funktionstüchtiges Windrad wurde ebenfalls auf einem Bollerwagen durch den Ort gezogen und bewies sogleich sein zerstörerisches Potential: Husemanns Hecke erhielt einen außerplanmäßigen Formschnitt, der für den rasenkantenreinen Vorzeigegartenbesitzer schlimmer war als Gänseblümchen im Verbundpflaster, so dass er es nicht mit einem Achselzucken abtun oder gar mit einem Augenzwinkern als Extrabonbon der Gartenbau-Avantgarde verkaufen konnte.
Das Schlusslicht bildete die Initiative „Unser Dorf hat Zukunft“ oder, wie sie sich selbst im Telegrammstil nannten die „Dorf-Ini“. Hier mischten all jene mit, die in den Vereinen mit ihren spezifischen Ausrichtungen nicht so recht Fuß fassen konnten, aber dennoch große Lust hatten, sich für ihr Dorf einzusetzen. Von den traditionellen, alteingesessenen Dorfbewohnern wurde die Gruppe allgemein belächelt, insbesondere ihr Wagen, der auf einen kleinen PKW-Anhänger montiert von einem Mittelklassewagen gezogen wurde. Ein Potpourri aus Blumenarrangements, selbst gemalten, abstrakten Bildern wie auf Leinwand gebannte Vollrausch-Visionen, Häkelblumen, einem bestrickten Wagenrad und einem bunten Vogelhäuschen, in dem einige Bücher steckten – eine Anspielung auf das Bücherhaus, in dem jeder unbürokratisch Bücher bringen oder mitnehmen durfte.
Es fehlte der CVJM, dessen Mitgliederzahl überschaubar war und dessen Ehrenamtliche lieber anderweitig beim Fest mitmischten, als den Verein zu repräsentieren, sowie die Landfrauen, die bereits hinter dem Kuchenbuffet schwitzten. Fabelhafte Meisterwerke ländlicher Konditorinnenkunst, unter denen sich die Bierzelt-Tischplatten bogen, warteten auf die gierigen Mäuler, die sie zu verschlingen gedachten. Der Umzug war noch nicht zu Ende, da standen bereits die ersten ungeduldigen Rentner mit gezückten Portemonnaies vor der Kuchenausgabe, wild entschlossen, sich nichts von den gelungensten Kreationen entgehen zu lassen: Friesentorte, Schwarzwälder Kirsch, Maracuja-Traum, Fanta-Torte, Kiwi-Banane, Frankfurter Kranz und so weiter und so fort.
„Oh, die Ruhe vor dem Sturm ist wohl vorbei.“, bemerkte Sigrid schmunzelnd.
„Das ist erst das Wetterleuchten.“, erwiderte Christiane. „In zehn Jahren steht Hildegard auch da, klappert mit dem Gebiss und rasselt mit dem Rollator. Eigentlich unfassbar, dass sie mit 86 immer noch auf dieser Seite der Theke steht.“
Hildegard war Sigrids Großmutter und setzte nun ihrerseits mit ihrer 68-jährigen Tochter Renate zur Nachlese des Gottesdienstes an.
„Was hat der Wellmann eigentlich heute Morgen auf der Kanzel für’n Tinnef erzählt? Dabei war das so ein schlichter Predigttext: Respekt vor dem Alter und sich gegenseitig mit Achtung begegnen und sich vor allem Gott unterordnen. Alle eure Sorge werft auf ihn, denn er sorgt für euch.“
„Dass du das noch so weißt. Ich glaube, ich habe gar nicht zugehört.“, sagte Renate.
„Ich lese vor dem Gottesdienst immer die Losungen und mache mir zum Predigttext schon mal meine eigenen Gedanken. 1. Petrus 5,5c-11 war das. War alles sonnenklar, aber der Wellmann, der da was vom Internet und Fernsehserien erzählte und denn noch vonne Moslems. Ich bin da gar nicht mehr durchgefunden.“, beklagte sich Hildegard.
„Ja ja.“, seufzte Renate. „Wenn das mit diesen Laienpredigern so weitergeht und die Pastöre dauernd Urlaub machen, braucht man bald nicht mehr hingehen.“
„Die Pastorin predigt aber auch so komisches Zeugs“, erklärte die Mutter. „Pastor Hahnemann, den hat man wenigstens noch verstanden.“
„Ach, Mama, vielleicht sind wir einfach schon zu alt, zumal du heute ja schon als Oma durchgehst, wenn der Hintern nicht mehr knackt, der Busen nicht mehr wippt und du nicht den ganzen Tag auf deinem neumodischen Handy rumwischt.“
„Ja, so sindse.“, erwiderte Hildegard. „Und immer mit Stöpsel inne Ohren. Die hören ja nichts mehr, wenn die sich den ganzen Tag dieses Presslufthammergetöse aufs Trommelfell pflanzen. Ich möcht‘ nicht wissen, wo das mal alles endet.“
Als der Umzug zu Ende war und damit das allgemeine Kaffeetrinken offiziell eröffnet wurde, war die Hälfte des Kuchenbuffets bereits vom aggressiven Rollator-Geschwader abgeräumt.
„Man könnte direkt gerontophob werden.“, zischte Sigrid, „wenn man nicht wüsste, dass man höchstwahrscheinlich mal genauso wird.“
„So nicht.“, widersprach Christiane. „Das sind die, die als Kinder immer den anderen die Ellenbogen in die Rippen gerammt haben, um als erste vorne zu stehen, die sich als Jugendliche gegenseitig die Liebsten ausgespannt haben, sich beim Spanien-Urlaub in den Siebzigern über die Scheiß Gastarbeiter aufgeregt haben, die nicht einmal Schnitzel braten und anständiges Bier zapfen können, die sich in der Schule über den Englischlehrer beschwert haben, weil ihre Kinder bei dem angeblich nicht genug lernen und so einen Wettbewerbsnachteil haben, die sich bei Silberhochzeiten als erste die Schüssel mit den Kroketten gekrallt und halb leer geräumt haben, obwohl sie für acht Leute reichen musste und die einem, als die noch’n Einkaufswagen schieben konnten, den an der Kasse immer in die Hacken gerammt haben. Das waren schon immer Kotzkannen, nur im Alter können sie es nicht mehr überspielen. Glaub mir, wir werden nicht so. Deine Mutter und deine Oma sind ja auch anders.“
„Dann sieh dir Sickendieks Luise an. Bis vor zwei Jahren war die noch ganz große Dame, immer ’n flotten Spruch auf der Lippe, aber auch für jeden was Nettes und Aufmunterndes. Und jetzt, wo sie nicht mehr kann, bleibt sie eben zu Hause oder schiebt ihren Rollator das kurze Stück bis zum Gemeindehaus. Aber so eine würdelose Nummer wie diese Aasgeier würde sie sich nie erlauben.
„Ja, da hast du Recht. Und Luise ist immerhin auch schon zwei-und-neunzig. Ihren Neunzigsten hat sie noch im großen Stil im Gasthof gefeiert. Beim Sektempfang stand sie wie ‘ne Eins und hat Hände geschüttelt wie die Königin von England.“

Ein gutaussehender, rothaariger Mittvierziger mit Millionen von Sommersprossen im Gesicht trat an die Torten dealenden Landfrauen heran.
„Gibt's noch Himbeer-Papagallo-Massakerpone oder ist die schon ausverkauft?“
„Hallo Volker.“, begrüßte Christiane den örtlichen Malermeister. „Sahne- und Cremetörtchen sind schon in den faltigen Mägen mit noch funktionierenden Bauchspeicheldrüsen gelandet. Diabetiker-Zitronenrolle ist auch schon aus. Es gibt noch Obsttorten und trockenen Kuchen.“
„Auch keine Sahne mehr aus'm Siphon?“
„Doch, die haben wir noch.“
„Na dann immer her damit. So wie das hier läuft, könntet ihr eure Torten auch Mittwochs nachmittags im Dorfladen anbieten, die wären bestimmt auch immer ratzeputz alle.“
„Ja, aber wer hat schon Zeit, jede Woche 'ne Torte zu zaubern, außer die Rentner von der Dorf-Ini und die sind da, glaube ich, alle zu faul für.“
„Stimmt, die labern nur. Beim Laden machen die ja auch nicht richtig mit. Erwarten noch, dass man vor Dankbarkeit auf die Knie fällt, wenn sie Samstags mal drei Brötchen kaufen.“
„Aber sie haben viele neue Ideen.“, mischte Sigrid sich ein. „Klar, wenn sich welche 'Unser Dorf hat Zukunft' nennen, denkt man vielleicht, dass die was tun, um die örtlichen Unternehmen zu stützen, wieder 'ne Post- und 'ne Sparkassenfiliale ins Dorf zu holen, das Vereinsleben zu fördern, vielleicht auch mal 'ne Theateraufführung oder ein Konzert veransstalten und nicht nur mit Geranien bepflanzte Riesenkübel auf den Verkehrsinseln aufstellen. Aber das Bücherhaus war doch 'ne super Nummer.“
„Ich lese nicht.“, antwortete Volker knapp, bedankte sich für den Kuchen und nahm auf einem freien Stuhl Platz.
Das Bücherhaus, von dem sie gesprochen hatten, war eine Luxusversion der allseits bekannten Bücherkisten, in denen man ausgelesene Bücher spenden, und solche, die man dort findet, einfach mitnehmen kann. Diese Variante hingegen war begehbar, etwa sechs Quadratmeter groß – ein Ziegelbau aus alten Steinen mit Spitzdach und ebenso alten Dachziegeln. In der Giebelwand gegenüber der Tür war ein entzückendes Bleiglasfenster eingemauert. An den Wänden rechts und links waren die Regale gefüllt mit historischen Beständen aus den Bertelsmann-Clubs der Sechziger und Siebziger Jahre, etlichen ausgelesenen Taschenbüchern, aber auch skurrilen Einzelstücken und echten Schätzchen. In der unmittelbaren Nachbarschaft regte sich jedoch Ärger, weil regelmäßig ein Fahrzeug mit Osnabrücker Kennzeichen hier vorfuhr und kistenweise Bücher abtransportierte, um sie offensichtlich dem eigenen, kommerziellen Antiquariat zuzuführen. Einige Jugendliche vom CVJM, die dies auch schon mit großem Missbehagen beobachtet hatten, schmiedeten bereits Pläne, wie sie dem räuberischen Pärchen in die Suppe spucken konnten.
„Vorsicht!“, zischte Christiane plötzlich. „Meerschweinchenalarm auf zehn vor zwölf!“
Sigird blickte in die angegebene Richtung und brach augenblicklich in wildes Gekicher aus. „Wo war die denn beim Friseur?“
„Ich schätze auf You-tube-Hair-Colorations-Tutorial. Strähnchen nach Landfrauenart. Herzallerliebst.“
„Das Beste ist“, kicherte Sigrid, die sich noch immer nicht beruhigt hatte, „die Frisur rundet das Bild perfekt ab, denn im Gesicht sah Martina schon immer aus wie'n Meerschweinchen.“
„Das kann man so nicht sagen.“, widersprach Christiane. „Vor ihrer Zahnspange hatte sie eher was von 'nem Shetland-Pony.“
„Oh, Martina, kommst du auch noch?“, krähte eine hoch gewachsene Landwirtsgattin mit ausladendem Becken, überdimensinierter Oberweite und männlich-kantigen Geischtszügen; ein wandelnder Antagonismus.
„Ich konnte unsere Mutter nicht eher allein lassen.“, rechtfertigte sich die Angesprochene. „Die ist heute wieder ganz durcheinander, das wird von Tag zu Tag schlimmer. Wenn die Alten dement werden, muss man doller auf die aufpassen wie auf kleine Kinder.“
„Hätte Manni das nicht mal übernehmen können?“
„Nee, Manni musste ja im Zug mitmarschieren. Bei der Feuerwehr waren doch auch welche ausgefallen. Außerdem wird der da sowieso nicht mit fertig. Ist ja auch meine Mutter, aber auch wenn es seine wäre, könnte der das, glaube ich, nicht. Wie gut, dass seine Eltern schon tot sind.“
Die Bauersfrau schluckte heftig und war zu schockiert, um etwas zu erwidern.
„Hast du denn wenigstens noch 'ne schöne Torte mitgebracht?“
„Maulwurfskuchen.“ antwortete Martina.
„Meerschweinchentorte“, stieß Sigrid hervor und brach unter dem eigenen Gekicher fast zusammen.
„Oh, Sigrid.“, wandte Martina sich um, „heute mal ausnahmsweise manisch statt depressiv?“ Dabei grinste sie mit zur Schau gestellter Überlegenheit.
„Ich bezweifle, dass du überhaupt beurteilen kannst, wer oder was manisch-depressiv ist.“, schleuderte Christiane ihr entgegen. „So'n bisschen Küchenpsychologie aus der Tina reicht da wohl kaum aus. Komm, Sigrid, ich denke, unsere Hochleistungsmartina kann uns hinter der Theke würdig vertreten. Der schlimmste Ansturm ist ja jetzt vorbei, da können wir auch mal Kaffee trinken gehen.“
Sie fanden schließlich zwei freie Stühle mit ungehindertem Blick auf die Gruppe der Initiative „Unser Dorf hat Zukunft“, die sich zu Kaffee und Kuchen gemeinsam eingefunden hatte und gerade die Bürgermeisterin mit neuen, bahnbrechenden, innovativen Ideen bestürmten.
„Da ist Martina aber sicher traurig“, überlegte Sigrid, „dass sie bei diesem wichtigen Termin nicht dabei sein kann und stattdessen zum Kaffee- und Kuchenschubsen verdammt ist.“
„Gut für die Dorf-Ini.“, erwiderte Christiane. „Sie würde das Bildungsniveau direkt um 20 Prozent senken.“
„Ja, aber was nützt die beste Bildung, wenn Intelligenz und Charakter so hinterher hinken?“, entgegnete Sigrid. „Guck dir nur mal das Duckface von Irmtraut an. Eine Verzweifelte, die versucht mit Brachialgewalt im letzten Drittel alles aus ihrem Leben rauszuholen, was sie in den ersten beiden Dritteln verpasst hat. In zwanzig Jahren schiebt die auch um viertel nach zwei mit dem Rollator an die Kuchentheke und fordert vier Stückchen Sahnetorte, aber sofort.“
„Ja, genau.“, kicherte Christiane. „Himbeer-Papagallo-Massakerpone mit doppelt Käse.“
„Volker hat schon Recht.“, meinte Sigrid. „Nur Labertaschen, diese Initiative.“
„Ach komm, Grankemeiers machen doch auch mit und die sind jawohl das genaue Gegenteil von Labertaschen, die packen überall mit an.“, erklärte Christiane.
„Ja, Grankemeiers sind ja nun auch überall dabei.“
„Aber sie sind nicht in der Frauenhilfe. Außerdem kann ich es den beiden nicht verübeln. Die haben noch echt Pfeffer im Hintern und in Häger passiert ja nichts, da muss man sich eben beschäftigen.“
„Ja, das stimmt.“, gab Sigrid Christiane Recht. „Hier passiert nichts. Hoffen wir, dass es auch so bleibt.“

... link (0 Kommentare)   ... comment


Samstag, 19. August 2017
Abraham ist schuld – vierteiliger Kurzkrimi – Teil IV
Ein Jahr nachdem Hagar von ihrem Sohn getrennt worden war, bat sie Abraham, zu Ismael reisen zu dürfen, denn sie könne nicht von Isaak erwarten, dass er im Alter zwei Mütter versorge. Abraham ließ sie gewähren, gab ihr reichlich gefüllte Wasserschläuche, Trockenfleisch, ungesäuertes Brot und getrocknete Datteln mit und bat sie, Ismael seine wärmsten Grüße zu überbringen. Als Hagar nach mehreren Wochen den neuen Wohnsitz ihres Sohnes erreichte, hatte der dort bereits eine prachtvolle Oase aufgebaut, in der es sich trefflich leben ließ. Wenig später heiratete er und in den langen Nächten unter dem Sternenhimmel der arabischen Wüste erzählte er seine Geschichte und schloss mit den Worten: „...und dann hat mein Vater mich mit der ganzen Herde hier her gebracht und hier habe ich schließlich mein Glück gemacht.“
Als Ismaels Söhne und Töchter heranwuchsen, erzählte ihre Mutter ihnen: „Großvater Ibrahim hat seinen Sohn Ismail in die Wüste geschickt, weil der Bastard Isaak ihn sonst umgebracht hätte. Nur ein paar Tiere durfte er mitnehmen. Aber euer Vater ist klug, stark und mutig und hat eine Menge aus seinem Leben gemacht. Der Isaak, das verwöhnte Nesthäkchen, hat ihm seinen Platz gestohlen, aber er wohnt heute noch in einem Zelt und züchtet Schafe und Ziegen. Nie hat er sich für irgendetwas angestrengt.“ Nejabot, Kedar und Adbeel gehörten begeistert zu, aber die Tochter Mahalat hegte Zweifel an der Darstellung ihrer Mutter, von der sie sich stets wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt fühlte.

Auch Isaak fand seine Frau, Rebekka war ihr Name und der erzählte er: „Mein Halbbruder hat das ganze Vieh bekommen, ich musste ganz von vorn anfangen. Aber das Land, das, was wirklich zählt, das bewohnen wir und wir haben eine blühende Zukunft vor uns.“
Ihren Söhnen Jakob und Esau erzählte Rebekka: „Großvater Abraham hat Ismael, den Bastard, in die Wüste geschickt, aber er musste ihn abfinden. Ismael hat euren Vater immer gequält, darum musste er verschwinden. Seine Nachkommen sind unsere Feinde. Tut euch nicht mit denen zusammen. Jakob, der Jüngere, hing an den Lippen seiner Mutter. Esau, der Ältere ging bald seiner Wege, hatte nichts übrig für das Weibergewäsch und ging lieber jagen. Rebekkas und Isaaks Söhne entzweiten sich, aber sie vertrugen sich schließlich wieder. Und Esau heiratete Mahalat, die Tochter seines Halbonkels Ismael.

Ismaels Kinder erzählten seinen Enkeln: „Euer Großvater sollte geopfert werden. Das hatte Elohim so befohlen, aber er hat es sich anders überlegt und stattdessen ein Tier geopfert und dann ist er mit Ismael gen Osten gezogen und hat den heiligen Tempel wieder aufgebaut. Von Sarah und Isaak spricht heute niemand mehr.“

Isaaks Sohn Jakob erzählte seinen Enkeln: „Euer Urgroßvater sollte Isaak verbrennen, seinen einzigen wahren Sohn, denn den anderen, den Ismael, der nur das Kind einer Zofe war, den hatte er schon mitsamt seiner ägyptischen Mutter in die Wüste geschickt.“

So wurden Geschichte weitererzählt und schließlich aufgeschrieben und abgeschrieben und übersetzt. So vieles ging verloren, so vieles wurde dazu erfunden und zweitausend Jahre später streiten die vermeintlichen Erben um die Wahrheit, dabei weiß man nichts und wird auch nie wissen, nicht einmal, ob es wirklich wahr ist, dass Ismael nach Hebron reiste, als Abraham gestorben war, um ihn gemeinsam mit seinem Halbbruder Isaak an Sarahs Seite zu bestatten.

Kerime sah nichts als weiß. War sie auf dem Weg ins Paradies? Was würde sie dort erwarten? Worauf die Männer spekulierten, war ja hinlänglich bekannt, aber auf was durften die Frauen hoffen? Kerime sehnte sich nach Ruhe, Frieden, Licht, Wärme, Wohlgerüchen und warmen Farben. Gerade jetzt war es zwar ruhig und friedlich, aber ihr war kalt, es roch seltsam und unangenehm und es gab keine Farben, nur weiß. Sie spürte nach, ob sie noch einen Körper hatte. Doch da waren ihre Hände, sie konnte sie bewegen, auch die Füße. Sie spürte ihre Beine, ihre Hüften, den Rücken nur den Bauch konnte sie nicht so richtig fühlen. Oder doch? Sie wusste es nicht. Ob sie sich bewegen konnte? Sie ballte die Hände zu Fäusten. Sie wackelte mit den Zehen. Dann drehte sie den Kopf zur Seite. Was für ein Gestell war das denn? In ihrem Kopf arbeitete es, sie versuchte eine Verbindung herzustellen zwischen dem, was sie sah und dem, was sie bereits kannte. Ihr dämmerte allmählich, wo sie sich befand. Sie fuhr nicht auf ins Paradies, sie lag im Krankenhaus. Wie war sie hier hingekommen? Was war geschehen? Das letzte, an das sie sich erinnern konnte, war die Platte mit Dolma, die sie aufs Buffet gestellt hatte. Welches Buffet eigentlich? Ach ja richtig, Torgays Klassenfest. Sie erschrak. Tuncay, was war mit Tuncay? Sie versuchte, sich aufzurichten, aber ihre Bauchmuskeln gehorchten ihr nicht und da waren überall Schläuche. Sie sah wieder Jörn vor sich. Jörn mit dem Messer, der auf Tuncay losging. Sie musste wissen, was passiert war, doch schon verließen sie die Kräfte und sie sank zurück in die Dunkelheit.
Fünf Stunden später saßen Daniel und Tuncay gemeinsam an Kerimes Krankenbett und warteten ungeduldig darauf, dass sie erwachte. Sie hatte die Messerattacke nicht nur überlebt, sie war auch außer Gefahr, obschon die Klinge einige Organe verletzt hatte, aber die Operateure hatten die Blutung stillen können und die Wunden verschlossen. Tuncay wollte ihr dringend sagen, wie sehr er sie liebte, nicht nur, weil sie ihm das Leben gerettet hatte. Daniel brannte darauf, ihr mitzuteilen, dass Jörn bereits in Untersuchungshaft saß und dass die Chancen gut standen, dass der Staatsanwalt eine sehr lange Haftstrafe beantragen würde. So viele Zeugen hatten beobachtet, was geschehen war, er käme sicher nicht mit einem blauen Auge davon.
Tuncay hielt Kerimes Hand. Er fühlte sich schuldig. Hätte er sich nicht provozieren lassen, läge sie jetzt nicht hier. Wie hatte er es nur so weit kommen lassen können? Er wollte seine schöne Frau zurück haben, heil und gesund. Er weinte. „Und das alles wegen Ibrahim.“, schluchzte er.
„Ja.“, pflichtete Daniel ihm betroffen bei. „Abraham ist schuld.“
ENDE

... link (19 Kommentare)   ... comment


Freitag, 11. August 2017
Abraham ist schuld – vierteiliger Kurzkrimi – Teil III
Am nächsten Morgen erschien Vahid zum Frühstück in einem leuchtend weißen Kleid. Er sprach kaum mit Abraham, doch kurz bevor er und seine Mitreisenden aufbrachen und sich für die Gastfreundschaft bedankten, wandte er sich an den Patriarchen: „Noch ehe ein Jahr vergangen ist, wird deine Frau Sarah dein Kind zur Welt bringen und deine Nachkommen werden so zahlreich sein wie die Sandkörner in der Wüste.“
Abraham war zutiefst beeindruckt von den gewichtigen Worten des Fremden, später einmal würde er behaupten, der Mann sei ein Bote Elohims gewesen, einer seiner Engel. Sarah konnte ein lautes Prusten nicht verhindern, doch Abraham schöpfte keinen Verdacht. Er meinte, Sarah lache, weil sie die Prophezeiung für unglaublich hielt, weil sie sich bereits im fortgeschrittenen Alter befand. Abraham nahm die Ankündigung als Aufforderung, dem Glück auf die Sprünge zu helfen und teilte in den 28 folgenden Nächten das Bett ausschließlich mit Sarah. Sie war erleichtert, als er endlich wieder von ihr abließ, doch als sie deutliche Anzeichen einer Schwangerschaft an sich spürte, war sie heilfroh, dass sie sich ihrem Ehemann hingegeben hatte.
Neun Monate später brachte Sarah einen Sohn zur Welt und nannte ihn Isaak, das bedeutet Lachen. Sie behauptete, den Namen habe sie ausgewählt, weil sie bei der Prophezeiung so ungläubig gelacht habe. In Wirklichkeit hatte sie jedoch das Gefühl, beim Anblick ihres Sohnes ständig darüber lachen zu müssen, dass sie Abraham mit demselben Mann ein Kuckucksei ins Nest gelegt hatte wie Hagar.
Der zwölfjährige Ismael dagegen war alles andere als amüsiert über die Ankunft eines Brüderchens, verlor er doch seinen Einzelkindstatus von heute auf morgen. Als Isaak begann, herumzukrabbeln und erste unartikulierte Laute von sich zu geben, ging Ismael dazu über, den Bruder heimlich zu hänseln und zu quälen. Doch Isaak wuchs heran und mit zunehmendem Alter wuchs auch seine Fähigkeit, sich gegen den Größeren zu wehren. Schon bald standen sich die beiden Brüder in Durchtriebenheit und Skrupellosigkeit in nichts nach und Abraham war ihrem ewigen Zwist nicht mehr gewachsen, ganz zu schweigen von den Müttern. Abraham beschloss, durch ein Gottesurteil entscheiden zu lassen, wer sein rechtmäßiger Sohn sein solle. Der Verlierer sollte geopfert werden, so hatte Elohim es ihm im Traum vorgeschlagen. Als er seinen Frauen diesen Plan offenbarte, waren beide gleichermaßen entsetzt.
„Bist du Wahnsinnig, Mann?“, fragte Hagar aufgebracht. „Weißt du eigentlich, wie viel Mühe es macht, einem Kind das Leben zu schenken? Und du willst einfach so leichtfertig einen deiner Söhne ins Feuer werfen, nur weil du ihnen nicht beibringen kannst, sich zu vertragen? Was für ein Vater bist du eigentlich?“
„Es war Elohim, der meinen Söhnen das Leben schenkte. Ihr Frauen wart nur das Gefäß.“
erwiderte Abraham würdevoll.
„So einen Unsinn kann auch nur ein Mann erzählen!“, schimpfte Hagar.
„Und wer sagt dir eigentlich, ob das wirklich Elohim war, der da im Traum zu dir gesprochen hat?“, fragte Sarah. „Vielleicht war es ja auch die Einflüsterung eines Dämons. Schließlich hat Elohim uns diese Söhne geschenkt. Warum sollte er sie uns nehmen?“
„Das weiß nur Elohim.“, erwiderte Abraham und verließ das Zelt.
Die Mütter waren verzweifelt. Stundenlang saßen sie zusammen und arbeiteten an einer Strategie, wie sie das Leben beider Jungen retten könnten. Schließlich kamen sie zu einem Ergebnis, das sie Abraham unterbreiteten. Sarah ergriff das Wort: „Mein lieber Mann. Es ist gut möglich, dass Elohim zu dir gesprochen hat, aber es ist auch möglich, dass du den Ewigen nicht richtig verstanden hast. Vielleicht hat er dich auf die Probe gestellt, um zu prüfen, ob du weise genug bist, um dich als Vater vieler Völker als würdig zu erweisen. Wer aber Vater zweier Söhne ist und einen schlachten muss, weil er anders nicht ihren Streit schlichten kann, der ist nicht weise, sondern ein Idiot, dessen Linie zu Ende geht, noch bevor sie sich verzweigen kann. Du weißt, dass Elohim oft in unverständlichen Bildern und Rätseln spricht. Einen Sohn opfern, heißt nicht, ihn verbrennen, sondern ihn fortschicken. Gib einem die Herde und schicke ihn zu deinem Neffen Lot, den anderen behalte und züchte mit ihm eine neue Herde. Er soll dein Land erben. Wenn die Entscheidung gefallen ist, opfert ihr gemeinsam einen Bock. Das Blut ist für Elohim, der Rest für ein Festmahl mit deiner Sippe und für Almosen für die Besitzlosen.“
Wie Sarah es vorgeschlagen hatte, geschah es. Das Los für die Herde fiel auf Ismael. Abraham zog mit seinem Erstgeborenen nach Osten. In den Nächten am Feuer erklärte Abraham seinem Sohn: „Ich hätte dich lieber bei mir behalten und dir die Herde dazu überlassen, denn du bist mein Erstgeborener. Aber ich kann Isaak nicht leer ausgehen lassen, nicht nachdem seine Mutter so lange auf ihn gewartet hat. Der Besitz der Herde macht dich zu meinem einzig wahren Erben. Du wirst mein Blut in die Welt tragen und die Prophezeiung erfüllen. Und weil du mein wahrer Sohn bist, Ismail, will ich für dich nicht mehr Abraham heißen, sondern Ibrahim.“
Bald erreichten sie einen besonderen Ort in der Wüste. „Mein lieber Sohn“, erklärte Abraham oder Ibrahim, „hier war ich schon einmal vor sehr langer Zeit, als junger Mann, als ich gerade aus meiner alten Heimat aufgebrochen war. Hier betete vor vielen Generationen Adam um die gleiche Säule des Lichts, an der er Elohim verehrt hatte, bevor der ihn aus dem Paradies vertrieben hatte. Die Säule des Lichts erschien und Adam betete zu Elohim, indem er sie umschritt. Doch bald verschwand die Säule und an ihrer Stelle lag dort ein schwarzer Stein. Ein Prophet errichtete an dieser Stelle einen viereckigen Tempel und baute den schwarzen Stein in eine der Ecken ein. Dann schickte Elohim die große Flut und der Tempel liegt seither unter Sand begraben. Wir beide, mein Sohn, werden nun den Sand beiseite wischen und auf den Grundmauern des alten Tempels einen neuen errichten.“
Sie bauten ein Quaderförmiges Gebäude aus schwarzen Steinen und als es fertig war, betete Ibrahim darum, dass dies für immer ein sicherer Ort sein sollte.
Danach verabschiedete er sich von seinem Erstgeborenen und kehrte nach Haran zurück.
Als Abraham nach Haran zurückkehrte, bat er die Frauen, ein besonderes Abendessen zu bereiten und ihn mit Isaak allein essen zu lassen. Als sie das Mahl beendet hatten, richtete er das Wort an seinen Zweitgeborenen: „Mein Sohn“, sagte er, „mein einzig wahrer, denn den anderen hat Elohim fortgeschickt. Er hatte natürlich Anspruch auf eine Abfindung, darum musste ich ihm die Herde überlassen. Aber gräm dich nicht. Die besten Muttertiere und den kräftigsten Bock habe ich dabehalten, außerdem ein junges Ziegenpaar und schon bald haben wir wieder eine Menge prachtvoller Tiere, die du eines Tages erben wirst. Doch dir wird auch dieses Land gehören und Land ist das Einzige, was zählt, das Einzige, was bleibt. Das Land bringt die Nahrung hervor, die Mensch und Tier gedeihen lässt, ist die Heimat, der sichere Boden, auf dem wir unsere Zelte errichten und unsere Nachkommen werden hier vielleicht sogar eines Tages Häuser bauen, Tempel, Burgen und Paläste.
ENDE TEIL III – FORTSETZUNG FOLGT

... link (12 Kommentare)   ... comment